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Cover Lettre International 99, Franz Erhard Walter
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LI 99, Winter 2012

Wagner in Russland

Meyerhold, Eisenstein und Bulgakow begegnen dem Gesamtkunstwerk

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Schon wenige Jahre nach den Erstaufführungen in ihren Heimatländern sind Opern wie Die Zauberflöte, Don Giovanni, Der Freischütz, Der Barbier von Sevilla, Robert der Teufel, Die Macht des Schicksals usw. in Petersburg oder Moskau zu hören und zu sehen. Ähnliches gilt für Mozarts Requiem, für Haydns Schöpfung und die Sinfonien Beethovens. Virtuosen wie Franz Liszt, Clara Schumann und Adolph Henselt sind gefeierte Gäste. Nicht zu vergessen, daß dem Beethoven-Verehrer Fürst Galitzin und der Petersburger Philharmonischen Gesellschaft, die sich inzwischen für Wagner einsetzt, das Verdienst zukommt, im Frühjahr 1824 für die weltweit erste Aufführung von Beethovens Missa Solemnis gesorgt zu haben. Auch an dieses Ereignis knüpft Wagner an, als er auf seine Petersburger und Moskauer Programme nicht nur Ouvertüren und Ausschnitte aus seinen eigenen Bühnenwerken setzt, sondern – unter anderem mit der Eroica und der Fünften – auch zwei prominente Sinfonien von Beethoven dirigiert.

Mit den Konzerten des Jahres 1863 ist der Bann gebrochen – bis zum Ende des Jahrhunderts werden russische Erstaufführungen von zahlreichen Bühnenwerken Wagners stattfinden: 1868 Lohengrin, 1874 Tannhäuser, 1879 Rienzi, 1899 Tristan und Isolde (jeweils im Mariinski-Theater, Petersburg), 1894 Siegfried, 1895 Der fliegende Holländer in italienischer Sprache (jeweils im Bolschoi-Theater, Moskau). Bis 1914 erlebt Lohengrin allein in Petersburg 135 Aufführungen; Tannhäuser bringt es sogar auf 137.

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Neben der Bewunderung für Wagners kompositorische Zauberkunst ist es vor allem die Affinität seines Werks zum Symbolismus, die ihn für russische Künstler attraktiv macht. Insbesondere die Philosophie der jüngeren unter den russischen Symbolisten ist von religiösen und mystischen Ideen geprägt, wie sie im Werk Wagners reichlich zu finden sind. Man versteht Wagners Botschaft als Gegengewicht zu den Strömungen von Naturalismus und Materialismus, die der Kunst die Transzendenz ausgetrieben haben. Wagners Vorstellung vom „Gesamtkunstwerk“ begreift man als Versuch, in einer zersplitternden und in sich zerstrittenen Zeit ein Bollwerk des Heiligen aufzurichten. Und seine revolutionäre Schrift Das Kunstwerk der Zukunft, die in den Jahren 1897/98 in der Russkaja musykalnaja gaseta („Russische Musikzeitung“) in Übersetzung erscheint, rezipiert man als unverändert gültige Vision, fähig, die Kluft zwischen Volk und Intelligenz via spektakulärer Gesamtkunst zu schließen: das Theater als ein Volkstempel der Mysterien. Während in der französischen Wagner-Rezeption dieser Zeit des Fin de siècle Momente von Dekadenz und Untergangsstimmung vorherrschen, feiert der russische Symbolismus Wagners Werk als „Zukunftsmusik“.

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Als am 19. Juli 1920 in Anwesenheit von Lenin und Gorki eine Zeremonie am Denkmal für die Opfer der Februarrevolution auf dem Petrograder Marsfeld stattfindet, spielen 500 Musiker, begleitet von Kanonendonner, den „Trauermarsch“ aus der Götterdämmerung. „Hat denn“, so fragt damals ein Presseberichterstatter, „jemals der geniale Richard Wagner geglaubt, daß seine Musik das weite Feld der Opfer der Revolution überdecken wird? (…) Diese Musik scheint wie für diesen Moment geschaffen. In ihr ist die Trauer des Verlustes, die Todestrauer enthalten, in ihr ist die Freude des Gewinns, die Lebensfreude enthalten.“ Auch im Februar 1924 erklingt Wagners „Trauermarsch“ in großer Besetzung – diesmal anläßlich der Trauerfeier für Lenin.

In der gleichen Zeit gibt es fortschrittliche Initiativen nach dem Motto „Klein, aber fein“ – vor allem seitens der 1923 bis 1930 existierenden Leningrader Gesellschaft der Wagnerkunst. Deren Ziel ist eine Inszenierung des Rings in „vollendeter, hochkünstlerischer Form“, welche Wagner den Massen in praktikabler, halbszenischer Form nahebringen soll – mittels mobiler Aufführungen mit originären Arrangements für zwei Klaviere. Das von Einführungsvorträgen begleitete Unternehmen, das es allerdings nur zu Rheingold und Walküre bringt, wird mit vielerlei Lob bedacht. Einwänden, man könne Wagner nicht ohne Orchester aufführen, entgegnet Konstantin Chmelnizki, der mit dem Segen Cosima und Siegfried Wagners tätige Spiritus rector der Unternehmung, seine Aufführungen seien lediglich als Vorlauf zu größeren Aktivitäten gedacht. Nicht gerade beliebt macht sich Chmelnizki, als er auf die Frage, wie Wagner mit den Anschauungen des Marxismus-Leninismus vereinbar sei, die naive Antwort gibt: „Auf Wagner ist der Marxismus nicht anwendbar.“

 

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