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Cover Lettre International, Stanislas Guigui
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LI 105, Sommer 2014

Der Mond

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Daß der Mond etwas Totes, „Leeres“, Unheimliches ist, ist den alten Zeiten unvertraut. Da ist er eine kühl-liebliche Göttin oder eine der sieben gravitätisch-schicksalhaften Figuren des großen Planetenballetts, mit eher positiven Folgen für die Nativität – die mit ihm in einem relevanten kosmischen Haus Geborenen sind je nach Tierkreiszeichen sensibel-labil, stimmungsaffin, musikalisch, sinnlich … Das Mütterliche spielt hier eine große Rolle, der Mond ist voller emotionaler Energie. Erst mit dem Fortschreiten der wissenschaftlichen Forschung wird das – einem sensiblen Blick bis zum Grauenhaften gesteigerte – Leblose des Himmelskörpers evident. Von da an ist das leichenhaft Fahle, das beunruhigend Stumme des Mondes das andere große Register neben seinem schimmernd Erotischen – das Totenhafte widerspricht dem Eros (oder vermählt sich sinister mit ihm). Selten ist das spukhaft Graue und Tote des Mondes so schön beschworen worden wie in einem lange Zeit klassischen, nun wohl langsam dem Vergessen anheimfallenden deutschen Kinderbuch: Peterchens Mondfahrt von Gerdt von Bassewitz.

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Der Mond ist das uralte Signum des ewig gleichen Wandels, der unsere Zeit bestimmt, intimer als der Sonnenlauf des Jahres, gültiger als die Drehung der Erdachse mit Tag und Nacht. Ehe der Mensch die Schrift erfindet und rechnen lernt, sieht er dieses Zeichen am Himmel stehen und versucht es zu deuten.

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Denkt man über die Mondgeschichten nach, die man einmal gehört oder gelesen hat, ist es verwirrend, daß in diesen Erzählungen häufig eine Axt auftaucht. Der Freiherr von Münchhausen, in türkischer Kriegsgefangenschaft versklavt, schleudert seine Axt einmal so schwungvoll nach zwei (den ihm anvertrauten Bienen des Sultans nachstellenden) Räubern, daß sie bis in den Mond fliegt, und so muß er – gewiß ein Echo des englischen Märchens Jack and the Beanstalk – eine jener „türkischen Bohnen“ pflanzen, die „sehr geschwind und zu einer ganz erstaunlichen Höhe“ emporwachsen. Er klettert hinauf: „Es war ein ziemlich mühseliges Stückchen Arbeit, meine silberne Axt an einem Orte wiederzufinden, wo alle anderen Dinge gleichfalls wie Silber glänzten.“ Als er ein anderes Mal auf den Mond gerät, lernt er dessen Bewohner kennen, die sich wie Vegetabilien vermehren. „Die Freuden der Liebe sind im Monde gänzlich unbekannt … Alles wächst auf Bäumen.“ So haben wir die Axt und die Bäume im Mond wieder zusammen.

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Der Mond tritt uns am Nachthimmel meist, so herum oder so herum, als Sichel oder als halbgelutschtes Bonbon entgegen, doch für die Bildwahrnehmung ist für uns seit den Kinderbüchern der große runde Zirkel dominant, der pralle, gelbe Mond. Daß die leuchtende Scheibe eines Himmelskörpers als riesiger Hintern aufgefaßt wird, ist seit Arno Schmidts grandios überdrehter Karl-May-Interpretation in Sitara und der Weg dorthin ein vertrauter Topos, doch ist Schmidt keineswegs der Erfinder dieser Phantasie. Die Gleichung Arsch = Mond ist tief im Volkswitz und in der Volkssprache verankert. Der lange Zeit unter amerikanischen Studenten verbreitete Brauch, Passanten (vorzugsweise aus dem dahinrasenden, überfüllten Auto heraus) den nackten Hintern zu zeigen, wird mit dem Verbum to moon (somebody) bezeichnet.

In Frankreich kann man ins 19. Jahrhundert zurückgehen, man findet dort bei einem seinerzeit vielbeschäftigten, nicht unoriginellen Chansonlieferanten in einem Liedchen über die kleinen Kinder, die einem im Park auf die Nerven gehen, unter anderen die Zeilen: „Comme autrefois dans l’pays grec, / Aux passants ils montrent la lune, / Et même l’télescope avec, / Sans rétribution aucune.“ (Léon Xanrof, Les Enfants, in: Chansons à rire, 1892) Etwa: „Wie einst im Griechenlande / zeigen sie den Vorbeikommenden den Mond / und sogar noch dazu das Teleskop – / ohne irgendeine Strafe.“ Die Vorstellung, daß sich bei den frech-unschuldigen kleinen Jungs der Arsch-Mond zeigt und das Schwänzchen-Teleskop gleich dazu, ist von herrlicher komischer Plausibilität, doch schon vor der Erfindung des Fernrohrs war die metaphorische Nachbarschaft von Mond und Hinterteil offenbar eine Selbstverständlichkeit, wie wir an einer unerwarteten Stelle nachlesen können: In einem Spottgedicht der mittelhochdeutschen Literatur, dessen Verfasser einem schlechten Poeten seine Verachtung zeigen möchte, der sich ungehörigerweise mit Herrn Walther von der Vogelweide verglichen hat, heißt es abschätzig: „Ir sît gelîch als ars und mâne.“ Du und Walther, ihr gleicht euch so wie Arsch und Mond. Hier wird die Ähnlichkeit als eine bloß äußerliche und oberflächliche betont; tatsächlich sollen die beiden Rundungen, die beiden Dichter, unvergleichbar sein.

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In dem Lied Lazy Moon wird der Mond seiner Faulheit wegen getadelt und angefleht, endlich zu erscheinen, denn die Liebste hat versprochen, im Mondschein, „when the night is bright and clear“, zum Rendezvous zu kommen. „Lazy moon, lazy moon, / Why don’t you show your face upon the hill? / Lazy moon, lazy moon, / You can make me happy if you will! / Now when my baby sees your face a-peeping, / Then I’m sure her promise she’ll be keeping. / Tell me what’s the matter – are you sleeping, / Lazy moon? Zweimal wird der Mond gebeten, sein Gesicht zu zeigen; er ist eine Art Person, der gütige Kuppler von harmlosen Liebesbegegnungen „in the lane tonight“. Der Charme dieses reizvollen Auftritts liegt darin, daß hier ein – geschwärztes – Mondgesicht den Mond ansingt, der mondrunde Oliver Hardy die Vollmondscheibe.
 

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