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Cover Lettre International 45, Rainer Leist
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LI 45, Sommer 1999

Jineteras - “Reiterinnen”

Mit ihrem ovalen Gesicht, der Adlernase und dem geschmeidigen Körper einer Josephine Baker erinnert sie an eine Raubkatze. Die kreisende Beleuchtung um das Café Cantante von Havanna gleitet über ihren langen Hals und ihre schlaksigen Gliedmaßen, und während sie die Hüften und den Brustkorb in entgegengesetzter Richtung wiegt, schwingt ihr jungfräuliches Puppenkleidchen hin und her. Die Art ihrer Bewegungen bezeichnet man als mono, eng verwandt mit der Bewegung, die während des Geschlechtsaktes vollzogen wird und bei den Paaren, die sie ausüben, erotische Verzückung hervorruft. Doch dieses Mädchen, das nicht älter als siebzehn ist, tanzt allein.

Ihr Aussehen, ihr Alter und ihre hautenge Kleidung, die die Hüften betont, sind eindeutige Zeichen: Sie teilen uns unmißverständlich mit, daß es sich um eine jinetera handelt. Dies ist der umgangssprachliche Ausdruck für eine Frau, die in Kuba Ausländern eine Reihe von Diensten - einschließlich Sex - gegen Geld anbietet. Das Café Cantante fungiert als Rückzugspunkt für die kulturelle Elite des Landes und die Touristen, die einen nächtlichen Rundgang machen.

Rum, Zigaretten, Mulattinen

Ein YUMMY (Young Urban Marxist Manager), herausgeputzt mit sportlicher Kleidung von Benetton, plustert sich auf, während er mit wiegenden Hüften auf den Tisch zusteuert, an dem ich mit einer Freundin sitze. Er beugt sich herunter, um eine Zigarette anzuzünden. "Ich habe sämtliche Handbücher über Kulturaustausch gelesen", erzählt er uns, ohne zu bemerken, daß ich eine kubanisch-amerikanische Besucherin bin, "und ich sage Ihnen etwas. Niemand kommt nach Kuba, um Ökotourismus zu machen. Was dieser Ort verkauft, befindet sich im Grunde auf der Tanzfläche: der Rum, die Zigaretten und die Mulattin."


Meine Tischnachbarin, eine Kubanerin, die in Spanien lebt, macht einen verärgerten Eindruck: "Es sind die Ausländer, die sich nicht im Griff haben, nicht die jineteras. In Madrid glaubt jeder, daß alle kubanischen Frauen Nutten sind. Ich frage mich, warum sie nicht zu ihren eigenen Prostituierten gehen und uns in Ruhe lassen."

Ich behalte für mich, daß ich ebenfalls nach Kuba gekommen bin, um mir die jineteras näher anzuschauen. Zeitschriften in ganz Europa haben in den letzten Jahren wiederholt Artikel über Kuba als Sexparadies für Touristen gebracht.

Die kubanische Exilpresse in Miami klagt die Regierung von Fidel Castro schon seit langem an, der oberste Zuhälter des Landes zu sein. Während seiner alljährlichen Zusammenkunft im vergangenen Januar hielt das Komitee der Vereinten Nationen zur Beseitigung der Frauendiskriminierung eine Marathonsitzung ab, in der sich eine von der Federación de Mujeres Cubanas (Kubanischer Frauenverband) abgesandte Sprecherin vielen Fragen zu den Lebensverhältnissen der Frauen auf Kuba stellen mußte, einschließlich der über diese "neue Welle" der jineteras.

Die Prostitution ist nichts Neues auf Kuba. Bereits im 18.Jahrhundert wurde ein spanischer Hauptmann auf die Insel geschickt, um eine Reihe von Freudenhäusern zu schließen, die vom örtlichen Klerus geleitet wurden. Für eine Gesellschaft, die sich auf der römisch-katholischen Tradition der Geschlechtertrennung im öffentlichen Leben gründet, gehörten Bordelle zu den wenigen Orten, an denen ein zufälliges Zusammentreffen offen stattfinden konnte; vor allem das Zusammentreffen weißer Männer mit schwarzen Frauen. Nicht zuletzt diente die Welt der Freudenhäuser als Quell für eine kubanische Volkskultur und eine neue Mythologie von der Sexualität der Mulattinnen.

Während der vierziger Jahre dieses Jahrhunderts wuchs der Tourismus zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige der Insel heran. Die Übernahme von Hotels und Spielkasinos durch die Mafia war eine Garantie dafür, daß die Prostitution im Nachtleben von Havanna eine bedeutsame Rolle spielen würde. Kuba wurde dafür bekannt, nicht bloß ein Freudenhaus für die amerikanischen Besucher und die Bonzen der korrupten Regierung des Präsidenten Fulgencio Batista zu sein.

Castro kam an die Macht mit dem Versprechen, dies alles zu ändern. Eine der ersten Amtshandlungen der Revolutionsregierung war es, Hunderte von Prostituierten umzuerziehen und ihnen Arbeit als Angestellte, Kraftfahrerinnen und Kellnerinnen anzubieten. Viele der Revolutionsanhänger glaubten, daß die Frau im Sozialismus ein besseres Leben haben würde. Ebenso wie die Opposition im Exil werten sie die Rückkehr der Prostitution als Zeichen dafür, daß der Sozialismus bei den Frauen fehlgeschlagen ist.

Die Wahrheit ist, daß die jineteras stets ein Teil der postrevolutionären Landschaft gewesen sind. Als ich vor einem Jahrzehnt meine ersten Besuche auf der Insel machte, sah man in den Hotelbars und auf Botschaftsempfängen nicht selten außergewöhnlich gut gekleidete Frauen. Kubanische Freunde machten mich darauf aufmerksam, daß es Sexarbeiterinnen seien, die mit dem Einverständnis des Innenministeriums agierten und über die Aktivitäten der Ausländer berichteten. Während ich mit zwei Männern in Havanna einen Dokumentarfilm drehte, bot einmal ein Kuppler, der sich vor unserem Hotel herumtrieb, meinen Kollegen zwei Frauen und ein Gramm Kokain an. Wir verstanden es als Hinweis darauf, daß die Staatssicherheit uns beobachtete. Bevor die derzeitige Welle ausländischer Kunden einsetzte, durchlief Kuba eine Phase der sogenannten titimania, während der sich ältere Männer, in der Regel hochrangige Mitglieder des Heeres oder der Regierung, junge Freundinnen als "Trophäen" hielten.

Was sich seither verändert hat, ist die kubanische Wirtschaft. Während die Regierung am Rande des Ruins entlangtaumelt, verursacht durch die Einschränkung der sowjetischen Unterstützung und das Wirtschaftsembargo der Vereinigten Staaten, verdient ein Kubaner im Durchschnitt zehn Dollar im Monat, während ein Bier in einem Club sieben Dollar kostet. Plötzlich suchen Ärzte und Lehrer, Schreiner und Schuster eine Möglichkeit, Dollars zu verdienen, die einzige Währung, die auf Kuba etwas wert ist.

Ebenso steigt in schwindelerregender Weise die Zahl der Frauen, die sich den Ausländern als zeitweise Begliiterinnen oder potentielle Ehefrauen anbieten. Als es mit der kubanischen Wirtschaft zu Beginn der neunziger Jahre bergab ging, hat sich die Tourismusindustrie in die Haupteinnahmequelle für Devisen verwandelt, und Ausländer stellen eine sehr begehrte Ware dar. Der Minister für Tourismus beabsichtigt, bis zum Jahresende eine Million Touristen auf der Insel zu empfangen. Dazu gehören Flugzeuge voll mit Männern aus Spanien, Italien, Deutschland, Kanada und sogar den Vereinigten Staaten, Männer, deren Kaufkraft und Sozialstatus sich verzehnfacht mit der Ankunft in einem Land wie Kuba, das eine starke Währung so dringend benötigt.

"Das Mösenparadies", wie Kuba häufig im Internet bezeichnet wird, ist ein Ort, an dem diese Männer ihre sexuellen Phantasien frei von polizeilicher Kontrolle ausleben können, ungefähr so wie es multinationale Konzerne machen, die billige Arbeitskräfte außerhalb ihrer Landesgrenzen suchen. In Kuba lernen sie Frauen kennen, die Dollars, ein bißchen Vergnügen und häufig ein Ticket wollen, um das Land zu verlassen. Es ist kein Geheimnis, daß viele Kubanerinnen die pepes (ausländische Kunden) als Ersatz für eine paternalistische Regierung sehen, die ihre grundlegenden Bedürfnisse nicht mehr befriedigen kann.

Bei meiner Ankunft im Januar empfahl einer der größten Salsahits auf der Insel den kubanischen Frauen, einen papiriqui con mucho guaniquiqui zu finden, womit ein mit Geld ausgestatteter Alter gemeint war.

Als die jüngste Welle der Prostitution begann, waren viele der Frauen weiß. Doch besaßen die Ausländer ihre ganz eigenen Phantasien von der Frau in den Tropen, genährt von althergebrachten Vorstellungen sexhungriger Mulattinnen. Heute sind die Prostituierten in der Mehrzahl farbige Frauen (die meisten Kubanerinnen haben eine braune oder zimtfarbene Haut und sind ärmer als ihre hellhäutigen Landsmänninen). Eine beachtliche Zahl von ihnen ist minderjährig. Viele arbeiten auf eigene Rechnung, während andere, besonders die jungen Mädchen aus der Provinz, von Zuhältern beschäftigt werden.

Fast keine von ihnen gehört einer staatlichen Einrichtung an. Den Salsaliedern, Taxifahrerwitzen und einer obszönen folkloristischen Kunst entnehme ich, daß diese Frauen auf dem Straßenstrich als heroische Geschäftsträger angesehen werden, deren sexuelle Macht dem niedergehenden machistischen Regime sein Versagen vor Augen führt. Ähnlich beschrieb es Paco, ein junger Herumtreiber, mit dem ich mich traf: "Momentan ist alles auf den Kopf gestellt. Die Männer binden sich zu Hause die Schürze um, kochen und versorgen die Kinder, während die Ehefrauen anschaffen gehen."

Hühnchen, Bohnen, Reis

Paco ist ein schmaler, magerer Typ, sieht durchtrieben aus und ist ungefähr vierundzwanzig. Er trägt kurze Haare, eine zerbeulte Jeans und eine imitierte Ray Ban-Sonnenbrille. Wir gehen in Richtung Malecón, der Uferpromenade, die um die halbe Stadt führt. Im passenden Augenblick stellt er mir Margarita und Helen vor. Beide sind Ende zwanzig und gehen bereits seit zehn Jahren anschaffen. Margarita hat einen kleinen Sohn, für den sie sorgt. Helen lebt allein.


Als sie anfingen, berichtet Margarita, waren die meisten Kunden Seeleute von der Handelsmarine oder ausländische Ingenieure. Damals war der Besitz von Dollars gesetzlich verboten, so daß sie irgendeinen afrikanischen Studenten ausfindig machten, der für sie in den Devisenläden Konsumgüter kaufte. Sie achten bis heute sorgsam darauf, nicht zu viel Aufsehen zu erregen und damit Neid zu erzeugen, denn das könnte zur Folge haben, daß irgend jemand über sie Bericht erstattet. Bis jetzt haben sie Glück gehabt und sind noch nie festgenommen worden, doch sind Freundinnen von ihnen im Gefängnis.

Ich erzähle ihnen, welches Bild man von den jineteras außerhalb der Insel hat, daß man sie häufig als vulgäre und ungebildete Frauen beschreibt, mit blondierten Haaren und in hautengen Hosen. Helen trägt einen weißen Pullover, weite weiße Hosen und eine hellbraune Jacke, ihren Kopf schmückt ein ebenfalls weißer Hut. Margarita trägt Jeans, einen blauen Pullover und Plastikohrringe. Keine von beiden hat gefärbtes Haar. "Natürliches Aussehen ist wieder angesagt", erklärt Margarita, "sogar die weißen Mädchen machen sich eine Dauerwelle, um wie Mulattinnen auszusehen."

Beide bestätigen, daß sich die Frisuren nach dem Geschmack der Kunden richten. "Den Spaniern gefallen die schwarzen Mädchen mit Zöpfen, also tragen alle negritas das Haar jetzt so. Die Italiener mögen die Mulattinnen mit Löwenmähne."

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