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Cover Lettre International, Achim Freyer
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LI 114, Herbst 2016

Das mimetische Dilemma

Die Ästhetisierung der Katastrophe in einer Epoche der Restauration

1968 führte Roland Barthes im Kontext von Romanen und Geschichtswerken des 19. Jahrhunderts den „effet du réel“, den Realitätseffekt, in die literaturgeschichtliche Debatte ein. Der Begriff bezeichnet ein in diesen Textsorten häufig anzutreffendes Phänomen: ihre Ausstattung mit einer Vielzahl von Details, die nichts zur Handlung beitragen, dem Dargestellten aber ein Mehr an Konsistenz verleihen. 

Das Reale in der Kunst

Mittlerweile wird dieser Terminus auch in anderen Künsten verwendet. Eine Galerie in Zürich stellte unter dem Titel „The Reality Effect“ vor Jahren unterschiedliche niederländische Künstler aus, um Eigenarten ihrer Verfahren bei der Herstellung von Wirklichkeitsnähe zu fokussieren. 2008 bündelt Andrea Kleihues unter der Überschrift „Realitätseffekte“ Aufsätze zum Politischen im zeitgenössischen Theater, zur Renaissance des Dokumentartheaters, zu Realitätsresten in Geschichtswissenschaft, Film und Literatur – in der „Absicht, den Begriff noch mal neu auf sein Erkenntnispotential hin zu befragen“. Der Terminus läßt sich problemlos auf das Feld der bildenden Kunst übertragen, die, wie Juliane Rebentisch beobachtet, seit den 1960er Jahren ästhetische Verfahren erzeugt, welche „die Grenzen zwischen den Künsten und zwischen Kunst und Nichtkunst“ absichtsvoll dekonstruieren. Der Begriff „Realitätseffekt“ scheint prädestiniert, um Überschneidungen und Vermengungen von Kunst und Nicht-Kunst zu bezeichnen. „In diesem Regime ist Kunst insofern Kunst, als sie auch Nicht-Kunst, etwas anderes als Kunst ist“, schreibt Jacques Rancière. Gegenstände des Alltäglichen werden nicht in die künstlerische Form integriert, um wie in Collagen von Kurt Schwitters ästhetische Valeurs freizusetzen, sondern der Effekt besteht darin, daß „die Werke oftmals nicht mehr zu erkennen geben, wo die Grenze zu ihrem nicht-künstlerischen Außen verläuft“. In der bildenden Kunst kann diese Geste der Deterritorialisierung aus dem Readymade bzw. den Kunstanstrengungen von Marcel Duchamp und Andy Warhol hergeleitet werden. Im Bereich der darstellenden Künste setzt die planmäßige Vermengung von Kunst und Nicht-Kunst mit den Strategien des Performativen ein, die Erika Fischer-Lichte paradigmatisch in den Performances von Marina Abramović identifiziert. Aber auch wenn die Gruppe Rimini Protokoll mit Akteuren arbeitet, die – was gewünscht, wenn nicht Bedingung ist – noch nie auf einer Bühne gestanden haben, die Formation She She Pop ihre Mütter oder Väter mit in ihre Theateraufführung einbringen oder Christoph Schlingensief seine Krebserkrankung zum Zentrum eines theatralischen Spektakels macht, handelt es sich um Realitätseffekte, welche die Grenze zwischen Kunst und Realität durchlässig machen. Die Theaterwissenschaft spricht mit Hans-Thies Lehmann in vergleichbaren Fällen von einem „Einbruch des Realen in die theatrale Fiktion“. Die Semantik von „Einbruch“ lenkt davon ab, daß dieses Ineinander von Kunst und Nicht-Kunst intendiert ist. Gezielt wird eine ästhetische Strategie auf das performative Feld übertragen, welche zum festen Bestand der Gegenwartskunst gehört. 

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Gesetz und Überschreitung

Die durch den Realitätseffekt bewirkte Transformation des Problemhorizonts macht die erfolgreiche Inszenierung Testament der Gruppe She She Pop anschaulich. Auf der Folie von Shakespeares Lear bringen die schauspielernden Akteure ihre eigenen Väter auf die Bühne und diskutieren mit ihnen Erbschaftsangelegenheiten. Während auf der She-She-Pop-Bühne das Habermassche Diskursmodell regiert, zeigt Shakespeares Stück eine trügerische Welt von Mißgunst und Verrat, in welcher Kinder nach dem Leben ihrer Eltern trachten, während andere, die ihren Erzeugern beistehen wollen, von diesen auch noch verwechselt werden. Lehmanns Formel vom „Einbruch des Realen“, die angesichts solcher performativen Praktiken greifen soll, verkennt, daß das, was heute in den Blick gerät, sich vollkommen von dem unterscheidet, was die elisabethanische Tragödie fokussiert. Hier beredt Zeugnis ablegende freundliche Herren, die mit Umsicht ihren Lebensabend angehen, dort rücksichtslose Vorteilsnahme und Egos, die vom narzißtischen Wahn an der Nase herumgeführt werden. Nichts in den aufgeklärten Erblassern gemahnt an jene Versammlung böser Geister in Shakespeares Vorlage, entmenschten Ungeheuern nicht unähnlich jenen, die im 20. Jahrhundert Europa in Schutt und Asche legten und offensichtlich auch nicht aus der den Menschen gemeinsamen Welt verschwunden sind. Die Frage, welches das wahre Gesicht des Menschen ist, läßt sich kaum durch das Für und Wider beider Varianten beantworten. Das statistische Argument der großen Zahl eines zivilen Erbens und honorigen Verteilens des Eigentums auf die Nachkommen kollidiert empirisch mit verschwindenden Ausnahmen, wo ein Elternteil von den Nachfahren ums Leben gebracht wurde, um an sein Geld und Gut zu kommen, aber auch mit Tacitus’ Beschreibungen der Machenschaften am römischen Kaiserhof. Die Liquidation von Elternteilen stellt, wie die antike Tragödie zeigt, schon in der Morgendämmerung der westlichen Zivilisation einen Tabubruch dar. Eine Kapriole des Schicksals macht deutlich, daß sich die Differenz auch nicht aus unterschiedlichen Haltungen oder Bewußtseinslagen erklärt. Tolstoi fand alle Personen, die in diesem Stück Shakespeares „leben, denken, sprechen und handeln[,] völlig unangemessen“ und hielt die Geschichte, daß ein König sein Reich unter seinen Kindern aufteilt, von seinen Sprößlingen vertrieben wird und anschließend mit seinem Diener im Unwetter umherirrt, schlicht für unglaubwürdig. Allerdings ereilte den Autor von Krieg und Frieden oder Anna Karenina dieses Schicksal am Ende seines Lebens selbst, als er seinen Besitz aufteilte und wie ein obdachloser Landstreicher in die Fremde zog. Die Antwort hängt vom Standpunkt des Betrachters ab, das heißt sie ist davon beeinflußt, ob die Akteure im mimetischen oder im performativen Dispositiv operieren. Die Differenz beider Darstellungen begründet sich durch eine unterschiedliche Stellung zum Gesetz. Ganz gleich, ob der Realitätseffekt einen Durchschnitt vergleichbarer Fälle repräsentiert oder nicht, er verweist stets auf die Geltung des Gesetzes. Wenn der Tabubruch im Vergleich dazu die Ausnahme bleibt, was wiederum die anhaltende Geltung dieser zivilisatorischen Norm bezeugt, macht seine Repräsentanz dagegen sichtbar – auch im Sinne der Selbstvergewisserung der Zivilgesellschaft –, was im Jenseits des Gesetzes droht. Die Differenz ist nicht inhaltlicher oder ideologischer, sondern struktureller Natur. Der Mensch präsentiert sich dort, wo keine Exekutive zur Stelle ist, um etwaige Überschreitungen der normativen Setzungen juristisch zu ahnden, anders als unter dem allzeit bereiten Beil der Gerechtigkeit.

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