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Cover Lettre International 92, Barbara Breitenfellner
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LI 92, Frühjahr 2011

Knochenspuren

Ein argentinisches Team von Forensikern leistet Erinnerungsarbeit

Der Raum ist nicht groß. Kaum vier mal vier Meter, dazu ein Fenster, durch das dichtes Himmelslicht einfällt. Eine hohe Zimmerdecke. Weiße, nicht allzu saubere Wände. Das Zimmer – eine alte Wohnung mitten in Once, einem Arbeiter- und Geschäftsviertel von Buenos Aires – ist unauffällig: Keiner kommt aus Versehen hierher. Der Holzfußboden ist mit Zeitungen bedeckt, und darauf liegen ein gestreifter – zerrissener – Pullover, ein Schuh, gewunden wie eine schwarze – erstarrte – Zunge, Socken. Alles übrige sind Knochen.

Schienbeine und Schenkelknochen, Wirbel und Schädel, Becken, Kinnladen, Zähne, zerstückelte Rippen. Es ist vier Uhr nachmittags an einem Donnerstag im November. Patricia Bernardi steht an der Tür. Sie hat große Augen, kurzes Haar. Sie nimmt einen schlanken Schenkelknochen und legt ihn an ihren Oberschenkel.

„Frauenknochen sind zierlich.“
Und es stimmt: Frauenknochen sind zierlicher.

Zwischen 1976 und Dezember 1983 entführte und tötete die argentinische Militärdiktatur Tausende Menschen. Sie wurden als nicht identifizierte Personen auf Friedhöfen und in geheimen Gräbern verscharrt. Im Mai 1984, nach dem Übergang zur Demokratie, hatten die „Großmütter von der Plaza de Mayo“ (eine Frauengruppe, deren Mitglieder nach ihren Enkeln suchen, den während der Diktatur verschwundenen Kindern ihrer Kinder) sieben Mitarbeiter der Amerikanischen Vereinigung für die Förderung der Wissenschaft nach Argentinien eingeladen. Zu ihnen gehörte ein forensischer Anthropologe – ein Fachmann für die Identifizierung von Knochenresten: jemand, der daraus die Spuren von Leben und Tod lesen kann. Er hieß Clyde Snow. Snow war 1928 in Texas geboren und genoß persönliches Ansehen: Er hatte die Überreste Josef Mengeles in Brasilien identifiziert. Außerdem soff er wie ein Kosak, rauchte Havannas, trug einen texanischen Hut und Stiefel desselben Stils. Er war es gewohnt, in einem Land zu leben, wo die Verbrecher einzelne Personen waren, die andere Einzelpersonen töteten: keine Staatsmaschine, die Menschen verschluckte und ihre Knochen ausspuckte. Während dieser Reise – der ersten von vielen – hielt er in der Stadt La Plata, der Hauptstadt der Provinz Buenos Aires, einen Vortrag über forensische Wissenschaften und Verschwundene, und die Übersetzerin, die von den zahlreichen Fachausdrücken überfordert war, gab mittendrin auf. Ein blonder Mann mit überaus charismatischer Ausstrahlung meldete sich: „Ich kann weitermachen: Ich verstehe Englisch.“ So kreuzte der sechsundzwanzigjährige Medizinstudent Morris Tidball-Binz, der perfekt Englisch beherrschte, den Lebensweg Clyde Snows.

In den folgenden Wochen nahm Clyde Snow auf Bitten von Richtern und Angehörigen von Verschwundenen an mehreren Exhumierungen teil, wobei ihn sein neuer Übersetzer begleitete. Als er im Juni auf einem Vorstadtfriedhof sieben Leichen exhumieren sollte, sah er ein, daß er Hilfe brauchte. Er schickte einen Brief an das Kollegium der Anthropologieabsolventen und bat um Mitarbeit. Aber er erhielt keine Antwort. Da erklärte Morris Tidball-Binz: „Ich habe ein paar Freunde.“

Morris’ Freunde beschränkten sich auf einen: Er hieß Douglas Cairns, studierte Anthropologie an der Universität von Buenos Aires und verbreitete unter seinen Studienkollegen die Nachricht: „Da gibt es einen Gringo, der Leute sucht, um Überreste von Verschwundenen zu exhumieren.“

„Ich bin daran gewöhnt, Guanakos auszugraben, keine Menschen“, meinte Patricia Bernardi, eine siebenundzwanzigjährige, elternlose Anthropologiestudentin, die im Transportunternehmen ihres Onkels angestellt war.

„Mir gefallen keine Friedhöfe“, hat vielleicht Luis Fondebrider erklärt, ein Student des ersten Anthropologie-Studienjahres, der in einem Betrieb für Gebäudedesinfektionen angestellt war. „Ich habe nie eine Exhumierung durchgeführt“, sagte Mercedes Doretti, die schon länger Anthropologie studierte und als Photographin sowie als Angestellte einer ambulanten Bibliothek arbeitete.

Dann aber dachten sie, daß sie nichts zu verlieren hätten, wenn sie sich so etwas einmal anhörten, und darum trafen sich Patricia Bernardi, -Mercedes Doretti und Luis Fondebrider –samt Douglas Cairns – am Abend des 14. Juni 1984 mit Clyde Snow – und Morris Tidball-Binz – im Hotel Continental im Zentrum von Buenos Aires.

„Clyde kam uns sonderbar vor. Wir dachten: ‘Wieviel der Alte säuft, wieviel er raucht’“, erzählt Patricia Bernardi. „Er hat uns zu einem Gläschen eingeladen, und als er uns erklärte, was er vorhatte, glaubte ich, daß uns der Appetit vergangen wäre. Aber dann nahm er uns zum Essen mit, und wir waren Studenten, niemals waren wir in ein elegantes Restaurant gegangen. Wir langten tüchtig zu. Allerdings hatten wir Angst. Die Lage im Land war sehr unsicher, und wir dachten: ‘Wenn hier wieder etwas passiert, fährt dieser Gringo in seine Heimat zurück, aber wir müssen dableiben.’“

Als sie sich damals von Clyde Snow verabschiedeten, versprachen sie, über seinen Vorschlag nachzudenken und ihm eine Antwort zu geben.

„Ich war gerührt, aber sie hatten keine Erfahrung“, erzählte Clyde Snow einige Jahre später der Zeitung Página/12. „Ich habe ihnen gesagt, es sei eine schmutzige, deprimierende und gefährliche Arbeit. Außerdem sei kein Geld da. Sie meinten, sie wollten das besprechen und mir am nächsten Tag eine Antwort geben. Ich dachte, das sei eine liebenswürdige Art, mir Ciao, gringo zu sagen. Aber am nächsten Tag waren sie da.“
Am nächsten Tag waren sie da.

„Wir hatten beschlossen, mit dieser Exhumierung einen Versuch zu machen, und danach wollten wir sehen, ob wir bei anderen weitermachen würden“, sagt Patricia Bernardi. „Wir trafen uns früh, an der Hoteltür, und man brachte uns in Polizeiautos zum Friedhof. Es war ein sonderbares Gefühl, dort einzusteigen. Danach sollten wir noch oft in solche Autos einsteigen. Ich war vorher nie auf einem Friedhof gewesen, doch zusammen mit Clyde schien das Schwierige ein bißchen leichter zu sein. Er sprang mit uns in die Grube, machte sich mit uns schmutzig, rauchte, aß in der Grube. In schweren Augenblicken war er ein guter Lehrer, weil es eine Sache ist, Knochen von Guanakos oder Seehunden auszubuddeln, und eine andere, einen menschlichen Schädel. Als die Überreste zum Vorschein kamen, blieben mir die Kleidungsstücke am Pinsel kleben, und ich fragte: ‘Was mache ich mit den Sachen?’ Clyde sah mich an und sagte: ‘Mach weiter, mach weiter.’ Wir holten damals die Knochenreste nach oben. Wir gingen ins Leichenschauhaus, und es stellte sich heraus, daß es nicht die waren, die wir suchten. Clyde besprach dann mit den Angestellten des Leichenschauhauses etwas über eine Geschoßbahn. Wir verstanden nichts. Die Familienangehörigen waren da, und ich sagte zu dem Richter: ‘Erklären Sie ihnen, daß es nicht ihre Toten sind. Diese Leute haben schon viel durchgemacht.’ Als er es erklärte, war das Wehklagen der Angehörigen etwas, das … Wir sind dort um drei Uhr früh weggegangen. Es war die längste Exhumierung meines Lebens.“

Doch es folgten so viele andere. Zwischen 1984 und 1989 verbrachte Clyde Snow mehr als zwanzig Monate in Argentinien, und bei jeder Reise begleiteten ihn die Studenten und nahmen an Exhumierungen teil, womit sie sich allmählich von diesem Beruf vereinnahmen ließen, der – in ihrem Land – keine Vorgeschichte und kein Ansehen hatte.

„Keiner begriff, was wir machten. Eine besondere Art Totengräber? Gerichtsmediziner?“ teilt Mercedes Doretti von New York aus mit. „Die Akademie sah uns von oben herab an, denn dort sagte man, das sei keine wissenschaftliche Arbeit.“

Etwas über zwanzig Jahre alt, als schlechtbezahlte Angestellte bei absurden Beschäftigungen, als Studenten eines Fachs, das sie nicht auf eine – von ihnen jedenfalls ungeahnte – Zukunft vorbereitete, verbrachten sie die Wochenenden auf Vorortfriedhöfen und gruben in den gerade geöffneten Gräbern junger Leute, unter den Blicken der Angehörigen.

„Wir hatten von Anfang an eine Beziehung zu den Angehörigen der Verschwundenen“, sagt Luis Fondebrider. „Wir waren in dem Alter, das ihre Kinder hatten, als sie verschwanden, und sie fühlten eine ganz besondere Zuneigung zu uns. Da gab es die Tatsache, daß wir ihre Toten berührten. Wenn man die Toten berührt, schafft das eine besondere Beziehung zu den Leuten.“

Da sie Angst hatten, blieben sie immer zusammen. Und da sie immer zusammenblieben, nannte man sie mit der Zeit den „Fischschwarm“. Sie redeten mit niemandem über das, was sie taten, und damit sie über das reden konnten, was sie taten, kamen sie bei Patricia oder Mercedes zusammen.

„Wir haben alle von Knochen geträumt, von Gerippen“, sagt Luis Fondebrider. „Keine besonders komplizierten Geschichten. Aber wir erzählten uns diese Geschichten untereinander.“

„Wir hatten alle Alpträume“, sagt Mercedes Doretti. „Eines Tages bin ich schreiend hochgeschreckt. Ich hatte von einer Kugel geträumt, die aus einem Pistolenlauf kam, und ich bin aufgewacht, als die Kugel gerade in meinem Kopf einschlagen wollte. Ich hatte das Gefühl, daß ich starb, und ich dachte: ‘Wieso habe ich nicht gemerkt, daß so etwas bevorsteht, wieso habe ich nicht gemerkt, daß ich sinnlos sterbe, wieso habe ich nicht gemerkt, daß ich mich nicht auf so etwas einlassen darf?’“

1985 fuhren sie in die Stadt Mar del Plata, um die sterblichen Überreste einer verschwundenen Frau auszugraben, wobei sie überzeugt waren, daß sie auf der Seite der Guten standen. Die „Mütter von der Plaza de Mayo“ – die Gruppe der Frauen, die ihre verschwundenen Kinder suchen – erwarteten sie.

„Sie wollten die Exhumierung stoppen“, sagt Mercedes Doretti. „Sie behaupteten, Snow sei CIA-Agent und die Regierung wolle die Tatsachen verschleiern, indem sie Beutel mit Knochen übergebe. Man beschimpfte uns. Das war hart. Zu sehen, daß diese Frauen, die unsere Heldinnen waren, sich gegen uns stellten, war ein schwerer Schlag. Schließlich nahmen wir die Exhumierung vor, und danach gingen wir zum Strand. Dort setzten wir uns hin und blickten betrübt aufs Meer.“

In demselben Jahr sagte Clyde Snow im Prozeß gegen die Junta-Mitglieder aus, als man die Militärs vor Gericht stellte, die während der Diktatur an der Macht gewesen waren. Er zeigte ein Dia von der Exhumierung in Mar del Plata: eine junge Frau, die Liliana Pereyra geheißen hatte und deren Schädel von Kugeln durchsiebt war.

„Was wir tun“, sagte Snow in Página/12, „wird künftige Revisionisten daran hindern, die wirklichen Vorgänge zu leugnen. Jedesmal wenn wir das Skelett eines Jugendlichen mit einem Einschußloch im Genick wiederentdecken, wird es schwieriger, mit Gegenargumenten zu kommen.“

(…)
 

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