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Cover Lettre International, Stanislas Guigui
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LI 105, Sommer 2014

Damals in Paris

(…)

Es war Ende Juni 1940, als ich nach langer Irrfahrt wieder in Paris eintraf, jetzt widerstandslos von den Deutschen besetzt. Schon am Stadtrand nahm mich ein Straßenhändler in Empfang, der mir die neue Landkarte Frankreichs unter die Nase hielt: Elsaß-Lothringen war wieder einmal futsch, der traurige Rest zweigeteilt. Oben das industrielle Frankreich fest im deutschen Griff, die großteils ländliche Südhälfte gehörte zum Kasperlestaat von Vichy. Wobei der neugebackene Judenfresser (und Erfinder des Begriffs collaboration) Pierre Laval das große Wort führte. Ein ehrgeiziger Provinzpolitiker, über den das Spottwort umlief: „Napoleon hat einmal seinen Außenminister Talleyrand einen ‘Scheißhaufen in Seidenstrümpfen’ genannt. Monsieur Laval besitzt keine Seidenstrümpfe.“

Paris erwies sich als fast menschenleer, die halbe Bevölkerung – hier spielte die Propaganda des Ersten Weltkriegs eine Rolle – voll panischer Angst in den Süden geflohen. Dafür gestiefelte Fritzen (oder Fridolins) auf allen Caféterrassen der Boulevards und der Champs-Élysées. Schon hatte man eilfertig Sprach- und Reiseführer für sie gedruckt, vorneweg Eiffelturm und Louvre, hinten die einschlägigen Sexlokale. Und die Mädchen boten sich ihnen dar, den Siegern – ganz wie das übrige Land, so wollte mir scheinen. Denn das war ja der geheime Kern, der mythologische Knoten dieses neuen Verhältnisses: Deutschland als Mann, Frankreich als Frau, die sich ihm hinzugeben hatte, das war ihr Schicksal und ihre einzige Chance. Und die schändliche Niederlage eine Art göttliche Fügung, eine verdiente Strafe für vergangenes Sichgehenlassen und Leichtlebigkeit. Wozu eben auch die verflossene „jüdische“ Volksfrontregierung gehört hatte, mit ihrer unmöglichen Vierzigstundenwoche und bezahltem Urlaub. Und schon gab es einige Intellektuelle, die begrüßten in ihren Blättern dieses siegreiche Hitlerdeutschland sogar als poetisches Übermenschentum, als poème barbare … Der eine Satz jedoch, den man überall zu hören bekam, war: „On nous a eus“, „Man hat uns verkauft.“ Verkauft und verraten sahen sich die Millionen Soldaten mit ihrer mangelhaften Bewaffnung, von denen es so viele bei dem herrschenden Durcheinander (pagaille) erst gar nicht zur Front geschafft hatten. Vor allem aber fühlten sich die Arbeiter hintergangen, nicht nur von der eigenen bürgerlichen Regierung, sondern auch von der vielbewunderten UdSSR, deren Bruderkuß mit den Nazis den ungewollten Krieg überhaupt erst ausgelöst hatte.

Schlagartig veränderte sich jetzt das Straßenbild. Die Autos waren durch Fahrräder und Velotaxis ersetzt oder trugen stinkende Holzgasgeneratoren auf dem Dach. Lebensmittel waren rationiert, der Fettgehalt des Camemberts sank auf null Prozent, was noch als Beitrag zur Volksgesundheit gepriesen wurde. Hingegen blühte der schwarze Markt, blühten auch die Unterhaltungslokale. Die Theater, die Kinos, die Nachtklubs waren überlaufen, wobei der Film Jud Süß oder die Ausstellung Der ewige Jude im Palais Berlitz geradezu Rekorde erzielten. Die großen Maler – außer den jüdischen natürlich – stellten aus wie eh und je. Oder reisten (Braque, Derain, Van Dongen) zu wohlorganisierten Empfängen nach Deutschland. Allenthalben Künstlerpartys und Gesellschaftsabende, gern von Hauptmann Ernst Jünger besucht. Und so konnte der Photograph Jacques-Henri Lartigue von einem Empfang im Maxim’s berichten: „Unglaublicher Andrang. Man sagte mir, Paris sei erschüttert. In Wirklichkeit hat es sich nicht mehr verändert als eine Frau, die ihr Kleid wechselt.“

Inzwischen halten die Besatzer alles in der Hand, was ihnen irgendwie brauchbar erscheint. Das Parlamentsgebäude dient der Werbung für die freiwillige Arbeit (später Zwangsarbeit) im Reich. Das Palais du Luxembourg der Luftwaffe. Andere Dienststellen besetzten die großen Hotels, wie das Majestic oder das Bristol. Die Gestapo foltert in den Badewannen des Hotels Lutetia sowie in dem Gefängnis Cherche-Midi nahebei (wo einst Dreyfus eingesessen hatte). Na, und der halbe Opernplatz gehörte ohnehin ihnen. Hitler selbst läßt sich schon am frühen Morgen des 28. Juni 1940 im offenen Wagen von der Oper über den Triumphbogen zum Trocadéro chauffieren, begleitet von seinen zwei Lieblingsgigantomanen: dem Architekten Albert Speer und dem Bildhauer Arno Breker. Und posierte für die Nachwelt im weißen Feldherrnmantel der Habsburger … eine ausgeklügelte Rache.

Großer Andrang auch vor den Modeläden, wollte doch jeder Soldat seiner Braut daheim ein paar Pariser Schühlein oder Seidenstrümpfe spendieren. (Noch Erwin Rommel, damals Oberkommandierender des Atlantikwalls, versäumte vier Jahre später den Tag der Invasion, da mit einem Paar roter französischer Schuhe zu seiner Frau unterwegs.) Außerdem waren sie Kunstliebhaber, die Besatzer. Sie saßen hinter Staffeleien am Montmartre und pinselten die pittoresken Gassen. Sie kauften Umschläge mit Kunstpostkarten vor dem Louvre, obenauf Leda mit dem Schwan, dahinter Eindeutigeres. Sie besuchten den Triumphbogen, Notre-Dame und den Invalidendom. Und hatte nicht Hitler persönlich Weisung gegeben, daß die Asche des Herzogs von Reichstadt, des Napoleonsohnes, von Wien in eben diesen Dom überführt werden sollte? Dazu ein typisches Pariser Witzwort (boutade): „Bitte weniger Asche, mehr Kohlen!“

(…)

Im übrigen führte ich drei Leben gleichzeitig, sogar verhältnismäßig angstfrei, da hier die Judengesetze noch nicht in Kraft waren. Morgens stand ich Schlange in der benachbarten Marktstraße rue Mouffetard. Der berühmten mittelalterlichen „Mouffe“ – ihr Name mußte etwas mit dem muffigen Geruch verfaulter Lebensmittel zu tun haben. Oder auch der Clochards, die der Straße erst ihr Pittoreskes gaben, bis hin zu ihrem Hauptquartier, der place de la Contrescarpe. Einst Wohnsitz von Verlaine und auch von Hemingway, aber das lernte ich erst Jahre später. Eine gute Stunde hieß es nun warten vor jedem der zunehmend unfreundlichen Lebensmittelhändler, um die kargen Rationen zu ergattern, die uns noch zustanden. Hundert Gramm Reis im Monat, 300 Gramm Margarine, und das in einem Land, dessen Bevölkerung damals zur Hälfte aus Bauern bestand. Es ging eben alles hinaus ins Reich. Das einzige, worauf man dort anscheinend keinen Wert legte, trug solche eigentümlichen Namen wie rutabaga oder topinambour. Das eine mußte wohl „Kohlrüben“ bedeuten, das andere die Knolle von irgendwelchen Sonnenblumen, jedenfalls schmeckte beides scheußlich.

Nachmittags eilte ich dann in die rue Madame zu meinem Buchbinderlehrgang. Und nachts, ja nachts begannen meine eigentümlichen Wanderungen durch Paris, die ich nie ganz beschreiben könnte. Die Stadt war ja verdunkelt, der wenige Verkehr längst zum Stillstand gekommen. Alles schien wie verzaubert in diesen Vierteln der krummen und konfusen Gäßchen, der baufälligen Häuser, der verborgenen Treppen und Hinterhöfe, der geheimnisvollen Durchgänge und Passagen. Allem mir vom Tage her Bekannten wich ich aus, ich konnte mich gar nicht schnell genug verirren. Es waren Expeditionen, Entdeckungsreisen unterm Mond, quer durch dieses Dschungel-Paris, das unauslotbare. Was ich damals dort suchte, ich kann es kaum mehr nachvollziehen. Vielleicht nur ein bißchen Wildheit, nach neun Monaten Internierung. Vielleicht aber auch die Entsprechung, in altersgrauen Fassaden, dieser niedergedrückten Stimmung, in die mich die Verbannung aus der Heimat versetzt hatte und die so unaufhaltsamen Siege unserer Verfolger. Ja, Verfall war es wohl, was ich damals gesucht habe. Aber gleichzeitig die Poesie dieses Verfalls, der ja auch ein symbolischer war. Aus den vielen Gedichten, die ich in diesen Nächten hingekritzelt haben muß, ist mir nur noch ein Fragment in Erinnerung:

In den Mauern Falten, Spalten,
drüber Klammern, die sie halten.
Tüncheschichten, gleich den Schinken,
Feingeschnitten, klaffen offen,
zeigen überschminkte Schminken.

Und doch, dies war ja auch Bewunderung, dies war Liebe. Zum ersten Mal empfand ich echte Zugehörigkeit zu dieser von mir erlaufenen Stadt. Sie hatte mich aufgenommen, sich mir unverstellt gezeigt, weniger mit ihren Prachtbauten als, so schien mir, mit ihrem Intimsten, ihrer verkommenen Seele.

(…)
 

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