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Cover Lettre International 96, Marcel Dzama
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Inhaltsverzeichnis

LI 96, Frühjahr 2012

Das grosse Schweigen

Die Kunst des Wegsehens und die Geschichtslügen der Grande Nation

Wegsehen ist eine königliche Kunst. Ludwig der XIV. beherrschte sie perfekt. Jeder seiner Blicke konnte zerschmettern oder erhöhen, jeder Wimpernschlag bedrohen, jedes Wegsehen vernichten. Die Bourgeoisie hat diese höfische Tradition bereitwillig übernommen. Kein Bourgeois in den USA, in Italien oder Deutschland kann so meisterlich ignorieren wie der französische. Aber daß das Wegsehen zu einem Volkssport wurde, verdankt Frankreich einem Mann, dessen Beliebtheit von keinem Lebenden und keinem Toten erreicht wird, verherrlichter als die Jungfrau von Orleans, bewunderter als Napoleon, angebeteter als der Heilige Geist und Gottvater selbst, da ihn sogar Atheisten anhimmeln: Charles de Gaulle. Er hat den Franzosen ein für allemal das Wegsehen eingebleut, ausgerechnet an dem Tag, als er, mit großzügiger Erlaubnis der amerikanischen Armee, triumphal, in der Pose des Siegers in Paris einzog und den Franzosen in seiner berühmten Rede die Lüge auftischte, sie hätten den Krieg (alleine und aus eigener Kraft) gewonnen, statt ihnen die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern: daß sie ihn katastrophal verloren, sich mehrheitlich der Kollaboration mit den Nazis schuldig gemacht und ihre Befreiung den Armeen Englands, Kanadas und der USA zu verdanken hatten. Der Tag hat ein Datum, es ist der 25. August 1944, und die von Entstellungen und lyrischen Aufschwüngen punktierte Rede („Paris geschmäht! Paris zertrümmert! Aber Paris befreit! Befreit durch seine Bewohner, mit Hilfe der Bevölkerung Frankreichs, mit Hilfe der Armee Frankreichs, des kämpfenden Frankreich, des einzigen Frankreich, des wahren Frankreich, des ewigen Frankreich!“) ist in die Geschichte eingegangen, aber leider haben sich die Verzerrungen und Unwahrheiten im Bewußtsein der großen Mehrheit der Franzosen eingenistet, einen Nebelvorhang vor die Vergangenheit gezogen und ihre Sehkraft nachhaltig beschädigt. Der Tag des Sieges war eine Niederlage für das Gedächtnis. Er läutete eine Tradition des Verleugnens und Vergessens ein, deren Ende nicht abzusehen ist.

Geschichtslügen haben sehr lange Beine. Die folgenreichste aller Lügen war, Frankreich zu den Siegermächten zu zählen. Nur die Verlierer zwingt man zum Nachdenken, der Sieger erspart sich alle schmerzliche Selbstbefragung. Hätte Frankreich seiner Vergangenheit offen ins Auge geblickt, seine demütigende Niederlage eingestanden, die Kriegsverbrechen aufgearbeitet, seine Bewunderung für den Marschall Pétain zugegeben, seinen hausgemachten Antisemitismus analysiert, dann gäbe es heute nicht ein Wählerpotential von 20 bis 30 Prozent für den Front National. Hätte sich Frankreich dazu durchgerungen, die Idee der civilisation française, die immer auch eine Idee von der Überlegenheit des weißen Mannes und des Christentums war, einer kritischen Untersuchung zu unterziehen und darin die ideologischen Wurzeln für seinen Rassendünkel zu entdecken, dann hätte es auch die Kolonialfrage anders lösen können, statt blindlings zu versuchen, weiterhin Weltmacht zu spielen und den unvermeidlichen Niedergang des Kolonialreichs durch blutige Massaker in Algerien, Madagaskar, Vietnam und Marokko aufzuhalten – Massaker, von denen es heute nicht minder den Blick abwendet wie seinerzeit von den Ereignissen zwischen 1940 und 45. Wer, außer den Algeriern, gedenkt noch der Toten von Setif, ermordet zu Tausenden von der französischen Armee am 8. Mai 1945, dem Tag der offiziellen Feierlichkeiten zu Kriegsende, die in einen blutigen Volksaufstand umschlugen? Wer erinnert sich der Aufständischen in Madagaskar – 89 000 Tote sollen es, dem französischen Generalstab zufolge, 1947 gewesen sein –, außer ihre Nachkommen? Wer entsinnt sich daran, daß diese Revolten eine Antwort auf das gebrochene Versprechen Frankreichs waren, die Kolonien, die der französischen Armee Soldaten geliefert hatten, in die Unabhängigkeit zu entlassen? Diese Fakten sind nicht weniger vergessen als die Entscheidung de Gaulles, an jenem mythischen 25. August 1944, dem Wunsch der amerikanischen Generäle nachgebend, den aus Anlaß der Befreiung organisierten Triumphzug der dezimierten französischen Armee mit überwiegend weißen Soldaten zu bestreiten, obschon zwei Drittel der kämpfenden Truppen aus Arabern und Schwarzafrikanern bestanden. Und deren Kindeskinder in den französischen Banlieues, die heute von der französischen Gesellschaft ignoriert werden, sind sie nicht immer noch die Opfer desselben Wegsehens, einer Fäulnis des nationalen Gedächtnisses, welches nie mit sich ins Reine gekommen ist?

(…)

Der verschollene Tag 

Ich spreche hier von dem schier unglaublichen Massenmord am 17. Oktober 1961, sechzehn Jahre nach Kriegsende, an Teilnehmern einer Demonstration der algerischen Widerstandsbewegung FLN, die friedlich gegen eine auf die Nordafrikaner von Paris begrenzte Ausgangssperre protestierten. Unglaublich, weil das Gemetzel – man spricht von mehr als 200 Toten – mitten im Herzen der Hauptstadt geschah, unglaublich, weil es unter den Augen von Tausenden von Bürgern auf den großen Boulevards von Paris stattfand, unglaublich, weil die Erschlagenen und Verletzten zu Dutzenden in den Fluß geworfen und, wenn sie nicht sofort ertranken, beim Versuch, sich ans Ufer zu retten, erschossen wurden, so daß man ihre Leichen, wie die Zeitungen trotz der Militärzensur berichteten, noch Tage und Wochen später bis hin zur Seine-Mündung aus dem Wasser fischte – unglaublich vor allem, weil es aus der kollektiven Erinnerung Frankreichs ausgelöscht ist, als wäre es nie geschehen. Und doch wurden vor den Augen der Bürger 11 500 Demonstranten verhaftet und in Busse gepackt oder von mit Knüppeln prügelnden Polizisten durch ganze Stadtteile getrieben und in drei verschiedenen Stadien und Sporthallen interniert (wo mehrere von ihnen beim Gang auf die Toilette totgeschlagen wurden). Am Pont de Neuilly wurde eine Gruppe von Protestierenden mit Maschinengewehrfeuer empfangen und niedergemäht. Es ist wahr, die Ermordeten waren „nur“ Algerier, und die Bevölkerung weinte ihnen an jenen Tagen des zu Ende gehenden Algerienkriegs, den die FLN mit Bombenattentaten in die französische Hauptstadt getragen hatte, keine Träne nach. Dennoch erbleicht der Zuschauer, der einen Zeugen in einem Dokumentarfilm sagen hört, daß die am Fluß wohnenden Pariser ihre Fensterläden schlossen, als man die waffenlosen Demonstranten von den Brücken und befestigten Ufern in die Seine warf. Aus Scham? Aus Einverständnis? Aus Gleichgültigkeit? Weil der Durchschnittsbürger gern wegsieht, wenn er hinsehen müßte? Weil das Wegsehen seit der Kollaboration Tradition hat?

Aber nicht minder unglaublich war, daß der Mann, der das Massaker organisiert hatte, Maurice Papon, damit zum zweiten Mal in seinem Leben zum Vollstrecker eines Kapitalverbrechens werden durfte. Der von de Gaulle zum Polizeipräfekten von Paris ernannte Staatsdiener war im Krieg an der Deportation von 1 600 Juden maßgeblich beteiligt gewesen, wofür er erst sehr spät, im April 1998, zu zehn Jahren Gefängnis wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde. Doch de Gaulle hatte zu Kriegsende im Namen der „Versöhnung der Nation“, „um das Volk nicht zu spalten“, um „die Wunden Frankreichs nicht aufbrechen zu lassen“, nach einer ersten Prozeßwelle jede juristische Aufarbeitung der Kollaboration unterbunden und die kompromittierte Staatsverwaltung von Vichy mit offenen Armen im „neuen Frankreich“ aufgenommen. Ja, Papon, der die „Schlacht von Paris“ in einem Blutbad gipfeln ließ, hatte aus den Armen des Generals das Ehrenkreuz eines Kommandeurs der Legion d’Honneur erhalten, und wenige Jahre später wurde er unter der Regierung Raymond Barres Budgetminister Frankreichs. Der Staat hatte wieder beschlossen wegzuschauen.

Wie ist so eine Karriere möglich? Wie konnte de Gaulle, der Mann des Widerstands, so etwas zulassen? Wie konnte er Verbrecher rehabilitieren und ihnen hochrangige Posten im neuen Staat anbieten? Vielleicht wollte er wirklich „einen Bürgerkrieg vermeiden“ in Frankreich, das ja massenhaft kollaboriert hatte, vielleicht war er, der Royalist, den Staatsdienern, die der Obrigkeit gehorcht hatten, nicht wirklich gram, vielleicht lag ihm, dem einstigen Stabsoffizier Pétains, der wie fast alle Mitglieder des Offizierskorps weder Juden noch Araber riechen konnte, die Rassentheorie des Vasallenstaats gar nicht so fern – jedenfalls entschloß er sich, im Handstreich die Geschichte umzuschreiben und zu erklären, Vichy sei nicht Frankreich gewesen, sondern eine Räuberbande, das „wahre Frankreich“ habe sich für die Untaten nicht zu entschuldigen. Er flickte die Geschichte seines Landes nach Gutdünken zusammen, er fegte skrupellos den heroischen, von Ausländern und Kommunisten getragenen Widerstand in Paris, den er aus London beobachtet hatte, unter den Teppich. Für seinen Anteil an der Résistance, für die Dekolonisierung, verdient er wohl Anerkennung, aber die verheerenden Folgen seiner Geschichtslügen hallen in Frankreich bis heute nach. Er gewann die Schlacht ums Bewußtsein, nur die Wahrheit ging verloren. Der Militärstratege wollte die entehrende Vergangenheit ausstreichen, wie man einen Feind auslöscht. Bedenken kamen ihm dabei nicht.

Seine zentrale These, Vichy sei nicht Frankreich gewesen, sondern eine Räuberbande, und jetzt sei das wahre Frankreich wieder an der Macht, war natürlich unhaltbar, weil 569 von 669 Parlamentariern am 10. Juli 1940 in völlig legaler Abstimmung die Dritte Republik liquidiert hatten, ja geradezu absurd, so sehr war der Marschall Pétain, der „Sieger von Verdun“, der die Kapitulation und später die Rassengesetze unterschrieb, vom französischen Volk bejubelt und vergöttert worden, vor allem aber unverzeihlich, weil das neue Frankreich die Verantwortung für die Staatskollaboration ablehnte und sich (mit Einverständnis der politischen Klasse bis hin zu Mitterrand, der für die „Räuberbande“ gearbeitet hatte) weigerte, bei den Opfern, vor allem den Juden und Zigeunern, um Vergebung zu bitten. Nach der Verleugnung der kriegsentscheidenden Rolle der Alliierten, bei denen de Gaulle sich trocken für „die Mithilfe“ bedankte, war das nun das zweite Wegsehen, Wegsehen in höchster Potenz, 50 Jahre lang staatlich verordnetes Wegsehen, das nur von Jacques Chirac nicht respektiert, von Präsident Sarkozy jedoch auf seinen Reisen durch die alten Kolonien wieder praktiziert wurde, als er es im Senegal und vor allem in Algerien ablehnte, für die Massaker der französischen Siedler und Soldaten um Verzeihung zu bitten, da es allerseits Untaten gegeben, die civilisation française auch ihr Gutes gehabt habe und die „Mode der Entschuldigungen“ der Würde der Grande Nation nicht angemessen sei.

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