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Titel Lettre International 97, Minoo Emami
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LI 97, Sommer 2012

Der Skorpion

"Vom Zug tropft Blut, mein Herr!" Szenen aus dem iranisch-irakischen Krieg

Der IFA schüttelte sich und rüttelte bei jedem Schlagloch.
Als sie in die Hauptstraße einbogen, rief der Fahrer: „Hilf uns, Imam Abolfazl! Guck dir das an!“
Zu beiden Seiten der Straße sahen sie massenhaft Soldaten. Ohne Gewehre, ohne Ausrüstung, sogar ohne Uniform!
So weit das Auge reichte, Soldaten über Soldaten, Offiziere und Unteroffiziere, die mit staubigen Hosen, barfuß und mit schmutzigen weißen Unterhemden am Straßenrand lagerten.
Einige lagen am Boden, von Hunger und Durst gezeichnet, und hatten keine Kraft mehr, sich aufzurichten. Einige waren halbnackt. Nur eine Kufiya, das arabische Halstuch, bedeckte ihren Kopf, damit sie nicht vor Hitze umkämen. Einige hundert oder vielleicht einige tausend von ihnen hatten sich in ungeordneten Kolonnen zu Fuß auf den Weg nach Andimeschk gemacht.
Ein Lastwagen fuhr langsam die Straße entlang. Zwei Soldaten, die dunkelgrüne Uniformen trugen, sammelten die Gewehre von beiden Straßenseiten auf und warfen sie auf die Ladefläche.
Als der IFA an dem Lastwagen vorbeifuhr, hatten weder Morteza noch der Fahrer den Mut, sich umzudrehen. „Dreh deinen Kopf nicht nach hinten, Sia!“
Durch den Außenspiegel sah er den Lastwagen immer kleiner und kleiner werden.
Ein wenig weiter trafen sie auf andere Soldaten, die ihnen manchmal zuwinkten, damit vielleicht der IFA für sie anhielte.
Ein Oberst, dessen Hemd offenstand, überquerte mit gesenktem Kopf die Straße. Sein Unterhemd, auf dem sich Schorf gebildet hatte, war bis zu seinem dicken Bauch schweißnaß. Seine Schulterklappen hingen schief herab. Zwei, drei Soldaten gingen hinter ihm her; ihrem grauen, schütteren Haar war anzusehen, daß sie alle Offiziere und Unteroffiziere waren.
Ein Jeep stand mit offener Motorhaube schief am Straßenrand. Zwanzig bis dreißig Personen saßen in seinem Schatten. Ihre Köpfe waren gegeneinandergelehnt, und ihre Augen waren geschlossen.
Ein wenig weiter liefen einige Soldaten in staubigen Hosen auf die Straße, hoben ihre Arme und machten mit den Fingern ein X-Zeichen.
„Willst du anhalten?“
Der Fahrer mußte stoppen. Sobald er bremste, hielten sich alle am IFA fest, sprangen hoch und versuchten, am Laster hochzuklettern. Ein, zwei drängten sogar ins Führerhaus, aber es war kaum Platz. Nur einer konnte sich setzen, der andere hielt sich am Türgriff fest, und der IFA fuhr wieder weiter.
Durch den Außenspiegel sah Morteza den Soldaten, der sich mühsam am Türgriff geklammert hielt. Aber sein Griff lockerte sich, und seine Fußspitzen berührten den Boden.
Der Soldat, der neben Morteza Platz gefunden hatte, war still. Er starrte nur geradeaus. Sein Gesicht war staubig, seine Lippen waren vor Durst angeschwollen. Langsam kippte sein Kopf gegen Mortezas Schulter, und der Soldat schloß die Augen.
Der Fahrer sagte: „Er ist halb verdurstet. Seit drei Tagen hat er kein Wasser mehr gekriegt!“
Als Morteza in den Rückspiegel schaute, wurde die Straße dunkler. Die Hände des draußen hängenden Soldaten lösten sich und der Wind nahm ihn mit. Morteza drehte sich um und sah die anderen Soldaten, die auf der Ladefläche des IFA in einem Haufen aufeinanderlagen. Unmöglich, zu sagen, zu wem so viele Hände, Füße und Köpfe gehörten.
Mortezas Schulter war eingeschlafen. „Er ist eingeschlafen.“
Der Fahrer sagte: „Ich glaube, er ist tot.“
Dann nahm er seinen Fuß vom Gas, beugte sich vor und öffnete die Beifahrertür. Er legte seine Hand auf die Schulter des toten Soldaten, murmelte leise etwas vor sich hin und schubste ihn hinaus. Der Soldat fiel runter. Der Fahrer schloß die Tür und faßte wieder mit beiden Händen den Lenker.
Morteza war verwundert. „Hast du gesehen, Sia?“
Als er wieder in den Spiegel schaute, lag die Straße hinter ihnen in Dunkelheit.

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