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Cover Lettre International 54, Alexander Polzin
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Inhaltsverzeichnis

LI 54, Herbst 2001

Die Krankheit des Islam

Lettre International: Von Europa aus gesehen scheinen die arabische und die islamische Welt in ihrer Reaktion auf den terroristischen Angriff auf die USA zerrissen zu sein. Zwar erkennt man durchaus manche Sympathien für die Aktionen, die Mehrheit jedoch scheint sie abzulehnen. Wie läßt sich die Lage in der arabischen Welt einige Tage nach den Ereignissen beschreiben?

Abdelwahab Meddeb: Die islamische Welt ist vielschichtig und unterschiedlich. Jene, die darauf wie auf einen barbarischen Akt reagierten, den sie ohne Zögern verurteilten, sind Leute, die man als die "Verwestlichten" in der arabischen Welt bezeichnen könnte. Sie sind zahlreich, zahlreicher als man denkt – vielleicht 10 Prozent in der islamischen Gesellschaft – völlig einig mit einer Verwestlichung des Denkens und der Sitten und einer Übernahme der westlichen Moderne als Lebensstil und -auffassung. Es gibt diesen Anteil und dann gibt es die Masse, die nicht unbedingt Freude empfindet, wie es in einigen palästinensischen Flüchtlingslagern oder im Libanon gezeigt wurde – ich glaube daß nur eine kleine Minderheit diese Art von Freude empfand. Denn sie entspringt zwar einem Instinkt und einem sehr starken Gefühl, aber alle, die ein Minimum an politischem Durchblick haben, bemerken sehr schnell die katastrophale Tragweite dieser Bilder. Denn wir haben es auch mit einem Krieg der Bilder zu tun, die Frage des Bildes ist von zentraler Bedeutung. Und überall auf der Welt, nicht nur im islamischen Milieu, wurden diese Ereignisse als Antwort empfunden. Als Antwort auf eine amerikanische Politik, die nach ihrer Ansicht nicht das erreicht hat, was sie hätte erreichen können, wenn man ihre Stärke in Betracht zieht, wenn man die erste Weltmacht sein und ein wenig von einer imperialistischen Sicht der Dinge Abstand nehmen will.

Ich möchte hier eine Unterscheidung einführen zwischen dem, was man als imperialistische Politik bezeichnen würde, und einer imperialen Politik. Es gibt die Tradition der imperialen Politik. Die imperiale Politik hat den Frieden zu verwalten und nicht den Krieg [weil sie ein Reich zusammenhalten muß; A.d.Ü.] Und zur imperialen Politik gehört, der Schiedsrichter in Konflikten zu sein, und nicht ein Richter oder Beteiligter. Wenn man diesen Fall vergleicht mit einem Beispiel von den letzten großen Bekundungen imperialer Politik etwa im Osmanischen Reich, so hatten einige der großen Reichsführer wie Mehmet Fatih IV (1451-1481) oder Suleiman Kanunu ein tiefes Bewußtsein davon, daß sie eine imperiale Struktur weiterzuführen hatten. Eine imperiale Struktur, die am Rand des Mittelmeers seit ihrer Gründung und Errichtung im Rahmen des Römische Reichs Bestand hatte. Zur Blütezeit des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und mit dem Willen, es besser zu machen als dieses Heilige Römische Reich – denn ihm war es nicht gelungen, in diesem Sinne ein Schiedsrichter zu sein –, hat das Osmanische Reich Probleme mit Minderheiten und Konflikte, die es innerhalb des Nahen Ostens immer gegeben hat, unter diesem Blickwinkel behandelt. So betrachtet haben die Menschen jenseits der Emotion, die ein solches Ereignis auslöst, gesehen, daß dies die Antwort auf ein Scheitern der amerikanischen Politik ist, die vielleicht mehr imperialistisch war als imperial.

Der zweite Punkt, der großen Eindruck gemacht hat, war der technische Erfolg und die Ästhetik des Ereignisses. Hier wurden alle technologischen Mittel meisterhaft angewandt und gleichzeitig genau an die Verbreitung durch das Bild gedacht. Wir sehen uns wirklich einer optimalen Ausnutzung aller Mittel dieser Epoche gegenüber, in der wir leben, einer Epoche die von der Gleichzeitigkeit des Bildes gekennzeichnet ist, auf der Grundlage dessen, was man die Universalisierung der Technik nennen kann. In diesem Zusammenhang ist viel mehr auf die Technik als auf die Wissenschaft zu verweisen. Denn die islamische Welt ist in der Wissenschaft nicht kreativ, aber sie hat in manchen Teilen die Technik zu beherrschen gelernt. Die Technik liegt mehr in der Funktionsweise der Maschine und weniger in der Erfindung der Maschine, das heißt, man ist viel weiter mit der Technik als mit dem tiefergehenden wissenschaftlichen Prozeß.

Was ist nach Ihrer Ansicht der Grund dafür, daß die islamische Welt in der Wissenschaft nicht kreativ ist?

Wir berühren hier einen neuralgischen Punkt. Die islamische Welt war immer ungetröstet in ihrer Verlassenheit, denn es gibt einen großen Moment in der Geschichte der Kulturen, der Moment einer Vorherrschaft, um mit Fernand Braudel zu sprechen, als Bagdad die Weltkapitale war, im 9./10. Jahrhundert, bevor diese nach Westen wanderte. Im 13. Jahrhundert war es Kairo, dann wurden wir Zeuge, wie die Weltkapitale an die Nordküste des Mittelmeers zog, mit Genua und Venedig, bevor sie sich noch weiter von der islamischen Welt entfernte, indem sie sich im 17. Jahrhundert in Amsterdam niederließ und im 19. Jahrhundert in London, schließlich im 20. Jahrhundert in New York und im weiteren wahrscheinlich an der Pazifikküste der USA, das läßt sich in dem spektakulären Wettstreit absehen, der zwischen Asien und den Vereinigten Staaten stattfindet. Die Weltkapitale entfernt sich geographisch also immer weiter vom islamischen Raum. Vor allem ab dem Augenblick, in dem die Muslime am Ende des 18. Jahrhunderts in spektakulärer Weise feststellen mußten, daß sie historisch im Hintertreffen waren. Dies führte dazu , daß viele Länder, die zum Gebiet des Islam gehörten, kolonisiert wurden, da sie sich in der schwachen Position eines Kolonisierbaren befanden. Ab diesem Zeitpunkt entsteht, langsam und allmählich in einem psychologischen Prozeß, sowohl bei Arabern als auch bei Muslimen gegenüber dem Westler das, was Nietzsche "Nachgefühl", Ressentiment, genannt hat (dieser wichtige Begriff beschreibt auf effiziente Weise das Verhältnis zwischen Psychologie und Ethik, wie es in der Genealogie der Moral entwickelt wurde). Nietzsche selbst hält in seinen Schriften fest, daß das islamische Subjekt eher zu dem gehörte, was er aristokratische Moral nennt, also eine Moral der Affirmation, dessen, der gibt, ohne nehmen zu wollen, während das Ressentiment typischerweise dort entsteht, wo einer nimmt, aber nicht über die Mittel verfügt, um zu geben; er ist nicht affirmativ, er sagt nicht "Ja", denn das ergibt einen Menschen, der auf die Welt ausstrahlt und sozusagen von Natur aus hegemonial, souverän ist. Das islamische Subjekt wird dagegen zum Menschen des "Nein", zu demjenigen, der ablehnt und daher auch nur reagiert. Ganz allmählich wächst das Gefühl, das dem islamischen Subjekt unbekannt war, in ihm heran und wird nachgerade zentral. Ich glaube die Triebfeder aller fundamentalistischen Operationen, die heute stattfinden, ist dieses Anwachsen des Ressentiments im islamischen Subjekt, ein Zustand, den es historisch nicht kannte und der es ursprünglich nicht prägte, seit es als Subjekt in die Geschichte eingetreten war. Dieses basiert freilich auf dem Ende der Kreativität, dem Ende eines Beitrags zur Zivilisation, der einst von der gesamten islamischen Kultur ausging. Das islamische Subjekt ist zum Ungetrösteten der Verlassenheit geworden. Nur eines kommt seit der Kolonialzeit hinzu, denn in der Kolonialzeit war es schon seit mehreren Jahrhunderten nicht mehr kreativ im Bereich der Wissenschaft und selbstverständlich auch abgeschlagen in der technologischen Entwicklung, es beherrschte auch nicht mehr die Technik. Es hat also ein Jahrhundert, anderthalb Jahrhunderte benötigt, um die Technik zu beherrschen, etwas, was im Grunde zum Stadium des Konsums und des Betriebs gehört und nicht zur Produktion. Man ist nicht bei der konzeptionellen Entwicklung des Flugzeugs dabei, nicht bei der realen Erfindung des Flugzeugs, aber man kann ein Flugzeug bewundernswert steuern und seine Nutzung zweckentfremden.

Hat dies mit dem Fehlen einer zur europäischen Epoche der Aufklärung entsprechenden Entwicklung zu tun? Die Kritik des Gottesbegriffs, die Trennung von Kirche und Staat, die Entwicklung der Naturwissenschaften, die Durchsetzung individueller Freiheitsrechte hat in ihrem Zusammenspiel die Entwicklungsdynamik des Westens freigesetzt. Gab es eine vergleichbare Periode im Islam oder spielt deren Fehlen eine entscheidende Rolle?

Alles hat im Islam sehr früh stattgefunden, z.B. gab es etwas, was sich an der Schwelle zum Rationalismus befunden hatte. Es hätte auch zu einem offiziellen Rationalismus werden können und war von großer Bedeutung; im 9. Jahrhundert kam es mit der Bewegung, die man Mutazila nennt, sogar beinahe zu einer Aufhebung der Idee von Gott. Man gab der Vernunft das Primat und versuchte zwei Ideen zu erschüttern, die damals vorherrschend waren: Zum einen eines der zentralen Dogmen des Islam, nämlich daß der Koran ein nicht geschaffenes, ewiges Werk sei, das so wie es war, vom Himmel herabgekommen ist. Die Mutazila argumentierten hingegen, vielleicht stamme der Gedanke vom Himmel, aber jede Konkretisierung der Schriften in einer irdischen Sprache müsse zwangsläufig im Augenblick der Eingebung menschengemacht sein. Die Inspiration stamme also vielleicht von Gott, aber das Werk sei aus menschlichem Handeln hervorgegangen. Dies bedeutete einen wirklich spektakulären Angriff auf eines der theologischen Dogmen des Islam. Ein weiterer Punkt ist die Ausschaltung Gottes: er wird von der Welt in das Unerkennbare, das ihn ausmacht, in eine Transzendenz so weit entfernt, daß der Mensch von der Vorsehung befreit und zum alleinigen Verantwortlichen seines Handelns werden könnte.

Mutazila war eine theologische Bewegung, die eine Zeitlang zur offiziellen Staatsideologie wurde. Es gab sogar so etwas wie eine Inquisition im Namen dieser rationalistischen Ideologie. Mit ihr wurde die damalige buchstabengetreue, puristische Schule sehr heftig bekämpft. In der Ahnenreihe des Purismus und des Willens, zur reinen Lehre zurückzukehren, wird immer eine bestimmte Figur aufgerufen. Der berühmte Ibn Hanbal (780-855), einer der Lehrmeister des Islam, wurde zu Zeiten der Mutazila sehr hart unterdrückt und gefoltert, weil er angeblich eben diesen Standpunkt einnahm, den die zur Staatsideologie gewordene rationalistische Schule kritisierte. Historisch gesehen ist diese theologische Bewegung allerdings gescheitert.

In einer ähnlichen Entwicklung und im gleichen kulturellen Klima Bagdads fanden in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts großartige poetische Umwälzungen statt, die praktisch das Gegenstück zu der poetischen Revolution waren, die im 19. Jahrhundert in Frankreich stattgefunden hat. Es gab damals Dichter, die einem Baudelaire entsprachen, einem Verlaine, einem Rimbaud, sogar einem Mallarmé, eben in dem Auftreten eines sich radikal widersetzenden Individuums und die in sehr starker Weise die sprachliche Überschreitung als Motor des Gedichts geltend machten. Eines der wichtigsten Beispiele wurde von einem persischen Dichter gegeben, der aber in Arabisch schrieb, Abu Nuwas (763 ca. 813). Er war der Dichter, der in höchst provokanter und heftiger Weise den Wein besang, der im Islam verboten ist, und in seinen Amouren die homosexuelle Liebe. Das führt zur vielleicht lebendigsten Dichtung, die man heute lesen kann, in einer so lebendigen Sprache, als sei sie gestern geschrieben worden. Die Tinte scheint noch nicht ganz getrocknet zu sein. Stellen Sie sich also diese spektakulären schöpferischen Momente vor, dazu wurde in Bagdad schon im 9. Jahrhundert der Grundstein gelegt. Das Gebäude wurde später in der Geschichte nicht weitergebaut, aber immerhin hat es einen Versuch gegeben, sehr früh, als das in Europa noch nicht stattfand.

Als ein weiterer Faktor wäre zu nennen, daß der Geist der islamischen Kultur und die Materialität der islamischen Gesellschaft als solche, die sich in Gegenständen des Handwerks und Kunsthandwerks, in der Baukunst ausdrücken konnte, daß die Kunst immer vom Stand der Wissenschaft und der Technik unterstützt wurde. Es gab immer Beziehungen beispielsweise zwischen der Architektur, dem Ingenieurwesen und Kenntnissen in der Geometrie, also zwischen einer spekulativen Wissenschaft und ihrer konkreten Anwendung. Man kann sagen, in Bezug auf die Wissenschaft, den Stand der Technik und der Künste, war die islamische Kultur dem, was in Europa bis zum Barock und der Klassik entwickelt wurde, gleichauf.

Dies beinhaltet eine Zeitgenossenschaft, selbst wenn diese sich im 11., 12. oder 13. Jahrhundert ereignete, die dem Geist des 17. Jahrhundert entsprach, ich würde sagen einer Entwicklung, die vor Descartes, Kepler und Kopernikus lag. Im Anschluß an die drei mit den eben erwähnten Namen verbundenen Revolutionen sollte dann die spektakuläre Bewegung des 18. Jahrhundert einsetzen, die Aufklärung, die Europa vom Rest der übrigen großen Kulturen absetzen sollte, den Kulturen des Islam, den Kulturen in China und Indien. Es ist das 18. Jahrhundert, das mit seinem Denken und dessen Anwendung zur Abkoppelung des Westens geführt hat.

Dieses 18. Jahrhundert basierte vor allem auf der neuen Auffassung von Freiheit, auf der grundsätzlichen Stärkung der Idee vom Individuum, auf den Menschenrechten. Die andere grundlegende Idee ist die Art und Weise, wie man sich von der Religion wenigstens abgrenzt, es ist das Jahrhundert der Trennung im Gegensatz zur Konsubstantialität des Politischen und Religiösen. Und man kann sagen, daß die ganze Problematik, die sich ausweitet und kristallisiert und zu den Lösungen führt, die Europa einschlagen wird, ihren Anfang nimmt in diesem 18. Jahrhundert. Die Historiker sehen diesen Anfang in einem arabischwestlichen Text, dem berühmten Text von Averroes mit eben dem Versuch, den Bezug zwischen Religion und Philosophie, Theologie und Technik zu überdenken, wobei die Philosophie als Technik aufgefaßt wird. Der Begriff, mit dem sie dort bezeichnet wurde, heißt im Arabischen "ela", das Instrument, das Instrument zum Denken, wir haben es also wirklich mit Technik zu tun. Dieses Denkinstrument war natürlich das "Organon", d.h. von Aristoteles ererbt. Hier beginnt die Problemstellung, sie entwickelt sich weiter über die Averroisten, die freilich Europäer waren. Ich erwähne das alles, um zu zeigen, daß wir hier im Islam in der gleichen Perspektive sind wie der westlichen, aber sie hat an diesem Punkt ihr Ende gefunden.

Wenn man verfolgt, was dann geschieht, kommen wir zum Aufblühen des Fundamentalismus und der globalen Dimension, die er erhält. Zumindest das Ereignis, das wir gerade erlebt haben, ist in einem Wandel des westlichen Modells begründet, das vom europäischen zum amerikanischen Modell übergeht. Ich bin im europäischen Modell großgeworden, es entstammte der französischen Aufklärung und hat mich in doppeltem Sinne geprägt, zugleich in der arabischen und der französischen Tradition. Das Scheitern dieses Modells wurde mir klar, als sich die Frage des Schleiers erneut stellte. Ich stamme aus einer traditionellen Familie muslimischer Theologen und Gelehrter in Tunis, die der theologischen Tradition angehört, und ich habe in den fünfziger Jahren in einer der Hochburgen des Islam der Entschleierung der Frauen beigewohnt, im Namen einer Ideologie der Verwestlichung und der Modernität. Es war für mich wie ein Schock, als sich die Frage des Schleiers und der Wiederverschleierung der Frauen in einer der Hochburgen der Freiheit und der westlichen Kultur erneut stellte, nämlich in Frankreich, in Paris. Ich fragte mich, was geht hier vor, wo liegt das wirkliche Problem? Warum taucht das wieder auf, wo ich doch geglaubt hatte, wir befänden uns in einem unumkehrbaren Prozeß der Verwestlichung der Welt, von dem auch die islamischen Gebiete erfaßt werden würden? Nachdem ich dann etwas mehr vom arabischen Orient gesehen hatte – Tunesien ist ein sehr verwestlichtes Land – mußte ich in den anderen Ländern feststellen, daß, und zwar in massiver Form, ein Konsumismus wie in Amerika neben einem simplifizierten, schematischen traditionellen Denken besteht. Die Tatsache, Teil der Konsumwelt zu sein, impliziert offenbar nicht notwendig eine Reform der Seele.

Das beste Beispiel für dieses Paradox, das mir nachgerade irrsinnig vorkommt, das praktisch sogar Heidegger widerspricht, ist auf höchst spektakuläre Weise in Saudi-Arabien verkörpert. Saudi-Arabien ist in seinen politischen Verbindungen grundsätzlich westlich, proamerikanisch in seinen Städten, gleichzeitig fördert es aber einen Islam, der nicht mal ein traditioneller Islam ist, es ist ein so puristischer, schematischer und simplifizierter Islam, daß er in seinen Überzeugungen schon von der Vernichtung der islamischen Kultur ausgeht. Denn alles, was in der islamischen Kultur an Großem geleistet wurde, alles was in ihr an Schönem hervorgebracht wurde, geschah nicht in der buchstäblichen Anwendung der islamischen Lehre, sondern eher in ihrer Überschreitung oder zumindest unter ihrer Umgehung oder in der Absicht, diese Lehre zu vergessen und zu ignorieren. Wenn man zum Buchstaben des Islam zurückkehren möchte, muß man die Sufis und Theosophen verbrennen, die gewagt haben, frei zu denken wie Ibn Arabi, sie auf den Index setzen oder verbieten. Man muß die Märchen aus Tausendundeiner Nacht verbrennen und so weiter. Man wird dazu übergehen, einen sehr berühmten Dichter auszulöschen, ich habe ihn schon erwähnt, den Freidenker von Bagdad aus dem 9. Jahrhundert, Abu Nuwas. Man muß also feststellen, daß das Aufkommen dieses Islam der reinen Lehre gegen den Islam selbst als Kultur und Gesellschaftsordnung gerichtet ist. Besonders erstaunlich ist das Nebeneinander zwischen dieser archaischen Regression und das Eintreten in die Ära der Technik und der Technologie, sowohl als Konsument als auch als Nutzer in jedem Sinne des Wortes. Die Leute in Saudi-Arabien sind nun im Kern ihrer Aporie angelangt, denn während sie zur westlichen Allianz gehören und gerne in der Pax Americana bleiben möchten, sind sie es, die den realen oder virtuellen Bürgerkrieg gefördert haben, der in der gesamten muslimischen Welt droht. Sie sind es, die diese Idee der Rückkehr zur reinen Lehre finanziert, unterstützt und restauriert haben. Sie haben als erste versucht, den religiösen Buchstaben als wichtigstes, als Basis des Rechts hinzustellen, indem sie auf körperlicher Züchtigung bestehen, mit der in der heiligen Schrift verankerte Verhaltensregeln durchgesetzt werden sollen.

(...)

Aus einem Gespräch mit Frank Berberich vom 19. September 2001

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