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Cover Lettre International 74, David Reeb
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LI 74, Herbst 2006

Mein Warschaukoller

Der Aufstand 1944 aus der Sicht eines Wehrmachtsoldaten

"O, hier habe ich ein Andenken aus Warschau." Der ältere Mann hebt sein Kinn hoch und zieht die Haut wie beim Rasieren straff; unter den Falten am Hals ist eine schmale Narbe zu sehen.

"War das ein Messer?"

"Ich glaube, ein Bajonett. Seit sechzig Jahren sage ich mir immer wieder: Es war nicht scharf genug. Ein Pole wollte mir die Kehle durchschneiden. Ich habe nur seine Augen und das Aufblitzen seines Helms wahrgenommen. In Warschau habe ich 19 Messer- und Bajonettnahkämpfe bestanden. In Kellern. Die Keller waren das zweite Warschau. Wenn man im Keller kämpft, ist es still, man sieht nichts. Ich war schneller. Ich habe diesen Polen getötet. Warschau bleibt mein schlimmstes Erlebnis."

Sommer 1944. Mathi Schenk und sein Kamerad Peter essen in einem Wirtshaus Bohneneintopf. Beide haben ihre Wehrmachtsuniformen an. Sie sind kurz aus der Kaserne in die Stadt abgehauen und unterhalten sich über diesen Dummkopf Fels und darüber, daß es gestern schon wieder ein paar Jungs geschafft haben, Fahnenflucht zu begehen. Mathi darf nicht weglaufen, weil die Gestapo gedroht hat, in einem solchen Fall seinen Vater an die Ostfront zu schicken. Er ist der Jüngste bei der 46. Sturmbrigade, man nennt ihn Bubi. Vor kurzem wurde er 18. Sie liegen in der Nähe von Bonn. Man hat sie ausgetrickst. Zuerst hat man Freiwillige für die SS gesucht, dann für eine neue Sturmbrigade; niemand hat sich gemeldet. Schließlich hat man verlauten lassen, man brauche LKW-Fahrer. Die Jungs haben Schlange gestanden. Jeder wollte Auto fahren. Mathi war glücklich, einen Platz bekommen zu haben. Sie bekamen neue Uniformen, Schutzbrillen und wurden hierhergebracht. Vor Ort begrüßte sie Oberleutnant Fels: "Ihr Rübenschweine, was seid ihr angezogen wie Zirkuskünstler?! Ab mit den Brillen!"

Von LKWs war keine Rede mehr.

Der Wirt stellt das Radio lauter. Man spricht vom Führer, von einem Attentat auf ihn und daß er wohl tot sei. Im Wirtshaus wird es still. Auf der Straße sind Soldaten auf Motorrädern unterwegs. Man hört Befehle. Auf einmal leert sich der Saal. Das Essen bleibt stehen. Niemand zahlt. Der Wirt versteckt sich hinter der Theke. Mathi und sein Kollege verschwinden durch die Hintertür.

In der Kaserne herrscht Chaos, die Sirenen heulen. "Ist Hitler tot?", fragt ein Soldat. "Haltet die Schnauze! Auch wenn wir ganz allein geblieben sind, bleiben wir unserem Führer treu. Wer zögert, wird erschossen!" schreit Fels. Um die Kaserne stellt er Wachen auf, und die Soldaten lachen heimlich, da man doch noch gar keine Waffen hat.

Gewehre und Handgranaten bekamen sie erst nach einigen Tagen. Bereitschaft. Das Orchester spielte. Sie marschierten zum Bahnhof und waren sicher, nach Frankreich zu fahren. Sie freuten sich, weil es dort einfacher gewesen wäre, sich aus dem Staub zu machen. Es gab Proviant für zwei Tage und reichlich Rotwein in Zwanzig-Liter-Kanistern. Die Waggons waren offen, auf ihren Böden lag Heu. Bequem. Sie tranken, sangen, spielten Karten. Die Menschen auf den Feldern winkten ihnen zu. Während einer Rast wurde Bubi nach hinten geschickt, die nächsten zwanzig Liter Wein zu besorgen. Der Zug war lang, und als er losfuhr, schaffte es Mathi nicht mehr zurück. Die Nacht verbrachte er kauernd auf einem Treppchen zwischen zwei Waggons. Früh am Morgen, als der Zug an kleinen Dörfern vorbeifuhr, war er daher der einzige Nüchterne. Sofort dachte er, es muß Polen sein, weil das Land flach war und die Häuser mit Stroh gedeckt. Man fing schon wieder an zu trinken. Es war warm an diesem 1. August. Sie lagen auf Heu und lauschten dem Rattern der Räder. Auf einmal sah er, wie das Holz von Brettern auf merkwürdige Weise splitterte. Geschrei, Blut. "Jemand schießt auf uns!" Der Zug fuhr rückwärts. Die Verwundeten starben, die Betrunkenen wurden wach. "Scheiße, die haben uns an die Ostfront verschleppt." Selbst der Kompanieführer torkelte und war unfähig zu kämpfen. Irgendwelche Kinder baten um Brot. Über die Felder lief ein Soldat; seine Uniform war zerfetzt, sein Gesicht mit Blut verschmiert. "In Warschau ist ein Aufstand ausgebrochen!" schrie er.

Sommer 2004. Es sind 1 200 Kilometer von Warschau bis nach Büllingen, dem kleinen belgischen Dorf an der deutschen Grenze (auf einer Straßenseite eine belgische Kneipe, auf der anderen eine deutsche). Die Gegend wirkt sehr malerisch. Mathias Schenk lebt mit seiner Frau und dem jüngsten Sohn in einem kleinen Bauernhaus mit Strohdach, das schon seinen Vorfahren gehört hat. Die Großeltern haben dieses Fleckchen "Hummelsdell" getauft  nach dem Hummelschwarm, der in der alten Esche genistet hat.

Über dem Kamin hängt ein Bild, die Gottesmutter von Tschenstochau, ein Geschenk polnischer Bauern aus Ochodza, die ihm 1945 das Leben gerettet haben.

Wir sind nach "Hummelsdell" gefahren, um uns einen Bericht über den Warschauer Aufstand anzuhören. Einen Bericht der anderen Seite.

Es erzählt Mathias Schenk, ein achtundsiebzigjähriger Belgier, damals ein achtzehnjähriger Sturmpionier, der einen Weg für die SS gebahnt hat. Sein Zug war der letzte, der am 1. August im aufständischen Warschau ankam.

"Es läßt sich nicht einfach so erzählen ..." der ältere Mann verzieht sein Gesicht. "Wenn man Leichen verbrennt, bewegen sie sich. Man hört Geräusche, beinahe Stöhnen. Damals dachte ich, daß sie wirklich noch lebten. Und diese Fliegen, Würmer. Wie viele Menschen wurden in Warschau getötet? Ich glaube, 350 000. Stimmt's?"

(...)

"In Warschau sind wir über Katzenkopfpflaster einmarschiert. Die Polen haben geschossen, aber sie waren nicht zu sehen. An den Häusern weiße Fahnen. Ich bin durch ein eingeschlagenes Fenster in ein Haus hineingesprungen. Auf der Treppe lagen ein Mann und eine Frau, beide getötet ... durch Kopfschüsse.

Wir stürmten weitere Häuser, überall lagen Leichen von Zivilisten, Frauen und Kindern. Alle hatten ein Loch im Kopf. Wir erreichten die SS-Kaserne. Die zweite Kompanie, die mit LKWs gekommen war, war in eine falsche Straße eingebogen, direkt gegen die polnischen Stellungen. Ein paar Lastwagen brannten, die Soldaten flohen. Viele liefen auf die polnischen Schützen zu. Ein Feldwebel fiel ein paar Meter vor mir.

Am nächsten Tag hatten wir irgendeinen Weg einzunehmen. Wir gingen durch Schrebergärten. Unser Kompanieführer Oberleutnant Fels jagte uns vorwärts. Es war eine Tür in dem Haus zu sprengen, aus dem am meisten geschossen wurde. Wir schmissen Handgranaten hinein und sprangen hinterher. Die Polen umzingelten uns, ein kurzer Messerkampf, und wir flohen ins Gebüsch. Vier von unserem Waggon fielen. Dann jagte uns Fels wieder zum Angriff, aber die Polen waren gut versteckt. Wir konnten uns nicht zurückziehen, weil auch von hinten geschossen wurde. Die ganze Nacht verbrachten wir in diesen Schrebergärten, wie gejagte Tiere. Ich hatte Durst und fand ein paar Tomaten. Die Polen haben uns andauernd beschossen. Am Abend des nächsten Tages kam Infanterieunterstützung, aber trotzdem konnten wir nicht vordringen. Dann kam eine SS-Abteilung. Sie sahen merkwürdig aus. Sie hatten keine Rangabzeichen, stanken nach Schnaps und gingen sofort zum Angriff über - ,Hurraa!' -, und sie fielen zu Dutzenden. Ihr Führer in schwarzem Ledermantel wütete hinter ihnen und jagte die nächsten zum Sturm. Dann kam ein Panzer. Zusammen mit den SS-Leuten sind wir hinterhergelaufen. Ein paar Meter vor den Gebäuden wurde der Panzer getroffen. Er explodierte, eine Soldatenmütze flog hoch in die Luft, und wir sind schon wieder weggelaufen. Der zweite Panzer zögerte. Wir deckten vorne, die SS pferchte die Menschen aus umliegenden Häusern zusammen, ließ sie um den Panzer Aufstellung nehmen und zwang sie, sich daraufzusetzen. Zum ersten Male im Leben habe ich so etwas gesehen. Eine Polin mit langem Mantel wurde von ihnen gehetzt, sie drückte ein kleines Mädchen an ihre Brust. Menschen, die sich schon auf dem Panzer zusammendrängten, halfen ihr hinaufzuklettern. Jemand nahm ihr das Mädchen ab, und als er das Kind an die Mutter zurückgab, fuhr der Panzer los. Die Kleine rutschte der Mutter aus den Händen und fiel unter die Gleiskette. Die Frau schrie. Einer der SS-Männer verzog sein Gesicht und schoß ihr in den Kopf. Sie fuhren weiter. Diejenigen, die wegzulaufen versuchten, wurden von den SS-Leuten erschossen.

Der Angriff hatte Erfolg. Die Polen zogen sich zurück. Wir liefen hinterher. Aus den Kellern hinter uns kamen Menschen mit erhobenen Händen heraus. ,Nich Partisani!' schrien sie. Ich konnte nicht sehen, was dort passierte, weil wir uns gerade einen Feueraustausch mit Polen lieferten, aber ich konnte hören, wie der SS-Mann mit Ledermantel seinen Leuten zurief, sie sollten alle töten. Auch Frauen und Kinder.

Wir stürzten hinter den Polen her in ein Haus hinein. Wir waren zu dritt. Wir befanden uns unten, die Polen griffen von den oberen Etagen und vom Keller aus an. Die ganze Nacht lang verbrannten wir Hausrat, damit wir etwas sehen konnten. Immer wieder gab es Bajonettkämpfe. Morgens früh sah ich, daß wir nur noch zu zweit waren; der dritte Kollege lag da mit durchgeschnittener Kehle. In allen Zimmern herrschte Stille. Vom gegenüberliegenden Dach aus schoß ein Heckenschütze. Wir haben ihn getroffen, er fiel herunter und blieb mit einem Bein am Gebälk hängen. Er hing mit dem Kopf nach unten. Er lebte noch lange.

Als wir zurückgingen, lagen überall auf den Straßen Leichen von Polen. Es gab kaum eine Lücke, man mußte über die Leichen gehen, die bei der Hitze sehr schnell verwesten. Die Sonne wurde von Staub und dickem Rauch verdeckt. Unmengen von Ungeziefer und Fliegen. Wir waren blutverschmiert, die Uniformen klebten. Oberleutnant Fels, der blöde Fanatiker, begrüßte uns: ,Wo seid ihr gewesen, ihr Rübenschweine?!' Er lobte die SS für ihre gute Leistung. Ich konnte nichts essen, wir haben nur noch gekotzt."

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024