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Cover Lettre International 93, Jan Fabre
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Inhaltsverzeichnis

LI 93, Sommer 2011

Gegenzeit

 (…) Die Entfremdung von der Realität, der Geschichte, die Nichtübereinstimmung der individuellen mit der kollektiven Zeit – dieses Unbehagen, das im 20. Jahrhundert unter verschiedenen Aspekten immer wieder auftritt, nimmt natürlich in jedem Land eine andere Gestalt an, und das Antlitz des Unbehagens hängt von den jeweiligen historischen Ereignissen ab. Das Blutbad des Ersten Weltkriegs, das die meisten Schriftsteller, feinfühlig wie sie sind, vorausgeahnt hatten, verleiht diesem Gefühl die Tragweite der Tragödie. Nun wird die Unruhe, von Gadda über Ungaretti bis zu Comisso, unweigerlich zu einer Wunde, das Massaker in den Schützengräben wird zu einem Massaker im Bewußtsein der Schriftsteller.

Und was geschieht in den Jahren zwischen dem einen Massaker, das eben erst zu Ende gegangen ist, und dem nächsten, dem Europa bereits entgegeneilt? Der Spanische Bürgerkrieg, in mehreren Ländern gewinnt der Faschismus an Boden, die verschiedensten Abgründe tun sich auf, unter anderem der unermeßliche des Holocaust. Aber nicht Chamberlain oder andere Politiker eines mehr oder weniger demokratischen Europa sind sich dessen bewußt, sondern die Schriftsteller Orwell, Gadda, Céline (Die Reise ans Ende der Nacht
stammt von 1932, doch danach läßt sich Céline vom Strudel des Verderbens mitreißen, was er später in Nord als Abstieg in die Hölle beschreibt) sowie Pessoa einerseits, Kafka, T. S. Eliot (The Waste Land stammt aus dem Jahr 1922), Montale und seine „Krankheit des Lebens“ andererseits.

Aber auch in der Nachkriegszeit kommt die Unruhe nicht zum Schweigen. Denn abgesehen von dem, was gerade passiert, scheint bereits alles passiert zu sein, und zwar auf so absurde Weise, daß es sich jeder Erklärung entzieht. Kann man das, was geschehen ist, auch verstehen? Adorno stellt sich die Frage, ob man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben könne. Primo Levi erzählt das eigentlich Unbeschreibliche, wobei er uns eine beinahe unerträgliche Unruhe vermittelt. Und aus England teilt uns Wystan H. Auden mit, daß die Unruhe mittlerweile zu Angst geworden sei (The Age of Anxiety,
1948). Und manche fühlen sich derart uneins mit ihrer Umgebung, daß sie sich sogar sich selbst gegenüber fremd fühlen. Das gilt zum Beispiel für Camus und seine Figuren, die in einer Kapsel der Entfremdung eingeschlossen sind. Und auch für Beckett: Wladimir und Estragon sind allem entfremdet, sogar der Sprache. Sie stehen an der Endstation, warten auf den Autobus und können nur noch stammeln. „Aber was reden wir eigentlich?“ fragen sie sich in raren Momenten der Klarheit.

In Italien gibt es, neben dem jungen Calvino, der seine Unruhe später zähmt und in den Dienst des Strukturalismus stellt, den politisch aktiven Paolo Volponi, der sich zwischen den Polen „Kapital“ und „Kommunismus“ aufreibt. Und natürlich Giorgio Manganelli, dessen Unruhe „in Reinform“ in einer üppig wuchernden Sprache Ausdruck findet, bei dem die Neurose zur Ästhetik und umgekehrt wird. Und Sciascia, der die finstersten Geheimnisse Italiens auslotet und dafür Sizilien als Metapher wählt. Und Pasolini, die Unruhe und den zivilen Ungehorsam Pasolinis, der so unverfroren ist, den korrupten Institutionen der Macht den Prozeß zu machen.

Von all den „unruhigen“ Schriftstellern, an denen das 20. Jahrhundert so reich war und von denen ich hier einige erwähnt habe, möchte ich einen besonders hervorheben, einen der größten italienischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, wenn nicht den größten: Carlo Emilio Gadda.

(…)

Im Gegensatz zu Pasolini, der das Gespenst des ewigen Faschismus im voraus erkannte und dessen Rückkehr prophezeite, nahm Carlo Emilio Gadda es zu spät zur Kenntnis. Die verspätete Erkenntnis ist genauso wie die verfrühte oft eine Eigenschaft großer Schriftsteller und der Motor bedeutender Literatur. Die verspätete Erkenntnis ist oft sogar noch beunruhigender und subversiver als die verfrühte, weil sie mit einem durch und durch verstörenden Gefühl einhergeht: dem Bedauern. Und somit mit dem Schuldgefühl, nicht rechtzeitig verstanden zu haben. Und da der Betroffene das Gefühl hat, ein – wenn auch unbewußter – Komplize des vergangenen Geschehens zu sein, welches er nicht zur Kenntnis nehmen konnte oder wollte, führt es zu einer Neubewertung des Ich. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Reue. Reue ist bescheiden, unterwürfig, sie akzeptiert das, was wir waren, und geht Hand in Hand mit der Buße. Die verspätete Erkenntnis hingegen führt zu Gewissensbissen. Und der Gewissensbiß ist auch die nostalgie de l’irréversible,
wie sie Jankélévitch definiert hat, bzw. die Sehnsucht nach dem, was wir nie wieder sein können, nach dem, was wir hätten sein können, aber nie gewesen sind. Die nostalgie de l’irréversible führt zu Neid, Wut, Raserei, Selbsthaß, Groll und Abscheu vor uns selbst. Weil nämlich all das passiert ist und wir es nicht verstanden haben. Und ich? Wer war ich damals? Diese Qual geht mit der Sehnsucht nach dem endgültig Verlorenen einher. Die unzeitgemäße Erkenntnis – wenn das, was sein sollte, auf immer vorbei ist; wenn die Musik, nach der wir unbewußt getanzt haben, endgültig verklungen ist und wir sie endlich verstehen, weil wir die Partitur in der Hand halten, das Orchester allerdings verschwunden ist – diese Erkenntnis kann, wie gesagt, eine verheerende Auswirkung haben. Ein Trauma bewirken. Und dieses Trauma wird gar nicht so selten zum Motor großer Literatur. Ich glaube, dieses oder ein ähnliches Gefühl liegt den größten Meisterwerken der Weltliteratur zugrunde. Ganz gewiß greift auch Cervantes in seinem Don Quixote darauf zurück.

Joyce mußte weit weg ins Exil gehen, damit er die Engstirnigkeit und schmerzvolle Beschränktheit eines Milieus beschreiben konnte, das ihn auf irreversible Weise geprägt hatte; das er zwar auch schon in seinen frühen Büchern beschrieben hatte, ohne es allerdings zur Gänze zu durchdringen: Erst in Italien, in Triest, und vor allem in der neutralen Schweiz, im friedlichen Zürich, konnte er vollständig verstehen, was ihm in seiner Jugend zugestoßen war. Erst jetzt konnte Joyce mit vollem Bewußtsein die Orte durchmessen, in denen er gelebt hatte. Sein dumpfes, stumpfes, bigottes Dublin – die Stadt, der er außerordentlich liebevolle Erzählungen widmete. Der nostos,
die „Heimkehr“, findet im Finale des Ulysses an einem gewissen Tag statt – einem Tag übrigens, an dem die Iren meiner Meinung nach etwas naiv ihren Nationalfeiertag mit Bier und Umzügen feiern und offensichtlich nicht verstehen, daß in diesem Roman keine glückliche Heimkehr des Protagonisten in seine Heimatstadt Dublin erzählt wird, sondern daß es um Sühne, Gewissensbisse, Rache geht und daß der Autor sie und sich selbst beschimpft.

Joyce mußte ins Exil gehen, um zu verstehen, Cervantes ins Gefängnis.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024