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Cover Lettre International, Martin Assig
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Inhaltsverzeichnis

LI 117, Sommer 2017

Subkultur, SDS und LSD

Achtundsechziger Spätfolgen und die Sehnsucht nach der gemeinsamen Tat

(…)

Frank M. Raddatz: Ein Vertreter des Undergrounds wie Sie mußte in den siebziger Jahren in Deutschland nach Berlin gehen.


Bernd Cailloux: Als ich nach Berlin ging, war das eine eher halbbewußte Entscheidung für das Schriftstellerdasein. Hamburg ist atmosphärisch keine Stadt zum Schreiben. In den siebziger Jahren gab es dort Peter Rühmkorf und Hubert Fichte, der immer in der Welt unterwegs war. Die Stadt selbst war damals schon unglaublich kommerziell. Die Kunst spielte eine untergeordnete Rolle, auch die Malerei war nur von minimaler Bedeutung. Deswegen ging ich nach Berlin. Dennoch interessiert mich diese Stadt auch nach vierzig Jahren nicht konkret, ihr Mythos allerdings schon eher. Aber so ist das mit der Geographie, die habe ich nicht in mir. Bis heute weiß ich nicht, wo zum Beispiel ein Ortsteil wie Böhmisch-Rixdorf liegt.


In Neukölln.


Es gibt auch Französisch-Buchholz, das ist ein Ortsteil von Pankow. Solche Entdeckungen macht man ständig. Jede Fahrradfahrt ist eine Wundertüte. Wenn man fünf Monate nicht an bestimmten Orten vorbeigekommen ist, hat das Immobilienkapital schon wieder alles auf den Kopf gestellt. Diese Dichte von Veränderungen finde ich problematisch. Man kann sagen, so ist das in einer Metropole – und wir alle wollen ja in einer Metropole leben … allerdings ohne deren Nachteile, und die haben wir in Hülle und Fülle. Durch ewige Bauarbeiten. Durch Zuwanderung ohne Ende. Selbst harmlose kleine Straßen, wie die Belziger Straße in Schöneberg, sind plötzlich Renn- und Laufstraßen. Früher bewegte sich da nachmittags kein Mensch. Eine tote Straße mit ein bißchen Durchgang zum Rathaus Schöneberg. Damals war es das Privileg von gutsituierten Rentnern und Künstlern, dort tagsüber spazieren zu gehen. Heute ist sie schon früh voller Menschen. Baudelaire hat vor 150 Jahren, als Paris neu gebaut wurde, gesagt, daß die Stadt sich schneller verändere als ein Menschenherz. Dieses Gefühl habe ich seit längerem in Berlin. Dieser Stadt werden zu viele Wachstumshormone gespritzt. Als Fellini zum Altern befragt wurde, konnte er noch sagen: „In Rom hat sich nichts verändert. Die alten Bauten stehen, seit ich hier lebe, deswegen habe ich nie gemerkt, daß ich älter werde.“ Ich weiß nicht, ob Rom immer noch so aussieht, das hat Fellini vor Jahrzehnten gesagt. Der Berliner altert täglich. Das sagt einiges über das neue Stadtgefühl aus, mit dem ich meine Probleme habe.
Man muß sich einmal Bürgermeister Müller anschauen. Ein merkwürdiger Typ. So einen gibt es nirgendwo sonst als Regierungschef. Ich vermute, daß sich Müller, wenn er allein im Büro ist, schwarze Ärmelschoner über das Hemd stülpt. Das würde zu seiner Schüchternheit und diesem Kleinbeamtenhaften jedenfalls passen. Natürlich kann man eine solche Problemstadt nicht einer einzelnen Person aufbürden, aber die öffentliche Erzählung läuft nun einmal über den Helden oder den Antihelden. Wenn ich ihm einen Tip geben sollte, wie er sein Image aufpolieren könnte, würde ich sagen, er solle sich ein Tattoo stechen lassen. Zu so einer extrovertierten Stadt wie Berlin würde eine kleine Knacki-Rose am Hals gut passen. Dann wäre er der erste tätowierte Regierungschef und könnte mit Wowereits Champagner aus Pumps gut mithalten. Auf der Symbolebene muß irgend etwas laufen, wenn man ein Metropolenchef sein will.


Als Sie damals nach Berlin gezogen sind, war West-Berlin noch nicht kapitalisiert. Stattdessen wurde diese Metropole des deutschen Undergrounds von der Bundesrepublik subventioniert.


Das war ein Kopenhagener Christiania mit angeschlossenem Wissenschaftsbetrieb. Es hatte sich eine große junge Szene etabliert. Lockere Studenten, die noch viel Zeit hatten, weil sie für achtzig Mark wohnten. Diese Subkulturausstrahlung ließ West-Berlin glitzern und zog ganz bestimmte Leute an. Darunter auch viele Künstlerkandidaten. Leute, die man heute Kreative nennt. Nur kamen diese Kreativen Mitte der Siebziger, Ende der Siebziger hierher, weil sie nach Modellen zur Veränderung der Gesellschaft suchten. Das ist der Unterschied: Damals kamen Aussteiger, heute kommen Einsteiger. Wenn Müller jetzt den Slogan ausgibt: „Berlin, Stadt der Freiheit“, muß es spätestens klingeln, daß der Mann etwas anderes meint. Die Halbstadt wurde damals durch hunderttausend oder 200 000 junge Menschen, also Künstlerkandidaten, Studenten, Ausländer usw. geprägt, die nach 1961 hierhergezogen sind, während sich das Bürgertum weitgehend verdrückt hatte. Im Tunnelblick sah das Ganze für Momente aus wie eine funktionierende Gegengesellschaft. West-Berlin war eine Schule der Sensibilität, ein Ort der Muße und der Musen.

(…)

BERLINER UNDERGROUND

Dieser kreative Aufbruch setzte, im Gegensatz zu dem politisch-emanzipatorischen von 68, zehn Jahre später ein. 1978 war das politische Dogma von 68 verblaßt. Die RAF hatte man gerade überwunden. Diese Desperados waren zwar noch nicht tot, aber man beugte sich nicht mehr den Disziplinierungen der Achtundsechziger im Namen einer fernen Weltrevolution. Es gab einen Kreativitätsruck, der innerhalb eines Jahres in den verschiedenen Künsten stattgefunden hat. In der Malerei starteten die neuen Wilden 77, 78, 79 von null auf hundert. In der Musik feierte die Neue Deutsche Welle mit Bands wie Ideal plötzlich Riesenerfolge. Im ZDF liefen kleine Goltzstraßen-Fernsehspiele. Nur die Literatur hat zu dieser Zeit wenig Herausragendes vollbracht. Das Schreiben wurde immer noch von der inzwischen altgewordenen Achtundsechziger-Generation bestimmt, auch wenn sich einige als Renegaten aufführten. Aber Musik, Film, Malerei … da begann etwas. Das waren nicht nur geniale Dilettanten. Einstürzende Neubauten gibt es heute noch. Die Berliner zeigten sich der Subkultur gegenüber lange nicht dankbar, obwohl sie viel zum guten Image Berlins beigetragen hat. Gesamtberlin ist nach dem Mauerfall durch die Clubszene und durch die Technoszene erneut jugendlich aufgeblüht und ist auch heute noch ein Ort der Selbstfindung – jedenfalls für viele the place to be.

(…)

Vom Selbstverständnis zählten wir uns zu 68 und der Studentenrevolte. Wir haben uns als Außenseiter, als gegengesellschaftlich, antibourgeois, antikapitalistisch verstanden. Das habe ich in Geschäftsjahr 1968/69 beschrieben. Jahre später ist mir klargeworden, daß eher das Gegenteil der Fall war. Wir waren die Vorhut und willigen Sklaven einer entstehenden Kulturindustrie. 68 ist die Kulturindustrie, wie wir sie heute kennen, geboren worden, als Ergebnis einer Kernfusion von Gegenkultur und Industrie. Das gilt für die Musik, die Mode, die Medien, den Film. In den frühen sechziger Jahren gab es das nicht. Da gab es Schallplattenfirmen, die Schallplatten verkauften. Aber dieser kompakte Mechanismus einer integrierten Industrie, die einen Lifestyle kreiert und bedient, entstand erst Ende der Sechziger, in Amerika vielleicht ein bißchen früher. Die Firma Levi’s hat 1963 oder 1964 auf ihre spartanischen Jeans – Diedrich Diederichsen hat das rausgefunden – Blumen gestickt und damit einen Umsatzsprung von etwa hundert Prozent erzielt. Daher stammt der Begriff „Blumenkinder“ für die Hippies.
Irgendwann fiel es mir wie Schuppen von den Augen, daß wir unwissentlich die ersten Knechte und nützliche Idioten dieser Lifestyle-Kulturindustrie waren, obwohl wir das Gegenteil wollten. 68 waren nicht nur die Studenten unterwegs, sondern auch viele clevere Unternehmer.

(…)

Gab es so etwas wie einen Grundfehler von 1968, oder wie konnte sich unser kritikloses Zeitalter entwickeln?


Alle neuen Lebensformen, alle sozialen und kulturellen Erscheinungen werden im Kapitalismus den Gesetzen und der Logik des Marktes unterworfen. Am Beispiel von 1968 ist das klar erkennbar. Alles, was an gegengesellschaftlichem Selbst entstand, an neuen Lebensstilen, an neuen Empfindsamkeiten, wurde gnadenlos ausgebeutet.
Die Kreativen, die heute zu Hunderttausenden in die Stadt kommen, wollen nicht mehr auf den Kuchen spucken, wie wir damals, die wollen den Kuchen haben. Heute steht die Berliner Subkultur als DVD und Photoband im Regal und man kann dazu sagen: „Och, war doch ganz süß!“ Es gibt keine für größere Kreise anschlußfähige, im weitesten Sinne widerständige Stimmung. Es gibt Widerstände gegen bestimmte Sachen, aber nicht eine grundlegende Kritik. Das hat man weggezaubert. Insofern haben wir eine gute Zeit erlebt, aber heute muß man mit kultursoziologischem Blick suchen, wo 68 den Boden gesäuert hat. Wenn man zu dem Schluß kommt, 68 sei gescheitert, muß man es vielleicht noch mal machen.

KATER NACH DEN PARADIESEN, RACHE AN ACHTUNDSECHZIG

68 hatte zwei Wurzeln. Einerseits die deutsche Vergangenheit, die ohne Politik, ohne Sozialismus, ohne Nazitum und Zweiten Weltkrieg inklusive die deutsche Spaltung, eingebettet in den Kalten Krieg, nicht zu verstehen ist. Andererseits dieses Überschwappen der Popkultur aus den USA mitsamt Drogen, Musik und Lifestyle. Wie hat das zusammengepaßt?


Das paßt nicht und hat auch nicht gepaßt. SDS und LSD – das waren zwei verschiedene Strömungen. Die kulturelle Aufbruchstimmung wurde von Amerika gesteuert oder von der amerikanischen Industrie angetriggert, kann man von heute aus sagen. Dagegen kam das Politische, die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, von den Universitäten und Studenten, die darüber soziologisch, historisch, philosophisch gearbeitet haben. 68 ist buntscheckig, eine Riesenpalette, die unterschiedlichste Bewegungen gebündelt hat, schwer auf einen Nenner zu bringen, vielleicht am ehesten den von „Destruktion und Kreativität“. Egal, ob die einen den Abschied aus den sozialistisch-utopischen Paradiesen beklagen mußten oder die anderen aus den künstlichen Paradiesen vertrieben wurden – am Ende überfiel alle die gleiche Katerstimmung.
Mich hat immer die Emanzipation der nichtakademischen Jugend interessiert. Dabei spielt Pop eine große Rolle, auch wenn Adorno Pop als kommerzielles Phänomen diskreditierte. Aber seine Existenz gehört eben auch zu 68. Im gesellschaftlichen Zusammenhang stand Pop zunächst für Unangepaßtheit und Widerstand.
Mit Pop verband man die hedonistische Lebensweise, das wilde Leben und gleichzeitig das Gefühl, moralisch überlegen zu sein. Dieses moralische Überlegenheitspostulat war die letzte interessante Formel, bevor Pop im Geschäft endgültig unterging. Das Moralische war legitimiert durch Ereignisse wie das Bangladesch-Konzert oder die One-World-Konzerte, die konkrete Hilfe ermöglichen wollten. Das Hedonistische und die Moral waren dabei kein Widerspruch. Heute hat das moralisch richtige Leben nichts mehr mit dem wilden Leben zu tun. Mittlerweile dominiert eine konsumistisch-individualistische Lebensform. Vor ein paar Jahren dachte ich noch, daß die neue jüngere Generation zwischen Anpassungsängsten und Etablierungswünschen schwankt. Dieses Gefühl habe ich heute nicht mehr. Diese Generation hat keine Anpassungsängste mehr, sondern nur noch Etablierungswünsche. Und was machen diese Hipster? Wo liegt, abgesehen von diesen Bärten, ihre kulturelle Botschaft oder Leistung?

(…)

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