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Cover Lettre International, Achim Freyer
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Inhaltsverzeichnis

LI 114, Herbst 2016

Die digitale Wende

Der Horizont der Posthumanität rückt näher

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Worin hat sich nun unsere Form der Realitätswahrnehmung durch die Digitalisierung geändert? Gehen wir eine andere Beziehung zu unserer Innerlichkeit ein? Haben sich unsere Erfahrungen von Zeit, Raum und Entfernung verändert? Welche Folgen für unser Alltagsleben hat die ständige Beachtung einer virtuellen Dimension, die alles zweiteilt? Haben wir die Fähigkeit verloren, uns zu langweilen, oder nimmt der Überdruß neue Formen an, die unter dem unablässigen Aufruhr des Netzes lauern? Stellt es einen beunruhigenden Erfahrungsverlust dar, wenn es uns die Navigationssysteme unmöglich machen, uns zu verirren? Und was ist mit der Einsamkeit? Kann das Gedächtnis seine selektive Funktion erfüllen, wenn wir Datensätze vom größten Teil unserer Handlungen hinterlassen? Mehr noch: Ist eine nach außen gestülpte Persönlichkeit eine echte Persönlichkeit oder lediglich eine ununterbrochene Performance, die nur durch die Augen der anderen einen Sinn erhält? Dies sind phänomenologische Fragen, die auf die persönliche Erfahrung des digitalisierten Individuums verweisen, auf ein besonderes, jedoch mit vielen anderen geteiltes Erleben der Konnektivität. Auf diese Fragen erschöpfend zu antworten kommt der Entwicklung einer Poetik des digitalen Raums gleich.

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Man könnte sagen, daß wir es mit einem beginnenden Wandel bei den Standards zu tun haben, welche die dominierenden Probleme, Konzepte und Erklärungen bestimmen, und daß wir uns mitten in der Umgestaltung der Voraussetzungen für die Erzeugung, Vermittlung, Zugänglichkeit und Bewahrung des Wissens befinden. In den letzten Jahren haben wir ein Zeitalter der „Informationsfülle“ (Chadwick) erlebt – dieser Begriff bezieht sich auf die wachsende Bereitschaft der Bürger, mediale Inhalte zu produzieren, zu reproduzieren und zu teilen, und dies in der (bewußten oder unbewußten) Absicht, öffentliche Güter für die Organisation und die formelle und informelle politische Koordination zu schaffen. Diese Entwicklung der Konnektivität und der Mobiltechnologien, ganz zu schweigen von einer weniger sichtbaren Computerrevolution, legt die Notwendigkeit nahe, eine prinzipienstrenge Auseinandersetzung über die Entstehung einer Kultur einzuleiten, die zugleich global und posthuman ist. Einerseits interagiert ein Komplex heterogener Kulturen in einer globalisierten und durch die Informationstechnologien vernetzten Welt: Die Globalisierung modifiziert lokale Praktiken und Kulturen, während die digitalen Medien die Identität und die sozialen und politischen Beziehungen in einem weiteren Sinne ändern und umgestalten. Andererseits gibt es das Subjekt und die Maschine nicht mehr voneinander getrennt, vielmehr wirken beide gemeinsam in der Art eines Hybrids. „Was ist die Kultur, nachdem sie ‘softwarisiert’ wurde?“, fragt sich Lew Manowitsch.

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Hyperkonnektivität

Die Digitalisierung ist wie jede selbstbewußte Revolution grundsätzlich durch ihre radikale Neuheit ausgezeichnet: Es gab nichts Gleiches, und es wird nie etwas Gleiches geben. Doch wie bei jeder dieses Namens würdigen Revolution muß man auch auf die Kontinuitäten achten. Der Soziologe Bruno Latour hat darauf hingewiesen, wie der menschliche Geist durch den Gebrauch von Feder und Papier domestiziert wurde. Das gleiche geschieht heute mit dem Bildschirm. Die Technologien, die wir zum Denken benutzen (Augen/Hand, Augen/Bildschirm/Netz), dienen in beiden Fällen dazu, die Bedeutungen zu stabilisieren und ein leichter übermittelbares Wissen, das sich ständig zeichnen, schreiben oder aufnehmen läßt, zu visualisieren. In diesem Sinne bringt die Digitalisierung einen neuen Aufschwung der Visualität und eine erneuerte Vorrangstellung aller Arten von Grafiken, Bildern, Videos und Infografiken mit sich. Die innige Verbundenheit der humanistischen Kultur mit dem geschriebenen Wort ließ selbstverständlich die Alarmglocken läuten. Andererseits lesen und schreiben wir auch mehr: Man braucht nur die Augen vom Handy abzuwenden, um zu sehen, wieviel Mühe wir uns geben, um auf diesem kleinen tragbaren Apparat zu lesen und zu schreiben.

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Die digitale Zeit ist vor allem eine im Zusammenhang mit der Erwartung organisierte Zeit. Wir befinden uns in einer Position der allgemeinen Verfügbarkeit und sind gegenüber einem Kontakt mit den übrigen offen. Dieser kann von einem Tweet, einer E-Mail oder einem Kommentar im Chat bewirkt werden. Stets nehmen wir eine abwartende Haltung ein. Im allgemeinen handelt es sich um unbedeutende, banale, eilige Kontakte. Im besten Fall zeichnen sie sich durch Einfallsreichtum und Ironie aus – im schlimmsten Fall durch eine unmöglich zu überwindende Oberflächlichkeit. Wenn die Intimsphäre der gebildeten Klassen im 19. Jahrhundert mit den Stimmen des Romans bevölkert war und wenn das westliche Bürgertum des vergangenen Jahrhunderts in Rundfunk und Fernsehen seine häuslichen Begleiter fand, so bewohnen wir spätmodernen Subjekte einen phantomhaften Raum voller Nachrichten und Kommentare, die aus dem Nichts kommen und nach unserer unverzüglichen Antwort verlangen. Denn die digitale Zeit wird ebenfalls beschleunigt und hat dazu beigetragen, die mit ihr koexistierende analoge Zeit zu beschleunigen. Selbstverständlich gibt es viele vollständig signifikante digitale Inhalte. Doch wenn wir uns nach den Interaktionen in den sozialen Netzwerken richten, mögen die Diskussionen, auf die wir uns dort einlassen, noch so interessant sein, falls sie es wirklich sind, jedenfalls hinterlassen sie gewöhnlich ein intensives Gefühl, daß man seine Zeit verschwendet hat und dadurch allerdings einer Sucht erliegt: ein während der direkten Erfahrung belebendes Gefühl, das in der späteren Erinnerung indes einen bitteren Nachgeschmack hinterläßt. Diese verlorene Zeit ließe sich am Lebensende nicht zurückgewinnen.

Jedenfalls wäre es naiv, anzunehmen, nur bei einem Rückzug aus den Netzwerken könnte es möglich sein, dieser Form des zurückschauenden Überdrusses zu entgehen. Wir können nicht mehr aussteigen. 

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