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Cover Lettre International, Monica Bonvicini
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LI 103, Winter 2013

Das syrische Dilemma

Die Zerstörung alter Ordnungen und das Problem, neue zu erschaffen

Vor zehn Jahren, im Frühjahr 2003, „befreiten“ Soldaten der Vereinigten Staaten innerhalb weniger aufregender Wochen Irak. Die Amerikaner sahen die großen gelben und roten nächtlichen Explosionen des shock-and-awe-Bombardements und später die Kolonnen von Panzern, die auf Bagdad zustürmten. Die Iraker dagegen, deren Blick auf das Geschehen nicht durch die von amerikanischen Fernsehleuten verhängte Zensur behindert war, sahen ein gewaltiges Blutbad. In den vier Wochen des amerikanischen Feldzugs wurden mehr als 3 000 irakische Zivilisten getötet. Wie ist diese Zahl einzuordnen? Setzt man die Gesamtbevölkerungen in Relation, entsprächen den besagten 3 000 Irakern 36 000 getötete amerikanische Zivilisten. (Zum Vergleich: In den zehn Jahren des Vietnamkriegs starben etwas mehr als 58 000 amerikanische Soldaten.) Heute, zehn Jahre nach dem triumphalen Siegeszug der amerikanischen Invasion und zwei Jahre nach dem ebenso verstohlenen wie schmachvollen Abzug der letzten Soldaten, wütet der Krieg weiter. Im Durchschnitt fallen den erbitterten Kämpfen zwischen Sunniten und Schiiten monatlich fast tausend Menschen zum Opfer. Der kollektive Blutzoll des von Amerikanern vom Zaun gebrochenen Krieges liegt wahrscheinlich irgendwo zwischen 150 000 und 200 000 Irakern, und die Zahl steigt weiter.

Für viele Amerikaner ist Irak heute kaum mehr als ein Alptraum, über den man am besten nicht spricht. Doch seit sich die Debatte in den Vereinigten Staaten dem „Syrien-Dilemma“ nebenan zugewandt hat – und jüngst der Pflicht Amerikas, „für die Interessen aller einzutreten“ und die Beachtung der von Obama gezogenen „roten Linie“ gegen den Einsatz chemischer Waffen dort durchzusetzen –, fällt der dunkle Schatten Iraks auf die Landschaft. Wir erkennen ihn vor allem an einer widerstrebenden amerikanischen Öffentlichkeit, die sich von der bekannten evangelikalisch-exzeptionalistischen Rhetorik merklich unbeeindruckt gezeigt hat, selbst als Obama sich ihrer zur Rechtfertigung dessen bedienen wollte, was sein Außenminister einen „unglaublich kleinen“ Militärschlag gegen Syrien genannt hat. Wir erkennen diesen Schatten aber auch an bestimmten grundlegenden und unvermeidlichen Veränderungen in der Politik der Region.

Vor dem Krieg gab es in Irak keine antiamerikanische islamistisch-dschihadistische Bewegung; heute dagegen wimmelt Irak von Tausenden hochmotivierten islamischen Guerillakämpfern – viele von ihnen Veteranen der von den Vereinigten Staaten aufgelösten irakischen Armee –, die nicht nur gegen die mit amerikanischer Hilfe gebildete schiitische Regierung zu den Waffen gegriffen haben, sondern auch gegen das Regime von Baschar al-Assad westlich von Irak. Vor dem Krieg diente Irak als Rivale und geostrategischer Gegenspieler zur Islamischen Republik Iran, die drei Jahrzehnte lang der Hauptgegner der Vereinigten Staaten im Nahen Osten war; heute ist der „befreite“ Irak ein zuverlässiger Verbündeter Irans, der – gemeinsam mit Rußland – das Assad-Regime am aktivsten unterstützt. Die schiitische Regierung Iraks und ihre sunnitische Opposition stärken zusammen also beide Seiten des syrischen Bürgerkriegs, der durch einen perversen „Bumerangeffekt“ wiederum Irak weiter destabilisiert – all das zum Nachteil der amerikanischen Interessen.

(…)

„In meinen Begegnungen mit politischen Entscheidungsträgern der Vereinigten Staaten“, so der israelische Botschafter gegenüber der New York Times, „höre ich oft ein Geistergespräch. Die Geister Afghanistans und Iraks wetteifern mit den Geistern Ruandas und Kosovos.“ Diese geisterhaften Stimmen beherrschen auch die öffentliche Debatte. Die Geister Iraks und Afghanistans flüstern, daß Kriege anzufangen leichter sei, als sie zu beenden, daß mörderische Diktatoren häufiger das Produkt politischer Dysfunktionalität seien als ihre Ursache, daß es einfacher sei, eine alte Ordnung mit Bomben und Panzern zu zerstören, als an ihrer Stelle eine neue, dauerhafte zu errichten.

(…)

Der letzte Diktator, der Chemiewaffen eingesetzt hatte, war schließlich Saddam Hussein gewesen, der im Irak-Iran-Krieg Ende der achtziger Jahre mit Chemiewaffen gefüllte Artilleriegranaten auf iranische human-wave-Angreifer hatte abfeuern lassen und im Zuge der berüchtigten „Anfal-Operation“ die rebellischen Kurden im Norden seines Landes mit chemischen Kampfstoffen bombardieren ließ, wodurch Tausende ums Leben kamen. In beiden Fällen hatten politische Entscheidungsträger Amerikas, weit entfernt, „der Welt klarzumachen“, daß das Land den Einsatz von Chemiewaffen nicht tolerieren würde, Saddam im Gegenteil geholfen, indem sie grünes Licht für Lieferungen der notwendigen chemischen Grundstoffe an Irak gegeben und später wichtige Erkenntnisse satellitengestützter Aufklärung zur Verfügung gestellt hatten, mit denen die Iraker die Waffen gezielter einsetzen konnten. (Diese aktive Unterstützung durch Offizielle der Reagan-Administration hinderte viele von ihnen nicht, als Mitglieder von George W. Bushs Administration zwölf Jahre später zu erklären, Saddams „Einsatz von Chemiewaffen gegen das eigene Volk“ sei einer der zwingenden Gründe, weshalb die Vereinigten Staaten einen Krieg zu seiner Entmachtung führen müßten.)

(…)

Syrien und Jemen sind natürlich äußerst verschieden, und angesichts der gegenwärtigen Verrohung und Verbitterung in Syrien mag der Vergleich bestenfalls utopisch erscheinen. Damit die ersten Schritte auf dem Weg zu einer Vereinbarung wie der in Jemen getroffenen gegangen werden könnten – oder zu einer solchen, die vorsähe, daß Assad Syrien mit eingeschränkter politischer Macht weiterregierte –, wäre von den Amerikanern und den Russen, aber auch von den Iranern, den Saudis und den anderen Playern der Region, die den Krieg anheizen, echte Bereitschaft zur Diplomatie gefordert, und das heißt der Verzicht auf den Traum vom Sieg auf dem Schlachtfeld.

Eine solche Vereinbarung – oder überhaupt irgendein diplomatisches Ergebnis – scheint heute schwer vorstellbar. Die harten Realitäten Syriens und die Erblast einer eifernden, verfehlten amerikanischen Politik in Irak sind schuld daran, daß die Alternative wahrscheinlicher ist: fortdauernder, immer grausamerer Krieg und am Ende, vielleicht erst in vielen Jahren, eine Rechnung, die „der kalten Logik von Massengräbern“ folgt.
 

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