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Inhaltsverzeichnis

LI 113, Sommer 2016

Klimapioniere

Kropotkin, Mars, Asien – Von Eiszeiten, Wassermangel und Wüstenzonen

Der anthropogene Klimawandel wird oft als eine Entdeckung der jüngsten Zeit dargestellt. Deren Vorgeschichte reicht demnach nicht weiter zurück als bis zu Charles Keeling, der in den 1960er Jahren auf seiner Forschungsstation in Gipfelnähe des Mauna Loa Proben atmosphärischer Gase einsammelte, oder höchstens noch bis zu Svante Arrhenius und seinem berühmten Aufsatz über den Einfluß des Kohlendioxids in der Luft auf die Bodentemperatur aus dem Jahr 1896. Tatsächlich wurden die abträglichen Folgen des Wirtschaftswachstums für das Klima und insbesondere die Auswirkung von Entwaldung und Feldbau auf den Feuchtigkeitsgehalt der Atmosphäre seit der Aufklärung und bis ins späte 19. Jahrhundert immer wieder festgestellt und häufig auch übertrieben. Während aber die Wissenschaft im viktorianisch-wilhelminisch-napoleonischen Historismus den Einfluß des Menschen auf das Klima durch Rodungen oder industrielle Verschmutzung weithin anerkannte und sich in einigen Fällen geradezu als nahendes Jüngstes Gericht der Großstädte ausmalte (so John Ruskin in seiner halluzinatorischen Tirade The Storm Cloud of the Nineteenth Century), erkannte in einer Ironie der Geschichte kaum einer der bedeutenden Denker ein Muster klimatischer Schwankungen in der Antike, im Mittelalter oder in der frühen Neuzeit. Der von James Hutton geprägte, von Charles Lyell verbreitete und von Darwin in der Entstehung der Arten kanonisierte Aktualismus verdrängte den früheren biblischen Katastrophismus durch die Vorstellung tiefenzeitlich langsamer, geologischer und ökologischer Evolution. Trotz der Entdeckung der Eiszeit(en) durch den Schweizer Geologen Louis Agassiz Ende der 1830er Jahre wandte sich das zeitgenössische wissenschaftliche Vorurteil gegen ökologische Umwälzungen im Zeitraum der Menschheitsgeschichte. Wie die Evolution bemaß sich der Klimawandel demnach in Äonen, nicht in Jahrhunderten.

Merkwürdigerweise mußte erst eine angeblich aussterbende Hochkultur auf dem Mars „entdeckt“ werden, um Interesse an einem Gedanken zu wecken, den der anarchistische Geograph Pjotr Kropotkin in den 1870er Jahren als erster aufgebracht hatte: daß die 14.000 Jahre seit dem letzteiszeitlichen Maximum eine Epoche anhaltender, katastrophischer Austrocknung der Kontinentalgebiete seien. Diese Theorie – man könnte sie die „alte klimatische Deutung der Geschichte“ nennen – war zu Beginn des 20. Jahrhunderts äußerst einflußreich, verlor aber in den 1940er Jahren mit dem Aufkommen der dynamischen Meteorologie und deren Unterstellung eines sich selbst justierenden physikalischen Gleichgewichts rasch an Bedeutung. Was viele voller Begeisterung für den Schlüssel zur Weltgeschichte gehalten hatten, war bald ebensoschnell verloren wie gefunden, und der Ruf seiner Entdecker genauso gründlich ruiniert wie der manch eines angesehenen Astronomen, der auf dem Roten Planeten Kanäle ausgemacht (und in einigen Fällen angeblich sogar photographiert) hatte. Zwar waren an dieser Auseinandersetzung hauptsächlich deutsche und englischsprachige Geographen und Orientalisten beteiligt. Doch die ursprüngliche These – von der Austrocknung seit der letzten Eiszeit als Triebkraft der eurasischen Geschichte – entsprang der inoffiziellen École des Hautes Études im Zarentum: der berüchtigten Peter-und-Paul-Festung in St. Petersburg, wo der junge Fürst Pjotr Kropotkin neben anderen berühmten russischen Geistesgrößen als politischer Häftling einsaß.

Die Erforschung Sibiriens

Dieser ruhmreiche Anarchist war auch ein herausragender Naturwissenschaftler, physischer Geograph und Forschungsreisender. 1862 verbannte er sich aus freien Stücken selbst nach Ostsibirien, um der erstickenden Enge des Höflingsdaseins an einem zunehmend reaktionären kaiserlichen Hof zu entgehen: Als Zar Alexander II. ihm einen Dienst in einem Regiment seiner Wahl anbot, entschied sich Kropotkin für eine neue Kosakeneinheit im fernen Transbaikalien, wo seine Bildung, Schneid und Zähigkeit ihn bald empfahlen für die Leitung einer Reihe von Expeditionen, die wissenschaftlichen Zwecken ebenso dienten wie der kaiserlichen Spionage. Diese Erkundungen führten in ein riesiges, kurz zuvor vom Russischen Reich annektiertes und noch unerforschtes Dickicht von Bergen und wilder Taiga. Sowohl hinsichtlich der körperlichen Strapazen als auch, was die wissenschaftliche Leistung angeht, sind Kropotkins Erkundungen des unteren Amurtals bis ins Kernland der Mandschurei, gefolgt von seiner äußerst wagemutigen Erforschung der „riesigen und menschenleeren Bergregion zwischen der Lena in Nordsibirien und dem Oberlauf des Amur bei Tschita“, vergleichbar mit der Großen Nordischen Expedition von Vitus Bering im 18. Jahrhundert oder den fast zeitgleichen Erforschungen des Colorado Plateau durch John Wesley Powell und Clarence King. Nach einer Reise von mehreren tausend Kilometern durch meist unzugängliches Gebiet konnte Kropotkin zeigen, daß die Orographie Nordostasiens erheblich anders aussieht als noch in der Vorstellung Alexander von Humboldts und seiner Nachfolger. Als erster wies Kropotkin auch nach, daß dieses Tafelland ein „grundlegender und eigenständiger Typus des Erdreliefs“ und „so weitläufig wie ein Gebirgszug“ ist. 

In Sibirien stieß Kropotkin auch auf ein Rätsel, das er später in Skandinavien zu lösen versuchte. Auf seinem heldenhaften Treck über das Bergland zwischen der Lena und dem oberen Amur entdeckte sein Begleiter Poliakow, ein Zoologe, „altsteinzeitliche Relikte in den ausgetrockneten Betten geschrumpfter Seen, und noch weitere, ähnliche Beobachtungen wiesen auf eine Austrocknung Asiens hin.“ Das stimmte mit Berichten anderer Forschungsreisender aus Zentralasien – insbesondere aus der kaspischen Steppe und dem Tarimbecken – überein, die in Wüsten und ausgetrockneten, einst großflächige Senken füllenden Seen die Ruinen von Städten gefunden hatten.

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Klima und Geschichte

Es handelte sich um den ersten wissenschaftlichen Versuch, den natürlichen Klimawandel entschieden als treibende Kraft der Menschheitsgeschichte darzustellen.

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Cleveland Abbe, der bedeutendste amerikanische Meteorologe des ausgehenden 19. Jahrhunderts, brachte den Konsens der Rational-climatology-Schule auf den Punkt: „Große Veränderungen fanden in geologischen, vielleicht 50 000 Jahre zurückliegenden Zeitaltern statt“, schrieb er 1899, „aber bisher sind keine bedeutenden Klimaschwankungen seit dem Beginn der Menschheitsgeschichte nachgewiesen worden.“

Vermutete Austrocknung in Asien und auf dem Mars

Kropotkin stellte diese Orthodoxie radikal in Frage, als er eine kontinuierliche weltweite Klimadynamik vom Ende der Eiszeit bis zur Neuzeit annahm. Anders als die ersten Meteorologen geglaubt hatten, war das Klima nach Kropotkin keineswegs gleichförmig, sondern es veränderte sich anhaltend und ohne menschliches Zutun in eine einzige Richtung. 1904 – zum dreißigsten Jahrestag seiner ersten Präsentation dieser Theorie vor russischen Geographen, in einer Zeit großer öffentlicher Anteilnahme an den Expeditionen des schwedischen Geographen Sven Hedin und des amerikanischen Geologen Raphael Pumpelly in Zentralasien – lud die Londoner Royal Geographical Society Kropotkin ein, seine aktuelle Sicht der Dinge zu erörtern.

In seinem Aufsatz behauptete Kropotkin, jüngste Forschungsreisen wie die Sven Hedins hätten seine Theorie der raschen Austrocknung seit dem Ende der Eiszeit vollkommen bestätigt und bewiesen, daß sich „die Ränder der Wüsten von Jahr zu Jahr weiter ausdehnen“. Auf Basis dieser unaufhaltsamen Entwicklung vom Eisschild über die Seenlandschaft zur Steppe und zur Wüste unterbreitete er eine bemerkenswerte neue Theorie der Weltgeschichte. Danach waren Ostturkestan und das Kernland der Mongolei einst wasserreich und „kulturell fortgeschritten“

„All das ist nun verschwunden, und es muß die schnelle Austrocknung dieser Gebiete gewesen sein, die ihre Einwohner nötigte, hinunter zur Dsungarischen Pforte, ins Tiefland von Balqasch und Obi zu wandern und dabei die Einwohner der Niederungen vor sich herzutreiben, was die großen Einfälle und Völkerwanderungen in Europa während der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung bewirkt hat.“

Es handelte sich auch keineswegs um eine zyklische Fluktuation: Die fortschreitende Austrocknung, so betonte Kropotkin, „ist eine geologische Tatsache“. Die lakustrische Periode (das Holozän) müsse man sich als eine Epoche immer weiter um sich greifender Dürren vorstellen. Wie er schon fünf Jahre zuvor geschrieben hatte, „befinden wir uns heute vollends in einer Periode rascher Austrocknung, die mit der Bildung von Trockenwiesen und Steppen einhergeht. Der Mensch muß Mittel und Wege finden, dieser Austrocknung, der Mittelasien bereits zum Opfer gefallen ist und die nun Südosteuropa bedroht, Einhalt zu gebieten.“ Nur heroisches und weltweit koordiniertes Handeln – die Anpflanzung von Millionen Bäumen und das Graben Tausender artesischer Brunnen – könnte die weitere Desertifikation aufhalten. Kropotkins Hypothese eines natürlichen, fortschreitenden Klimawandels wurde unterschiedlich aufgenommen: In Kontinentaleuropa war man skeptischer als in der englischsprachigen Welt oder unter Wissenschaftlern, die in Wüstengegenden arbeiteten. In Rußland, wo Kropotkin wegen seiner Beiträge zur physischen Geographie bekannt war, herrschte auch infolge der großen Hungersnot von 1891-92 großes Interesse an der Frage, ob die Dürre in der Schwarzerdesteppe, mithin an der neuen Kulturgrenze zwischen Weizenanbau und Wildnis, als eine Folge der Urbarmachung oder als Omen einer schleichenden Desertifikation zu verstehen war. Am Ende fanden die beiden international führenden Autoritäten in dieser Frage – Alexander Wojeikow, ein Vorreiter der modernen Klimawissenschaften und seit den frühen 1870er Jahren auch Kollege von Kropotkin in der Geographischen Gesellschaft, und Wassili Dokutschajew, berühmt als der „Vater der Bodenkunde“ –, weder die eine noch die andere Vermutung bestätigt. Nach ihrer Ansicht hatte sich das Steppenklima seit Beginn der Menschheitsgeschichte nicht verändert, wenngleich die Abfolge regenreicher und trockener Jahre eventuell zyklisches Verhalten aufwies. 

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In der Nachkriegszeit bildete sich zudem unter den Klimatologen „ein neuer wissenschaftlicher Konsens“ heraus, wonach „das Weltklimasystem machtvolle Ausgleichsprozesse beinhaltete, die für Resilienz gegenüber den Jahrhundertschwankungen des Klimas sorgten“. Unterdessen blieben die Archive der Natur im tiefen Eurasien mit ihren Geheimnissen der Klimageschichte für Forscher unerreichbar: Die einzigen Westler, die während des Kalten Krieges das Tarimbecken aufsuchten, waren CIA-Agenten (ihr Ziel war das chinesische Atomwaffentestgelände Lop Nor). Erst 2010/11, mehr als ein Jahrhundert nach den umstrittenen Expeditionen von Stein, Hedin und Huntington, führte ein interdisziplinäres Team chinesischer, amerikanischer, Schweizer und australischer Wissenschaftler eine Felduntersuchung im Tarimbecken durch. Die Forscher erstellten hydrologische Modelle ausgehend von Relikten und entnahmen Proben aus potentiellen Klimaarchiven wie den Sedimenten des heute verschwundenen Lop-Nor-Sees oder den unter Sanddünen begrabenen Baumleichen.

Ihre Ergebnisse wurden Anfang dieses Jahres veröffentlicht. Danach ist die Austrocknung eine moderne Erscheinung und kein uralter Fluch: „Das Tarimbecken war mindestens von 1180 n. Chr. bis Mitte des 19. Jahrhunderts kontinuierlich feuchter als heute.“ Das stimmt im wesentlichen mit den Parametern der Kleinen Eiszeit überein. Die Forscher führen das größere Wasseraufkommen in diesem Zeitraum auf eine südliche Verlagerung von Nordwestwinden zurück, die im gebirgigen Einzugsgebiet des Tarim und seiner Zuflüsse vermehrt für Schneefälle sorgten. Es war also ein „Grünen der Wüste“, nicht ihre unerbittliche Ausweitung, das die Geschichte des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit maßgeblich prägte.

„Wir vermuten, daß die stärkere Durchnässung des mittelasiatischen Wüstenkorridors eine Verlagerung der Winterweiden in Richtung Süden auslöste und daß dies ein wesentlicher Antrieb der mongolischen Eroberungen in allen eurasischen Wüsten zu Pferde war. Zudem könnten feuchtere asiatische Wüsten als heute zur Verbreitung der Weidewirtschaft vom mongolischen Kernland aus beigetragen und so die kulturellen und wirtschaftlichen Affinitäten zwischen Mongolen und turksprachigen Völkern an den Rändern der Steppe befördert haben.“

Erst seit dem späten 19. Jahrhundert hat die fortschreitende Erwärmung des asiatischen Kernlands insgesamt eine Austrocknung bewirkt, die Forscher für den möglichen Vorboten einer künftigen Ausdehnung der Wüsten in nördliche Richtung halten. Auch andere Klimawissenschaftler äußern die Sorge, daß sich die Niederschlagsregime im westlichen Asien grundlegend ändern könnten. Eine Forschergruppe am Lamont-Doherty-Earth-Observatory der Columbia University, die Mega-Dürren der Gegenwart und Geschichte untersucht, warnte vor kurzem in einem Aufsatz, daß die katastrophale Dürre in Syrien von 2007 bis 2010, die schlimmste seit Beginn der Aufzeichnungen, zugleich Hauptauslöser der sozialen Unruhen im Land, wahrscheinlich Teil eines „langfristigen Trends zur Austrocknung“ sei und im Zusammenhang mit den zunehmenden Treibhausgasemissionen stehe. 

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024