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Cover Lettre International, Konstantino Dregos
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LI 113, Sommer 2016

Die Stimmen der Toten

Ein Gespräch über Bob Dylan, Mythen und Mysterienspiele

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Heinrich Detering: Dylan hat in den letzten 15 Jahren ein bestimmtes Ethos entwickelt oder weiterentwickelt, das ihn seit seinen Anfängen mitbestimmt hat: daß es seine, auch seine, Aufgabe sei, die Stimmen der Toten und Vergessenen zu Gehör zu bringen. Man muß sich nur Dylans sehr vergnügliche Radioshow Theme Time Radio Hour anhören, die von 2006 bis 2009 im Internet gelaufen ist. Darin hat er bekannte und sehr abgelegene Songs der endlosen amerikanischen Traditionen gespielt, aber auch Literarisches vorgelesen, rezitiert, variiert, und dazwischen alte Werbespots aus dem Radio eingeblendet, für Produkte, die es gar nicht mehr gibt.

Ulrich Rüdenauer: Es geht um Bewahrung, um Erinnerung.

Dylan wolle, sagte er einmal, diesem oder jenem Poeten, einem Gospelsänger oder einem vergessenen Blues-Mann aus dem Süden „seinen Moment in der Sonne“ geben. Es wäre zu schade, wenn diese eine Aufnahme, die dieser Musiker vor vierzig, fünfzig Jahren mal gemacht hat, vergessen bliebe. Gleichzeitig aber scheint er noch ein ehrgeizigeres Programm zu verfolgen: mit den verschiedenen Stimmen menschliche Grunderfahrungen wie Angst, Hoffnung, Verlorenheit, Todesfurcht oder -verlangen hörbar, erlebbar zu machen. Die Sinatra-Songs singe er nicht aus Nostalgie nach, hat er geschrieben, sondern weil sie „Variationen menschlicher Sehnsucht“ darstellten. 

Die findet Dylan auch bei dem immer wieder in seinen Songs auftauchenden Shakespeare.

Im vorigen Jahr hat er zweimal ausführlich über sein Verhältnis zu Shakespeare gesprochen. Das hat mit Bildungshuberei nichts, mit Liebe aber sehr viel zu tun. Dylan bekennt sich als Sänger zu einer literarischen Welt, in der er wiedererkennt, was ihn in seiner amerikanischen Gegenwart bedrückt. Genauso verhält es sich mit der Literatur der Antike, wie Altphilologen und neugierige Blogger herausgefunden haben. Konstellationen, die er in der Dichtung vor allem des Augusteischen Zeitalters, der römischen Kaiserzeit – bei Ovid, Juvenal oder auch bei Vergil –, wiederfindet, überblendet Dylan umstandslos mit amerikanischen Erfahrungen des 20. und 21. Jahrhunderts. Es funktioniert sehr gut.

Dylan scheint dabei weniger als Poeta doctus aufzutreten. Ist er symbiotisch mit diesen früheren Dichtern und Sängern verbunden? Mir ist ein Zitat von Hugo von Hofmannsthal in den Sinn gekommen: „Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit.“ Das ist eine Erfahrung, die im Zeitgenossen Dylan ganz plastisch wird. Er empfindet dies nicht als Mangel oder etwas, das ihn in seinem eigenen Schöpferehrgeiz behindern würde, sondern als natürliche Grundbedingung des Schreibens.

Ich glaube auch, daß Dylan kein Poeta doctus ist, sondern ein belesener Songpoet. Der Unterschied ist, daß Dylan sich nicht systematisch bestimmte literarische oder kulturgeschichtliche Bereiche aneignet und dann mit verstecktem Augenzwinkern in seine Songs einarbeitet. Es ist ihm egal, ob man in Roll on John die Odyssee wiedererkennt oder in einem Album wie Love and Theft den Südstaatenpoeten Henry Timrod aufspürt. Aus seinem Mund kommen immer auch die Stimmen der Toten. Stimmen, die er kennt oder nicht, deren er sich im Augenblick des Sprechens oder Singens bewußt oder nicht bewußt ist. Wichtig ist nur, wie der Song hier und jetzt funktioniert. Diese Vorstellung wird in den letzten 15 Jahren reflektierter, Dylan hat anscheinend eine Art System daraus gemacht. Ich zitiere in meinem Buch Die Stimmen aus der Unterwelt das noch immer unglaubliche Wort des alten Goethe, wenige Wochen vor seinem Tod, sein Werk sei das „eines Kollektivwesens“, und es trage nur den Namen Goethe. Das ist dieselbe Grundidee.

(…)

Das Radio hat in den letzten Jahrzehnten immens an Bedeutung verloren, und Dylan ist zu einem Historiker dieser Radio Days geworden. Möglicherweise empfindet er sich als letzter Mohikaner, der noch einmal in seinen miteinander verwobenen Songs, Radiosendungen, Filmen, Bildern darauf hinweisen möchte, woher all das kommt, worauf man sich berufen muß. Ist es nicht doch ein Rückzugsgefecht, in das sich Dylan da mit aller Kraft geworfen hat?

Von außen betrachtet vielleicht. Dylan würde es wahrscheinlich sehr viel offensiver und optimistischer sehen. Aber in der Medienwelt ist Dylan eine programmatisch konservative Gestalt. In seinem großartig konzipierten, wenn auch in der Inszenierung mißglückten Film Masked and Anonymous gibt es in einer Welt voller unheiliger Entstellungen und Perversionen einen einzigen sakralen Gegenstand, der von einem an den anderen weitergereicht wird, und das ist die Gitarre von Blind Lemon Jefferson. Im Film sagt jemand: „Die Gitarre, mit der alles anfing.“ Eine Mythisierung – Blind Lemon hat den Blues nicht erfunden, aber er gehört zu seinen Pionieren. Und dieses einfache, ramponierte Instrument ist ein materielles Zeugnis der medialen Anfänge, ihre Reliquie. Wenn man hört, wie Dylan seine Sinatra-Alben Shadows in the Night und Fallen Angels aufgenommen hat, dann hat man den Eindruck, daß er im Studio gewissermaßen gegen das Studio arbeitet. Er verwendet viel Zeit und Disziplin darauf, Aufnahmebedingungen der fünfziger Jahre zu imitieren. Mikrophone sollen nicht zu sehen sein, bis auf eines in der Mitte, um das alle Musiker sich scharen, und im Studio herrscht idealerweise eine kreative Atmosphäre, in der aus einem spontanen Zusammenspiel etwas Einmaliges entsteht – nichts, was noch overdubbed und remixed, ergänzt oder korrigiert wird. Das hat Dylan seit den neunziger Jahren systematisiert. Bei ihm war immer schon diese paradoxe Ambivalenz zu beobachten, im Studio gegen die moderne Technik anzugehen. Zwei Selbstkommentare kommen mir in den Sinn. Einer stammt aus dem Begleitessay zu World Gone Wrong von 1993, ein sehr pathetischer Satz: „Mit der modernen Technologie kann man die Wahrheit zum Verschwinden bringen.“ Er meint damit so etwas wie Wahrhaftigkeit, Authentizität, Spontaneität. Das sind sehr altmodische, romantische Vorstellungen. Und mit Blick auf Produzenten wie Quincy Jones sagte er in seiner Radioshow: „Heute kann man Songs mit 300 Tonspuren aufnehmen. Es wäre wunderbar, nur drei davon zu benutzen.“

Diese Selbstbeschränkung klingt, als wolle einer die alte Liturgie wiedereinführen, die Zeit zurückdrehen. Bei seinen Konzerten ist das offenkundig: eine um den Leader versammelte Band, kein Schnickschnack, keine Licht- oder sonstige Show, nur der Sänger und der Song. 

Im letzten Jahr versuchte er, die Bühnensituation so zu stilisieren, als befände man sich in einem verräucherten, intimen Jazzclub der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit heruntergedimmten Lampen, kaum Bewegung auf der Bühne und einer kammermusikalischen Art der Inszenierung. Das ist schrullig und souverän.

Dylan galt in den sechziger Jahren als Repräsentant der Gegenkultur wenngleich er sich selbst gegen diese Vereinnahmungsversuche immer wieder durch verschiedenste artistische Ausweichbewegungen zur Wehr gesetzt hat. Lebt aber in dieser von Ihnen beschriebenen konservativen, trotzigen, vielleicht auch nostalgischen Haltung ein letzter Rest jener Utopie, die von der Undergroundkultur einstmals entworfen wurde? Oder ist dieser Verzicht auf die uneingeschränkte Anpassung an die Musikindustrie – wenn man es denn angesichts der wohldurchdachten Veröffentlichungspolitik Dylans überhaupt so nennen kann – einfach ein Wesenszug des Künstlers?

Eine counter culture im landläufigen Sinne des Wortes hat es ja eigentlich nur während einer relativ kurzen Zeitspanne der 1950er und 1960er Jahre gegeben. Und selbst da wurde Dylan, obwohl er doch zweifellos eine ihrer auffallendsten und aufregendsten Figuren war, fuchsteufelswild, wenn man ihn auf die Rolle des spokesman, des Repräsentanten festlegen wollte. So offensichtlich er mit Songs wie Ballad of a Thin Man die muffige Sexualmoral, mit Subterranean Homesick Blues (der den Underground ja schon im Titel trägt) die politischen Alltagsrepressionen, mit It’s All Right Ma die Kommerzialisierung und Enge der Konsumwelt verhöhnte, so resolut wandte er sich von seinen eigenen Followern ab, sobald sie ihn zum Bannerträger machen wollten. Als ausgerechnet er inmitten der Psychedelic-Welle ein musikalisch und lyrisch so asketisches, obendrein Country-nahes, wenn man will, konservatives Album wie John Wesley Harding machte, war das auch ein Akt der Selbstverteidigung, eine persönliche Unabhängigkeitserklärung. Und das ging weiter: Mit Self Portrait inszenierte er sich 1970 selbst als Musikclown des Mainstreams, verweigerte gleich vom ersten Song an alle „Originalität“, sang schmachtend Blue Moon und textete einen kompletten Song nur mit „la-da-da-di-da“. Da war auf einmal die Musikindustrie selber zu seinem Zufluchtsort geworden, zur Rettung vor einem neuen Kommerz, diesmal der eigenen counter culture. Das war vorübergehend, wie jede seiner Stationen, aber es rettete ihn vor den falschen Freunden. „To live outside the law you must be honest“, hat er damals als Grundsatz formuliert.

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