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Cover Lettre International 63, Max Grüter
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Inhaltsverzeichnis

LI 63, Winter 2003

Drei Schritte zum Teufel

Der Fall Balkan oder das Ende der politischen Gesellschaft

"My name is Bond, James Bond", rief Genosse Letica, unser Lehrer im Fach Moralisch-politische Erziehung, als er an einem heißen Mainachmittag des Jahres 1968 das Klassenzimmer betrat. Dann ging er zu seinem Tisch, legte das Klassenbuch ab, hob die so frei gewordene rechte Hand und wiederholte seinen englischen Satz etwas leiser, aber mit dem gleichen Genuß. Und dann senkte er nach einer langen Pause die Hand und begann mit dem Unterricht.

Zuerst wies er uns darauf hin, wie schlau die Bourgeoisie aus ihren Spionen echte ideologische Helden mache und wie meisterhaft sie Morde, Lügen, Diebstähle und andere vorstellbare "in unserem Namen" und "zu unserem Nutzen" verübte Verbrechen als Heldentaten und sympathische Abenteuer darstelle. "Das ist eine kluge Politik, und das ist Patriotismus", resümierte Genosse Letica seine Analyse der Filme über den Geheimagenten. Es folgte ein langes Nachdenken über die Antiquiertheit der klassischen Ethik, die so tue, als wäre es möglich, klar zu unterscheiden, was ein Verbrechen ist und was nicht, die so tue, als wüßte sie, was das ist: ein Verbrechen, und die im Namen dieses Wissens Mord, Lüge, Betrug, Illoyalität gegenüber Freunden und so weiter und so weiter verbiete.

"Ist es menschenunwürdig zu belauschen, was andere Leute in ihrem Haus und mit ihren Freunden reden? Ist es schäbig, in fremdem Müll und in anderer Leute Körben mit dreckiger Wäsche zu wühlen?" fragte er uns plötzlich und tat, als sähe er nicht, wie wenig wir in dem heißen Klassenzimmer tatsächlich anwesend waren. "Ist es eben nicht, wenn man damit der Heimat dient!" rief er nach einer kurzen Pause und schlug fest mit der Hand auf den Tisch. "Es ist kein Mord, wenn man für jemanden mordet, dem man dient."

Es folgte ein neuer Vergleich zwischen "uns" und der "Bourgeoisie", mit der unvermeidlichen Schlußfolgerung, daß die Bourgeoisie klüger sei als wir, weil sie eben ihre Spione, Agenten, Geheimpolizisten oder wie man diese Leute aus den staatlichen Klüngeln alle nennt zu sympathischen Draufgängern hochstilisiere, während "wir" "unsere" angriffen, verurteilten, fast verachteten. Spätestens in diesem Moment wurde das Ziel dieser Unterrichtsstunde deutlich: das Bild der Schüler von den jugoslawischen Polizeidiensten zumal der Geheimpolizei UDBA, zu verbessern, das nach der politischen Abrechnung mit ihrer Führungsriege im Jahre 1966 und den damit verbundenen Enthüllungen über Mißbräuche sehr schlecht sein mußte.

Ich glaube, daß gerade die Enthüllungen über die Mißbräuche der Polizei, die nach der Abrechnung mit ihrer Führungsriege öffentlich gemacht wurden, sehr dazu beigetragen haben, daß sich unter jungen Menschen das Gefühl ausbreitete, ein x-beliebiger Staat und eine x-beliebige Polizei könnten ohnehin nicht "mein" Staat und "meine" Polizei sein, weil aber in dieser Welt irgendein Staat und irgendeine Polizei sein müssen - dann am ehesten die, von denen ich am wenigsten sehe und spüre.

Wohl deshalb hatte diese Unterrichtsstunde des Genossen Letica keinen großen Erfolg, und ich glaube, daß es mit den Stunden der anderen Lehrer im Fach Moralisch-politische Erziehung in den anderen achten Klassen der anderen Schulen ebenso war. Ich weiß nicht, ob auch die anderen Lehrer ihren Unterricht zur Verteidigung der Polizei mit dem Satz von Bond begonnen haben, aber ich weiß, daß ich mir, als ich dem Genossen Letica zuhörte, vorstellte, wie sich in diesem Augenblick aus Zehntausenden Lehrerkehlen in ganz Jugoslawien, in allen achten Klassen aller Grundschulen, der mächtige Ruf: "My name is Bond, James Bond" in den glühenden nachmittäglichen Maienhimmel erhob.

Ich kann nicht wissen, wie erfolgreich die anderen Lehrer bei der Verteidigung der Polizei waren, ich weiß, daß das Verhalten der jugoslawischen Geheimdienste meinem Wunsch entsprach, was ich während dieser Unterrichtsstunde für mich so formulierte: Sie waren für mich nicht wahrnehmbar und nicht sichtbar, sie taten, als gäbe es mich nicht oder als wüßten sie zumindest nicht von mir. So war es bis zu den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, sagen wir: bis 1989/90, als verschiedene geheime und öffentliche Polizeidienste anfingen, uns von allen Seiten, über alle "neubefreiten Medien", mit ihren Meldungen, Prognosen, Warnungen, Analysen zu überschütten. Diese aggressive Präsenz der Geheimdienste in der Öffentlichkeit informierte uns über die Gefahr, die ausgehe von "den Zerstörern Jugoslawiens", von "den Agenten ausländischer Mächte", von "den Terroristen" und "Konterrevolutionären", von …

Die Allgegenwärtigkeit der Geheimpolizei in der Öffentlichkeit habe ich natürlich als eigentümliche Contradictio in adjecto empfunden, und ich habe mich deswegen ehrlich aufgeregt (ist es etwa nicht ihre Aufgabe, im stillen all jene zu bremsen, vor denen sie mich warnt, anstatt in aller Öffentlichkeit so viel über sie zu schwätzen?), aber ich habe mich mit ihr nicht ernsthaft beschäftigt. Das heißt, ich habe mich ernsthaft lediglich mit dem Diskurstyp beschäftigt, der durch das öffentliche Geschwätz der Geheimdienste in den öffentlichen Diskurs eingeführt wurde und der sich von den Typen der Polizeisprache, die wir im Zweiten Jugoslawien kennenzulernen die Gelegenheit hatten, wesentlich unterschied.

Der erste Typ des Polizeidiskurses, den die jugoslawischen Geheimdienste ihrer Öffentlichkeit anboten, war der "Diskurs des Belagerungszustandes", der in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als wir von allen Seiten "von Feinden umzingelt" waren, in der Kommunikation zwischen Staat und Bürgern vorherrschte. Es ist klar, daß dieser Diskurstyp anstrebt, aus der Gesellschaft als einer bestimmten Zahl von Personen - Individuen - eine Masse, eine relativ homogene Gruppe, zu machen, in der die Mitglieder auf gewisse Elemente ihrer Persönlichkeit verzichten oder sie zumindest vorübergehend zum Nutzen der Gruppenhomogenität aufgeben. Das ist jener gesellschaftliche Zustand, in dem wir viel eher Angehörige einer Nation sind als Menschen, viel eher Bürger eines Staates als Personen.

Der zweite Diskurstyp, den die Bürger Jugoslawiens von ihren Geheimdiensten kennenlernten, kam in den fünfziger Jahren auf, in der Zeit, als Jugoslawien alle Beziehungen zum kommunistischen Block abbrach (1948), und wäre am treffendsten als "Diskurs der Angsterzeugung" zu bezeichnen. Das ist ein Diskurs, der vor der Allgegenwärtigkeit des Feindes "in unseren Reihen", in Ihrer Nachbarschaft, womöglich sogar in Ihrer Wohnung, warnt, wobei betont wird, daß man die teuflische Schläue dieses Feindes genau daran sehe, daß man ihn nicht an äußeren Zeichen erkennen könne, weil er, der Feind, erfolgreich tue, als wäre er einer von uns, als wäre er ein normaler Student, Geschäftsmann, Nachbar.

So entsteht eine Angstgesellschaft, weil jeder mit einer derart präzisen Beschreibung und klaren Definition des Feindes (der ein "Stalinist", "Trotzkist", "Terrorist" oder schlicht der "Feind" ist) konfrontierte Bürger anfängt, sich selbst ein bißchen als Feind zu fühlen, weil auch er ganz offensichtlich der Beschreibung entspricht. Besonders wenn genau solche Leute wie er, also Leute, die der Beschreibung des Feindes so entsprechen wie er, anfangen zu verschwinden oder vor Gericht zu stehen.

Ich gehöre einer Generation an, die das Glück hatte, keinen dieser beiden Typen des Gesprächs zwischen der Polizei und der Gesellschaft direkt kennenzulernen, sondern beide nur durch das Lesen von Texten. Wohl deshalb mußten wir den dritten Typ sowohl am eigenen Leib als auch anhand der Textanalyse erfahren.

Diesen Diskurstyp würde ich am liebsten "Diskurs des aufgezwungenen Vertrauens" nennen: In allen öffentlichen Auftritten der Geheimdienste und Geheimpolizisten beruft man sich auf Quellen und Kenntnisse, die man "im Interesse der Ermittlungen", "aus Gründen der staatlichen Sicherheit", "der Landesverteidigung wegen" nicht offenlegen darf, so daß der Sprecher die Position eines Propheten einnimmt und seinen Gesprächspartner in die Position eines Jüngers versetzt, ungeachtet dessen, ob der Gesprächspartner diese Position billigt. Wie ein Prophet verfügt der Geheimpolizist über Kenntnisse, die dem Bürger vorenthalten werden müssen, und der Bürger hat, wie auch dann, wenn sich ein Prophet an ihn wendet, keine Mittel, die ihm angebotenen Behauptungen zu überprüfen, sich die ihm vorenthaltenen Kenntnisse anzueignen, zu überprüfen, ob der Sprecher wirklich über die Kenntnisse verfügt, auf die er sich beruft …

Der Bürger muß einfach glauben, wenn er nicht will, daß der Sprecher sein geheimes Wissen gegen ihn wendet, wodurch er letztlich den untergeordneten und abhängigen Status gegenüber dem Sprecher billigt. Der Hörer ist nicht der Partner dessen, der über die ihm unzugänglichen Kenntnisse verfügt, er ist Jünger oder Abhängiger. Die umfassende Präsenz des "Diskurses des aufgezwungenen Vertrauens" in der Öffentlichkeit ist ein sicheres Zeichen dafür, daß sich eine Gesellschaft zu einer Angstherrschaft hinbewegt und daß bei ihren Bürgern das Gefühl der Unterordnung und Unsicherheit hervorgerufen wird. Und wir waren ja tagtäglich den Überlegungen, Analysen und Warnungen der verschiedenen Geheimpolizisten ausgesetzt, die in ihrem Namen oder im Namen einer Institution buchstäblich in allen Blättern, Radio- und Fernsehstationen auftraten, die ausgerechnet in dieser Zeit begannen, sich als unabhängig zu bezeichnen. So leisteten die jugoslawischen Geheimdienste ihren ungeheuren Beitrag zur Zerstörung Jugoslawiens.

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