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Cover Lettre International, Achim Freyer
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LI 114, Herbst 2016

Der Preis der Erfahrung

Ein Theater der Zärtlichkeit und Schönheit

(…)

Georges Banu Eine Frage an die Schauspieler: Ihr wart häufig im Orient und hattet Kontakt zu orientalischen Meistern, aber in euren Stücken übernehmt ihr keinerlei orientalische Formen, so wie sie sind. Statt dessen benutzt ihr Masken von Erhard Stiefel, die auf den Orient anspielen, Musik von Jean-Jacques Lemêtre, die auf Klänge des Fernen Ostens zurückgreift ... Wie handhabt ihr diese Mischung? Habt ihr bei der Auswahl und den Anspielungen auf das asiatische Theater Einfluß? Achtet ihr darauf, daß aus dem Stück keine einfache Kopie orientalischer Formen wird? Der bedeutende Anthropologe Yamaguchi Masao hat mir einmal in Japan gesagt: „Du, du bist wie Eugenio und nicht wie diese Amerikaner, die Japaner werden wollen.“ Er spielte damit auf manche amerikanischen Professoren an, die nicht nur japanisches Theater studieren, sondern häufig das kleinste szenische Detail nachahmen. Meine Frage: Habt ihr bestimmte Prinzipien oder Vorsichtsmaßnahmen in bezug auf den Orient, damit er nicht wie eine importierte Form wirkt?

Eugenio Barba Nehmen wir Roberta, die lange Zeit in Japan lebte – sie studierte Butoh – und auch Iben, die sich auf Bali aufhielt, sich die Techniken balinesischer Tänze aneignete. Anschließend kamen beide zum Odin zurück. Ich sehe keine Veranlassung, Butoh oder balinesische Tänze zu verwenden, vor allem, wenn sie das Resultat von einem oder zwei Monaten Arbeit sind. Wenn die Schauspieler sich vier oder fünf Jahre lang damit auseinandergesetzt hätten, könnte ich es in Erwägung ziehen, aber ein paar Monate sind nichts. Ich kann verstehen, daß eine solche Erfahrung für die Schauspieler äußerst inspirierend ist, aber sie müssen auch in der Lage sein, sie zu transformieren.

Roberta Carreri Ich habe 1980, nach sechs Jahren im Odin, Japan für mich entdeckt. In diesen ersten sechs Jahren habe ich zusammen mit jenen Schauspielern des Odin, die am längsten dabei waren, den Nachwuchs ausgebildet. Ich habe „gelernt, wie man lernt“, wie Eugenio schreibt. Dieses Wissen hatte ich verinnerlicht, als ich Katsuko Azuma kennenlernte, der mich das Bewußtsein lehrte, den eigenen Körper von innen wahrzunehmen, nicht von außen; also nicht das, was man mit Armen, Beinen und Kopf macht, sondern die Spannung in der Wirbelsäule vom Kopf bis zum Steißbein zu spüren. Diese Art, sein Zentrum, seine Achse zu spüren, wurde für mich sehr wichtig. Drei Monate später bin ich auf Butoh gestoßen und war fasziniert. Von allem, was ich von den Butoh-Meistern gelernt habe, war am wichtigsten die Arbeit mit den Augen zu lernen, den Blick, der nicht nach außen, sondern nach innen geht. Das war das Wichtigste. Diese Erfahrungen wurden zum integralen Bestandteil meiner Ausbildung und hatten einen enormen Einfluß auf das, was ich am Odin machte. Ich lernte Nihon Buyō und Butoh, eine Form der Selbsterneuerung. 

Eugenio ist ein Meister in der Kunst, Erdbeben auszulösen; es ist ihm immer gelungen, uns in die schwierigsten Situationen zu bringen, Situationen, die uns zwangen, unsere ganze Kraft zusammenzunehmen, um zu „überleben“. Selbst heute noch vermittelt mir das Odin das Gefühl, bei hohem Wellengang im Meer zu schwimmen. Wenn man aufhört sich zu bewegen, geht man unter. Man kann noch so erschöpft sein, man wird weiterschwimmen, denn aufzuhören bedeutet, nicht mehr zu existieren. Selbst nach fast 43 Jahren am Odin fühle ich mich bei jedem neuen Stück wie eine principiante, eine blutige Anfängerin. Es ist Eugenio, der mir dieses Gefühl vermittelt. Er teilt mir Aufgaben zu, denen ich mich nicht gewachsen fühle, was dieses starke Gefühl der Ohnmacht erzeugt, so daß ich am liebsten alles hinwerfen möchte. Doch man schwimmt weiter, weil dies die einzige Art zu überleben ist. Es ist wichtig, sich zu erneuern, das will ich unterstreichen. Wir erneuern uns aber auch aus uns selbst heraus, wenn wir nach Japan fahren oder nach Spanien, um Flamenco zu lernen oder nach Afrika, um uns afrikanische Tänze anzueignen, das bedeutet jedoch nicht, daß ich Flamenco-Tänzerin werden will oder eine Spezialistin für afrikanische Tänze, es ist eine Herausforderung, die mich neue Möglichkeiten in mir selbst entdecken läßt.

Duccio Bellugi Vannuccini Ich empfinde das, was Roberta gesagt hat, ähnlich intensiv. Dieses ständige Hinterfragen kommt von Ariane, die sich selbst, ihre Vision des Theaters immer neu in Frage stellt. Im Augenblick befinden wir uns in einer kreativen Phase, die uns zwingt, uns in Frage zu stellen. Dieses Gefühl, sich zu sagen: „Ich bin eine principiante“, hat uns schließlich soweit gebracht, unsere Kostüme zu vergraben. Ein symbolischer Akt. Man klammert sich nicht an etwas, das man kennt, um sich doch eingestehen zu müssen, daß dem nicht so ist. Wir haben genügend Erfahrung, um zu wissen, daß es sich dabei um eine Phase handelt, durch die man hindurch muß. Die Kunstformen, die wir erlernen, Tänze, Kathakali, Topeng, Capoeira, betrachten wir als Mittel zum Zweck, es sei denn, sie werden ins Stück integriert, etwas verbleibt tatsächlich im Stück, weil die Geschichte des Schauspiels es erfordert. In Et soudain des nuits d’éveil haben wir tibetanische Tänze einstudiert, die so blieben, wie wir sie erlernt haben. Für uns eine Gelegenheit, diesen Muskel der Vorstellungskraft zu trainieren, wie auch den Muskel physischer Vorstellungskraft. Aus diesem Grund unternehmen wir Reisen und machen uns auf, andere Kunstformen zu erlernen.

Ariane Mnouchkine Je mehr Schauspieler lernen, desto mehr entdecken sie, je mehr sie sich mit Musik, Tanz, Gesang beschäftigen, desto besser. Das hat Duccio bestätigt, als Roberta über Butoh sprach, ein großartiger Tanz, der mich als Zuschauerin sehr interessiert, aber für mich kein Ausdrucksmittel ist, das ich Schauspieler bitten würde zu erlernen. Warum? Auch wenn ich sie bitte: „Willst du es nicht mal ausprobieren, um zu sehen, ob es dich interessiert? Versuch es doch, auf geht’s, lernen wir das“, so sind es doch immer erzählerische Werkzeuge, die ich von ihnen fordere; wenn wir Kathakali erlernen, lassen wir uns von etwas inspirieren, was ich imaginäres Kabuki nenne, das wir uns selbst ausgedacht haben, denn wir sind nicht Kinder einer Kabuki-Familie, und es würde uns zehn Jahre kosten ... Trotzdem machen wir uns sachkundig, auch um Dinge zu verstehen, die wir nicht oder nie realisieren können. Das Erzählerische steht immer im Mittelpunkt: Was wird man erzählen? Für uns zählen die Impulse, Lehren, Lektionen, die diese Meister vermitteln, welche die Schauspieler aufsuchen, wenn sie nicht arbeiten. Ich finde es wunderbar, wenn sie nach Bali, Japan oder woandershin gehen. Sie trainieren ihre Körper und mit ihm auch den wichtigsten Muskel überhaupt, den des Mitempfindens. Und das ist das Vorstellungsvermögen. Es ist die Fähigkeit, den anderen zu verstehen, der andere zu sein, sich vorstellen zu können, was der andere empfindet, was Frauen empfinden – Julia hat darüber gesprochen. Es sind Lektionen, von denen Eugenio sagt: „In bezug auf das Schauspiel interessieren sie mich nicht“, trotzdem sind sie, wie er zugibt, essentiell für die Schauspieler, denn sie motivieren, lassen sie ein neues Universum entdecken, neue Musik, neue Rhythmen, neue Töne, Raga ... Denn wenn sie singen, so wie sie jetzt singen, werden sie nie indische Sänger werden oder südindische Gesänge vortragen, das ändert jedoch nichts daran, daß sie dank Emmanuelles Bemühungen plötzlich verstehen, sie karnatische, fremdartige Tonleitern kennenlernen, andere Grundlagen. Dadurch kommt einiges in Bewegung. In unserem Beruf bildet man sich ständig weiter, und das bis zum letzten Seufzer.

Jean-Jacques Lemítre Man ist auf der Suche nach dem Wesentlichen, dem Ursprung, in jedem von uns steckt ein Stück Butoh, etwas Topeng, das man versuchen muß zu finden. Es sind Schlüssel zum anderen, die es ermöglichen, ihn kennenzulernen, ihn zu bestaunen, von ihm zu empfangen. Man wird zum Schwamm und naiv wie ein Kind. In der Aneignung und Anerkennung all dieser Kunstformen verbirgt sich eine ganz kleine Antwort auf das, was Friede sein könnte, der Friede zwischen den Menschen dieser Welt, ein Friede, der uns erlaubt, sie kennenzulernen, zu spüren und zu erfahren; schließlich haben wir ihnen Dinge geliehen und sie uns, wir haben Dinge verloren, die sie noch besitzen und vice versa. Das Reisen ist schön, weil es einem hilft, zu den Ursprüngen zurückzufinden. Es bedeutet neue Nahrung, die man spirituell, heilig, religiös etc. nennen kann, abgesehen von der irdischen Nahrung, denn Reisen entwickelt den Geschmack, man wird zum Weinkenner, lernt gutes Essen schätzen ... Auch das gehört zum Leben. Essen ist eine Kunst, die wir jeden Tag unseres Lebens praktizieren. Auf ihre bescheidene Weise fördert sie die Kommunikation. Man tauscht sich aus, wenn man probiert, genießt, empfängt den anderen.

Eugenio Barba Wir umkreisen das fundamentale Problem der Ausbildung. Gemeint ist nicht nur mechanisches Lernen, sondern das Entwickeln aller Fähigkeiten, die in uns schlummern, wie jener, in eine andere Kultur des Körpers einzutauchen. Wir müssen nicht den Orient bemühen, es genügt, wenn wir uns mit klassischem Ballett oder Pantomime beschäftigen. Egal welcher Schauspieler sich in das Metier einarbeitet, alle machen die Erfahrung, über ihren Körper zu lernen – eine Ausbildung, die nicht auf einem Konzept oder einem Prinzip basiert, sondern auf Nachahmung. Diese ist bei jeder Art von Ausbildung von großer Bedeutung. Der Schauspieler erlebt sie mit dem Körper, in einer Art Sprachlosigkeit, einem Schweigen voller Möglichkeiten, die er einmal realisieren wird. 

Ein wichtiges Thema für den Schauspieler ist die Inspiration. Man muß lernen, sich in ein Neugeborenes hineinzuversetzen, das sich zum ersten Mal aufrichtet. Das ist das erste, was man tut: auf andere Art aufrecht zu stehen, in egal welcher Theatertradition. Der Schauspieler lernt eine Haltung. Er kann über sechs oder zwanzig Jahre Theatererfahrung verfügen, sobald er eine andere Haltung erlernt, gleicht das einem Erdbeben, einer grundlegenden, einzigartigen Erfahrung, die ihn vor die Frage stellt: „Wird deine Ausbildung als Schauspieler lebenslang weitergehen, oder schließt du sie nach vier Jahren Schauspielunterricht ab?“

Georges Banu Ein weiterer Aspekt – wichtig für das westliche Sprachtheater – ist: die Beziehung zum Text, zu den Worten. In deinem Fall, Eugenio, kommen die Worte prinzipiell aus anderen Quellen, aus der Literatur, aus spirituellen Abhandlungen ... Du umgibst dich nicht mit Schriftstellern, sondern arbeitest mit Professoren zusammen. Ariane hat kreatives Schreiben zunächst im Kollektiv praktiziert, um sich dann für einen Wechsel zwischen dem weißen und dem schwarzen Pferd zu entscheiden, zwischen dem griechischen Text oder Shakespeare einerseits und der loyalen Zusammenarbeit mit Hélène Cixous andererseits. Ihr nehmt unterschiedliche Haltungen ein. Wie beantwortet ihr die Frage nach Sprache, Text und Wort? 

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