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Cover Lettre International 93, Jan Fabre
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LI 93, Sommer 2011

Das mediterrane Denken

Die Welt vom Süden aus verstehen. Andere Perspektiven für die Zukunft

 Die Idee, die dem mediterranen Denkenzugrunde liegt, ist einfach. Seit Jahrhunderten spricht der Süden nicht mehr aus der Perspektive der ersten Person, weil andere an seiner Stelle sprechen. Der Süden wird repräsentiert von jener Kultur, die während dieser Jahrhunderte dominant geworden ist. Es handelt sich um den Nordwesten der Welt. Dieser verfügt nicht nur über die wirtschaftlich-politische Vorrangstellung, sondern besitzt auch die Hegemonie über die Vorstellungswelt des Planeten. Im besten Fall ist der Süden in den Augen dieser Kultur Synonym für eine zurückgebliebene Gesellschaft und für die üble Verflechtung von Armut und Abweichung, von Unterdrückung und Aberglaube. Aus dieser Perspektive besteht die einzig mögliche Rettung für den Süden darin, Norden zu werden: Er müsse so schnell wie möglich seine eigene Andersheit aufgeben und solle sich von einer Kultur lossagen, die ihn wie Ballast daran hindere, seine Rückständigkeit zu verringern und sich auf den Weg des Fortschritts zu machen.

Das theoretische Programm des mediterranen Denkens ist klar: dieses Bild dekonstruieren, die lange geschichtliche Periode beenden, während welcher der Süden von anderen gedacht wurde, und ihm die antike Würde als Subjekt des Denkens zurückgeben.
Das mediterrane Denken geht von der Überzeugung aus, daß der Süden sehr viel mehr ist als Nochnichtnorden. Er stellt eine andersartige Perspektive dar. Die Autonomie des Südens, so die mit dem mediterranen Denken verknüpfte Überzeugung, ermöglicht heute mehr denn je, einen kritischen Blick auf jenen Weg zu werfen, welchen die Welt im Zeitalter der Globalisierung und der Hegemonie des Liberalismus genommen hat. Der Süden steht nicht bloß für Vergangenheit, sondern er bietet auch Anleitungen für die Zukunft. Er ist ein anderer Blickwinkel auf die Welt und eine Stimme, auf die zu hören man wieder lernen muß.

Die Welt vom Süden aus zu betrachten bedeutet, eine Veränderung der herrschenden Sichtweisen vorzunehmen. Der Süden muß sich von der Gestalt verabschieden, in der er überliefert ist, und zu einer anderen Perspektive gelangen als jener, die ihn als eine zurückgebliebene Kopie des Nordens darstellt: als einen ewig unfähigen und unreifen Schüler und als etwas, das zwischen Touristenparadies und mafiöser Hölle oszilliert. Sicher kann der Süden eine Menge vom Norden lernen. Er sollte aber nicht danach streben, „Norden zu werden“. Und er tut dies nicht bloß aus einer Anwandlung von Stolz, es besser zu wissen, sondern aus anderen, handfesten Gründen.

Vor allem glaubt er nicht, daß die Hierarchie zwischen den sogenannten entwickelten und rückständigen Ländern so klar und verdient ist, wie vorgegeben wird. Die Metapher vom sportlichen Wettbewerb, die so breite Verwendung findet, verschleiert die Realität. Der Markt ist gewiß nicht wie eine Laufstrecke, wo die Bahnen frei und für alle gleich sind. Wer vorn ist, hat keinerlei Absichten, die hinteren vorbeizulassen. Wer meint, man könne diese Hierarchie umkehren, indem alle mit gleichen Waffen kämpfen, irrt gewaltig. Viele Wissenschaftler haben dies deutlich zum Ausdruck gebracht, wie der Nobelpreisträger für Wirtschaft, Douglass C. North: „Die ‘globale Wirtschaft’ ist kein Spielfeld, wo alle bei Null anfangen: Die entwickelten Länder erfreuen sich größerer Vorteile, weil sie über ein institutionelles/organisatorisches Umfeld verfügen, das … es vermag, die potentielle Produktivität durch eine Integration der verstreuten Kenntnisse einzufangen.“
Die Stärksten verfügen über mannigfaltige Mittel, um zu verhindern, daß die anderen ihren Vorrang gefährden.

Aber für den Süden ist es noch aus einem anderen Grund schwierig, in der Hierarchie aufzusteigen: Die natürliche Umwelt ist als Ausgangspunkt nicht für alle gleich. Man erinnere sich an die Worte eines Historikers wie David S. Landes, der in Wohlstand und Armut der Nationen
den Einfluß des gemäßigten Klimas für Entwicklung und Reichtum der Nationen bestätigt: „Die Welt war nie eine planierte Spielwiese, und alles hat seinen Preis.“ Ohne Zweifel hat das Klima großen Einfluß ausgeübt und tut es noch, um die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes zu begünstigen oder zu behindern. Aber über das Gewicht dieses Faktors spricht man heute sehr wenig. Auch diesbezüglich ist die in Aussicht gestellte Möglichkeit, den Abstand zwischen den führenden Ländern und den anderen zu reduzieren, eine die Realität nicht beachtende Vorstellung. In Wirklichkeit ist dieses Gefälle dazu bestimmt, weiter zu wachsen. Von diesen beiden Hindernissen leitet sich ein einfacher Schluß ab: Der Süden hat viel von den entwickelteren Ländern zu lernen. Aber er kann ihnen nicht nachjagen, ohne Niederlagen und Enttäuschungen zu erleiden. Die anderen sind früher gestartet und haben keine Absicht, sich überholen zu lassen. Zudem können sie sich günstigere Umweltbedingungen zunutze machen. Im Fußball würde man sagen: Für sie ist jedes Spiel ein Heimspiel, auch wenn sie so tun, als würden sie auf neutralem Feld spielen. Was sind die Massen an Migranten, wenn nicht ein dramatischer Beweis für die Unmöglichkeit, dieses Gefälle zu überwinden? Stehen sie nicht für das endgültige Aus der Idee von einer gerechten und weltweiten Entwicklung?

Wenn man der berühmten Feststellung Max Webers wissenschaftliche Bedeutung zuschreiben will, daß für den Beginn der Akkumulation des Kapitals eine religiöse Ethik, der kalvinistische Protestantismus, eine entscheidende Rolle gespielt hat, muß man sich fragen, wie es für Länder, die nicht aus der Tradition eines einzigen, schweigenden und strengen Gottes kommen, möglich sein soll, diesen Prozeß der Rationalisierung anzukurbeln, der die Entwicklung antreibt. Sollen sie konvertieren?

(...)

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