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Cover Lettre International, Tobias Rehberger
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LI 98, Herbst 2012

Das gelbe Unterseeboot

Meine kurze, wilde Jugend in der DDR mit Bach und Weill und Beatles

Auszug (3.500 von 20.000 Zeichen)

(…)

 

Im Winter 1966 besuchte ich das Konzert einer noch nicht verbotenen Beatgruppe in Weißenfels. Nachdem sie die obligatorischen sechzig Prozent Osttitel gespielt hatten, ertönte Satisfaction, und der Saal vibrierte. Danach war Schluß, denn Polizei stürmte den Saal und trieb uns mit Schlagstöcken auf die Straße. Vor dem Tanz-schuppen stand eine Kompanie NVA-Soldaten mit vorgehaltenen Kalaschnikows und sorgte dafür, daß niemand entkam. Bei null Grad hielten sie uns stundenlang fest, schrieben unsere Namen und Adressen auf und ließen die Mädchen gehen. Den langhaarigen Jungs wurde mit rostigen Scheren die Mähne abgeschnitten; wer sich wehrte, bekam die Wut der Polizisten zu spüren, die am Samstagabend Kulenkampffs Einer wird gewinnen verpaßten. Ich kam mit ein paar Haarsträhnen weniger noch glimpflich davon, doch ein verdammt gutaussehender Junge mit schwarzem, schulterlangem Haar, den die Mädchen anhimmelten, verlor komplett seine Manneskraft. Ob er, wie Samson, die Säulen eines sozialistischen Tempels zum Einsturz brachte, um sich zu rächen, weiß ich nicht. Sein versteinertes Gesicht, als er mit zerfranster Stoppelfrisur, aber erhobenen Hauptes vom Platz ging, werde ich nie vergessen. Wäre ich damals religiös gewesen, hätte ich geschworen, daß Jesus von Nazareth in Weißenfels unter uns wandelte. Zu Hause habe ich ihn und die Kreuzigung des Abends verleugnet, indem ich schwieg, als meine Mutter mich dafür lobte, daß ich freiwillig beim Friseur gewesen war.


Vielleicht hätte ich mich noch mit den DDR-Kommunisten angefreundet und meinen pubertären Widerspruchsgeist in gehorsame Mitarbeit beim Aufbau des Sozialismus umwandeln können, wenn Weißenfels 1966, Prag 1968, die Armeezeit in Leipzig 1969 und die Hallenser Stasiverhöre 1970 nicht gewesen wären. So wurde aus mir, was niemandem nützte, ein überzeugter Staatsfeind und, nachdem ich Karl Jaspers’ Buch Wohin treibt die Bundesrepublik? gelesen hatte, ein Feind jeglicher Staatsgewalt. Zum Glück, wenn auch nicht zu meinem, war ich immer zu sehr mit mir beschäftigt, um Flugblätter zu drucken, Bomben zu basteln oder Polizisten zu erschießen. Die Musik der Beatles und Songs wie Let It Be haben mich davon abgehalten, auch wenn Mutter Maria nie zu mir sprach. Es gab auch andere musikalische Lebenshilfe made in Britain mit Texten, die süchtig machten und mich zum Lesen wichtigerer Bücher als derer von Karl May oder Liselotte Welskopf-Henrich anregten. Am meisten beeindruckte mich der zwanzigjährige Lyriker Keith Reid, der für die Band Procol Harum die Texte schrieb. 1967 war A Whiter Shade of Pale der Welt-hit des Jahres. Es folgten neun Alben, die das gan-ze Spektrum von Bach bis Weill verarbeiteten und musikalische Maßstäbe setzten für symphonische Rockkonzerte und Rockopern. Mein Hörgefühl für Klassik wurde klüger durch Bands wie The Nice; Emerson, Lake & Palmer und Procol Harum; mein Musikgeschmack wurde dümmer, denn es dauerte Jahre, bis ich den Jazz als unendlich reichere Seelensprache entdeckte. In dem grandiosen siebzehnminütigen Finale des Procol-Harum-Albums Shine on brightly heißt es: „Some say that I’m a wise man, some think that I’m a fool. It doesn’t matter either way: I’ll be a wise man’s fool.“ Oder, wie Heiner Müller sagte: „Liebe macht nicht blind. Man sieht nur mehr, als da ist.“

 

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