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Cover Lettre International 73, Jannis Kounellis
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LI 73, Sommer 2006

Die Manege erwacht

Zwanzig Photogramme für Pedro Almodovar

Das Leben ist ein Traum, das Leben ist ein Theater, das Leben ist ein Zirkus. Drei Darstellungsweisen des menschlichen Lebens, die gewissermaßen zu drei Axiomen der modernen europäischen Kultur geworden sind. „Das Leben ist ein Traum“ ist ein barockes Axiom, das bei Calderón de la Barca beginnt (obwohl sein Ursprung bei Platon und den Neuplatonikern der Renaissance liegt), bei Shakespeare eine metaphysische Deutung erfährt („We are such stuff/ as dreams are made on, and our little life/ is rounded with a sleep“) („Wir sind aus dem Stoff,/ aus dem die Träume sind, und unser kleines Sein/ umgibt ein Schlaf“) und von Borges als Paradox formuliert wird. („Wir träumen nicht nur unser Leben, sondern werden von ihm geträumt.“) Daß das Leben ein Theaterstück sei und wir bei dieser Aufführung die uns zugedachten Rollen spielten, ist ein verwandtes Thema. Auch dieses ist barocken Ursprungs, findet in Shakespeare seinen ersten großen Interpreten und taucht immer wieder auf, je nach Epoche und Künstler in unterschiedlichen Varianten: bei der Commedia dell’arte, bei Molière, Balzac, Puschkin, Pessoa, Pirandello, Artaud. Die zeitgenössische Variante, daß das Leben ein Zirkus sei, ist eine Erfindung der spätromantischen Literatur um die Wende zum 19. Jahrhundert und findet ihre großen Interpreten in Kafka, Bekkett, Fellini und ihren Clowns.

Wie aber soll man die Grenze zwischen Tragödie und Farce ziehen? Worin besteht der Unterschied zwischen Grausamkeit und Unterhaltung? Je pathetischer das Schauspiel ist, desto mehr vergnügen sich die Zuschauer. Tschechow hielt sein Theater für „humoristisch“. Und brachte nicht auch Kafka seine Freunde zum Lachen, indem er ihnen die Verwandlung und die unglückliche Geschichte des Mäuschens Josephine vorlas, die Geschichte der Opernsängerin, die die Stimme verloren hatte? Und gehört Artauds Grausamkeit in den Bereich des Tragischen oder des Komischen? Und ist Buster Keatons verblüfftes Gesicht, das in Becketts Film von der Kamera verfolgt wird, komisch oder traurig? Und ist der Clown, der Purzelbäume schlagend in der Manege stirbt, komisch oder tragisch? Worte fallen einem ein, die Platon am Ende des Symposions Sokrates in den Mund legt, der sich an Aristophanes und den jungen Tragödiendichter Agathon wendet. Komödien und Tragödien, sagt Sokrates, sollten nicht von verschiedenen, sondern von ein und demselben Autor geschrieben werden.

Almodóvar scheint eine Synthese dieser drei Sichtweisen geschaffen zu haben: Das Leben ist zu
gleich Traum, Theater und Zirkus. Auf dieser Annahme basieren im seine Filme.

Vielleicht hatten die Künstler am Ende dieses erschöpften Jahrtausends mehr denn je das Gefühl, sie müßten den Clown spielen, um zu existieren, sie müßten in dem „Engpaß“ einer in Künstlichkeit erstickenden Moderne „vortäuschen, was sie wirklich sind“, um authentisch zu sein. Der späte Beckett legte eine tragische Maske des Schweigens auf das Clownsgesicht (Fin de partie, Acte sans paroles); Fernando Pessoa und Bergman in Persona geben dem echten Schmerz den Anstrich des Fiktiven. („Der Poet verstellt sich, täuscht/ so vollkommen, so gewagt,/ daß er selbst den Schmerz vortäuscht,/ der ihn wirklich plagt.“) Aber das Bild der Maske mit den zwei Gesichtern ist älter als Platon und Sokrates, es geht auf die Vorsokratiker zurück. Demokrit zieht sich aus Weltschmerz und Ekel vor der Dummheit der Menschen nach Abdera zurück und bricht in schallendes Gelächter aus; die Abderiten halten ihn für verrückt und rufen den großen Arzt Hippokrates, der mit ihm den „Sitz der Vernunft, entweder im Herzen oder im Kopf“ sucht. Und der große Tragiker Aischylos kennt bereits die lächerliche Natur der Phantome, die wir sind, und der Phantasmen, die in uns wohnen. Im griechischen Theater brachte eine grimassierende Maske gleichzeitig Lachen und
Weinen zum Ausdruck – und schon war der Clown geboren, lange bevor er in der modernen Sprache als Clown bezeichnet wurde. Aber was ist überhaupt ein Clown?

In den Filmen Almodóvars sind die beiden Clowns, der Tradition entsprechend, immer gleichzeitig auf der Bühne. Oft sind sie auch ein und dieselbe, eine doppelgesichtige Person. August liefert die Gags, die das Publikum zum Lachen bringen. Dem armen Clown zerplatzt ein Ballon zwischen den Beinen, August glaubt sterben zu müssen, er wälzt sich, von Krämpfen geschüttelt, auf dem Boden der Manege, das Publikum lacht und applaudiert. Plötzlich sind auf den Sägespänen echte Blutstropfen. Und jetzt, wo er uns den Rücken zukehrt, sehen wir den weißen Clown mit seiner gespenstischen Maske. Memento mori, sagt der Tod zu ihm. Der dumme August dreht sich aufs neue dem Publikum zu und stellt den Tod zufrieden, er stirbt zum Spaß noch einmal, und das Publikum applaudiert aufs neue. Ach, was für ein großartiger doppelter Gag!

In erster Linie muß ein Clown die Fähigkeit besitzen, sich zu verkleiden. Eben noch war der Clown ein Vagabund, er trug ein zerrissenes gestreiftes Trikot, eine komische Melone, aus seinen Schuhen lugten die Zehen heraus, doch jetzt trägt er wie durch ein Wunder einen Frack, und auf dem Kopf hat er einen Zylinder. Ein Clochard hat sich in einen Bankier verwandelt. Der Bankier ist hinter einem Spiegel verschwunden, ist dort zwei Sekunden lang geblieben, und als er wieder herauskommt … ist er eine Dame! Er trägt ein Seidenkleid, Schuhe mit hohen Absätzen und einen wunderschönen Federhut. Was für eine schöne Frau. Wirklich eine femme fatale. Hat der andere Clown, der Akrobat, der gerade noch mit einem Einrad durch die Manege fuhr, nicht plötzlich einen gezwirbelten Schnurrbart wie ein Athlet aus dem 19. Jahrhundert und trägt er nicht ein altmodisches Badekostüm, das seine männlichen Attribute betont? Wie ist es möglich, daß auch er sich in eine schöne Frau mit einem Schleier über dem Gesicht verwandelt hat, die ihre Rivalin herausfordert? Was für ein Scherz soll das sein? Er war also eine als Mann verkleidete Frau.

Im Kino Almodóvars ist der Transvestit ein androgynes Wesen. Wir fragen uns bezüglich seines Geschlechts: Ist er ein als Frau verkleideter Mann oder eine als Mann verkleidete Frau? Aber er stellt uns ebenfalls eine Frage: Ist ein Mann ein Mann, in dem sich eine Frau verbirgt, oder eine Frau, die den Mann hervorkehrt? Oder: Ist eine Frau eine Frau, in der sich ein Mann verbirgt, oder ein Mann, der eine Frau hervorkehrt? Ach, was für ein schwieriges Rätsel. Der Machismo (aber auch der Feminismus) ist hier an sein Ende gelangt. Wer ist männlicher: der Torero, der vor dem Stier tanzt, oder der Stier, der ihn beobachtet? Ist der Tod männlich oder weiblich?

Nur der Clown kann dem Tod die Stirn bieten. Weil er sich mit seinem doppelten Gesicht über ihn lustig macht. Der Gaukler tänzelt um den Tod herum. Oder er setzt sich vor ihn hin und schaut ihn an. Er ist eine Sphinx, die das Nichts anstarrt. (Picasso) Er ist ein Verrückter, dem es schlecht geht. (Fellini, La strada) Er ist der unglücklichste Mensch auf der ganzen Welt. (Buster Keaton) Er ist außerhalb der Zeit. (Vladimir und Estragon) Das Leben möchte den Clown packen und festhalten, aber der Clown läßt sich vom Leben nicht packen und festhalten. (Charlie Chaplin)
Vielleicht sind wir wirklich nur armselige Marionetten, die nach dem Unendlichen streben, die in ihrem Elend das Höchste anhimmeln, die im Dreck leben und dabei die Sterne bewundern. „Engel und Puppe, und schon ist Theater“, heißt es in einem Gedicht Rilkes. Ist das Leben eine Komödie? Oder eine Tragödie? Oder eine Farce? Oder alles gleichzeitig und gleichzeitig sein Gegenteil? Schweigen wir, der Vorhang hebt sich. Almodóvars Schauspiel beginnt.

Das Kino Almodóvars gleicht einer Fahrt durch die Clownerie des Lebens, diesen uralten und immer wieder neuen Archipel, wo der Clown in uns alle Masken aufsetzt und alle Posen einnimmt, die ihm seine synkretistische Natur gestattet. Er ist Tolpatsch und Engel, Opfer – ein Ebenbild Christi – und Verbrecher, der an die Stelle des Teufels tritt; er ist eine feixende Grimasse und der Schleier der Melancholie, das ausgelassene Lachen und die Träne aus Glas, die auf unserer Wange klebt, die Lebensfreude und die Melancholie, die Euphorie und die Dysphorie, die kindliche Fröhlichkeit und die abgrundtiefe Schwermut. Aber vor allem ist er das Begehren. Denn wir begehren, begehren, begehren. Der Mensch ist ein begehrendes Geschöpf. Und das Leben ist Begehren.

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