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Cover Lettre International 61, Friedemann von Stockhausen
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Inhaltsverzeichnis

LI 61, Sommer 2003

Australisches Bewußtsein

Träume von Land und Meer, Gefühle von Schande und Stolz

Wenn ich wie an den meisten Tagen morgens die lange Küstenlinie entlangblicke und beobachte, wie die ersten Sonnenstrahlen den Mount Warning berühren, wird mir, während das Licht nach Westen strömt, bewußt, wie ungeheuer weit die entgegengesetzte Seite unseres Landes zwei Zeitzonen und mehr als 3 000 Kilometer von hier entfernt ist. Und wie leicht paßt dennoch die gesamte Landmasse in meinen Kopf, wie eine Insel oder, wie ich sie mir manchmal denke, wie ein Floß, auf das wir alle geklettert sind, eine neue Rettungsinsel voller Leben in regem Miteinander.

Dies in all seiner Vielfalt und seinen Widersprüchen zu begreifen, ist ein ganzes Stück Arbeit für die Phantasie, und doch ist es an jedem beliebigen Morgen einfach da, greifbar und alltäglich Fließbänder und Autobahnen, von Hand zu Hand gehende Gegenstände, routinemäßige Haushaltserledigungen, durch Staatsbeamte und Gerichte verwirklichte Ideale.

Als zum ersten Mal Europäer an diese Küsten gelangten, war eines der Dinge, die sie als eine Art Geschenk für das Land selbst mitbrachten, etwas, was es davor nie hätte geben können: eine Vision des Kontinents in seiner wahren Gestalt als Insel. Diese Betrachtungsweise war nicht nur eine Art, den Kontinent zu sehen, als Ganzes zu sehen, sondern auch zu sehen, wie er sich in den Rest der Welt einfügte. Und dies scheint bereits der Fall gewesen zu sein, bevor die Umsegelung den Beweis erbrachte, daß er tatsächlich eine Insel ist.

Keine Gruppe australischer Ureinwohner, wie alt und tief ihr Wissen von dem Land auch gewesen sein mag, kann die Landmasse jemals auf diese Art gesehen haben. Dies erzeugte einen trennenden Unterschied. Während die Aborigines ein Volk von Landträumern sind, ist das, was uns Spätgekommene vereint, ein See- beziehungsweise Meeresträumen, weshalb für uns das Bild von Australien als einer Insel von Anfang an von zentraler Bedeutung war.

Das ist kaum verwunderlich. Sydney war in seiner Frühzeit zuallererst ein Seehafen, all seinen Handel trieb es mit dem Meer. Unsere frühesten Produktionsindustrien waren nicht Getreideanbau oder Schafzucht, sondern Walfang und Seehundjagd. Wir brauchten fast drei Jahrzehnte, um die erste Landbarriere, die Great Dividing Range, zu überqueren. Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren unsere größten Städte über den Seeweg, per Küstendampfer, und nicht per Straße oder Eisenbahn miteinander verbunden. Der Dichter Bernard O'Dowd spricht in seinem Sonett Australia vom Ozean als von Australiens "virgin helpmate" oder "jungfräulicher Gesellin", als sei der Inselkontinent mystisch mit dem ihn umgebenden Ozean wie Venedig mit der Adria vermählt.

Als Sprößlinge einer großen Seemacht fühlten sich die meisten weißen Australier auf dem Meer zu Hause. Es war ein Element, über das wir die Macht hatten, und dies gewiß in größerem Maße, als wir sie zu Beginn über das Land hatten. Auf das Meer richteten wir bei all unseren Unternehmungen den Blick, auf der Suche nach allem, was neu war, nach allen Neuigkeiten. Dieses Gefühl, auf dem Meer zu Hause zu sein, ließ Entfernungen, die sonst unvorstellbar groß gewesen wären, kleiner erscheinen. Es rückte England und Europa näher, als 10 000 Seemeilen auf dem Globus hätten erahnen lassen können, und hielt uns länger, als wir es vielleicht sonst gewesen wären, durch Seewege am Zügel, deren Anlaufhäfen in der Zeit vor dem Luftverkehr eine Litanei der Verbindungen bildeten, die jedes Kind meiner Generation noch auswendig kannte. Entfernung ist nicht immer eine Frage von Meilen. In Gefühlen gemessen, kann sie sich als Nähe definieren.

Diese Vorstellung eines Inselkontinents mit seinen vielen Konnotationen des Beinhaltens und Zusammenhaltens hatte Folgen. Die meisten Nationen bilden sich durch eine lange Reihe von Grenzkonflikten mit ihren Nachbarn. Oft ist dies die Stoßrichtung ihrer Geschichte. Man denke an die verschiedenen Kriege zwischen Deutschland und Frankreich, Rußland und Polen oder an die britische Geschichte vor der "Vereinigung der Kronen".

Die Grenzen Australiens waren dagegen ein Geschenk der Natur. Wir mußten sie nicht erkämpfen. In unserem Fall fielen Geschichte und Geographie zusammen, und schon bald stießen wir auf die Idee, dieser einzelne Kontinent müsse eines Tages zu einer einzigen Nation werden. Und das bedeutet: All unsere Eroberungskriege, all unsere Formen des Konflikts haben sich im Innern abgespielt. Zuerst die Eroberung von Raum in einer Reihe von wagemutigen Erforschungen des Landes. Dies war eine Form des Besitzergreifens durch Benennen und Kartographieren, durch das Einprägen der Räume des Kontinents in unsere Köpfe und schließlich in unsere Vorstellungen und unser Bewußtsein. Wir machten uns auch auf, das Land seinen traditionellen Besitzern durch bewaffnete Eroberung in einem Krieg wegzunehmen, der ausgedehnter war, als wir eingestehen wollten.

Später kam eine andere Form des inneren Konflikts hinzu, nämlich der unter den einzelnen Staaten, den man versuchte durch Föderation zu lösen. Eine weniger erträgliche Lösung war in dem Jahrhundert seit dem Erreichen der Föderation der fortwährende Konflikt zwischen den einzelnen Staaten und der Bundesregierung. Dann kam, ein noch düstereres Kapitel, das Bedürfnis auf, durch gesetzgeberische Maßnahmen, durch gesellschaftlichen Viele der Ideen, die unser Leben hier gestaltet haben, und viele der Themen, unter denen unsere Geschichte diskutiert wurde, kreisen um diese Begriffe von Isolation und Einschließung, von Ganzheit und Furcht vor Zerfall. Aber Isolation kann ebensosehr zu Stagnation wie zu konzentriertem Reichtum führen, und Ganzheit bedeutet nicht unbedingt Uniformität, obwohl wir sie im allgemeinen so aufgefaßt haben. Und Verschiedenartigkeit führt nicht unbedingt zu Zerfall. Aber das Geschenk dieser natürlichen, unbestreitbaren Grenzen hatte auch seinen Preis. Es bürdete uns die Pflicht auf, sie zu verteidigen, und fast von Anfang an auch die Furcht, es könnte im Grunde unmöglich sein, sie zu verteidigen. Unsere ersten Siedlungen außerhalb von Sydney im Jahr 1804 Hobart und in den zwanziger Jahren desselben Jahrhunderts Perth wurden gegründet, um die Möglichkeit einer Besetzung durch die Franzosen zu verhindern.

Danach, in der Zeit des Krimkrieges, hatten wir die Russen im Auge zu behalten. Die russische Flotte lag nicht mehr als sieben Tagesreisen entfernt in Wladiwostok. Und dann kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Bedrohung aus Japan. Diese Furcht vor Invasoren, davor, daß unsere Grenzen schwer zu verteidigen wären, führte zu einer Furcht vor anderen und weniger faßbaren Formen der Invasion. Vor der Invasion von Menschen, die, wie Kipling sie nannte, "lesser breeds without the Law" oder "Minderblütige ohne Gottes Gesetz" waren und die Reinheit unserer Rasse beflecken könnten. Vor der Invasion fremder Kulturformen, die unseren Versuch, einzig und allein wir selbst zu sein, beeinträchtigen könnten nämlich durch Ideen und all die anderen Formen des Einflusses, die da draußen in der Welt jenseits unserer Küste lauerten und unsere Sitten unterminieren oder uns auf verschiedenste Arten spalten oder erschüttern könnten.

All dies hat uns zu Kleininsulanern gemacht, hat uns von Zeit zu Zeit zu dem Vorsatz geführt, uns gegen Einfluß und Veränderung zu verschließen und durch Rückzug hinter unseren Ozeanwall gerade das einzufrieren oder abzubrechen, was seit Anbeginn ein aufregendes Experiment war und auch heute noch ist.

(...)

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