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Cover Lettre International 53, Rebecca Horn
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Inhaltsverzeichnis

LI 53, Sommer 2001

Geheime Dienste

Über Praktiken und Wissensformen der Spionage

Das Macht-Wissen, das Intelligence konstituiert, ist von alters her kriegerisch, kompetitiv und vernichtend - auch, wenn es sich, wie häufig geschehen, gegen die eigene Bevölkerung richtet. Wer Gegenstand dieses Wissens wird, ist schon Feind, per definitionem. "Intelligence bezieht sich auf ‘die anderen’, nicht auf ‘uns’," so der Geheimdiensttheoretiker Michael Herman. Intelligence ist ein Wissen von der Feindschaft, von inneren und äußeren, sichtbaren und unsichtbaren, latenten oder manifesten Feinden. Auch wenn dieses Wissen heute in riesigen Administrationen erzeugt wird und zirkuliert, auch wenn es glaubt, es funktioniere wie Wissenschaft, so entstammt es doch weder dem Geist der Verwaltung noch dem der Akademie, sondern der Kriegführung. Eine ihrer frühesten und prägnantesten Theorien, Sunzis Die Kunst des Krieges, entwirft einen Krieg, der idealiter ohne Schlacht, nur durch den Einsatz von Wissen zu gewinnen ist. Das Traktat, das vermutlich unter der Herrschaft des Kaisers von Wu zwischen 400 und 320 v. Chr. entstand und erst im 18. Jahrhundert vom Jesuitenpater Joseph Amiot ins Französische übersetzt wurde, ist nicht nur das erste bekannte Lehrbuch der Strategie und Taktik, sondern vor allem eine Theorie des "kriegswichtigen Wissens", seiner Einsätze und Quellen. "Jede Kriegführung gründet auf Täuschung", ist Sunzis Grundaxiom. Er entfaltet darum eine ausführliche Lehre von den Listen und Fallen, die dem Feind zu stellen sind. "Die größte Leistung besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen." Die ebenso pragmatischen wie perfiden Mittel dieser Kriegführung sind Hinterhalte, Täuschungsmanöver, Überraschungseffekte, Geheimhaltung und Tarnung, Ablenkung und Desinformation: "Deine Pläne sollen dunkel und undurchdringlich sein wie die Nacht, und wenn du dich bewegst, dann stürze herab wie ein Blitzschlag." Es sind die Waffen, die es einzusetzen gilt, lange bevor es zur offenen Schlacht kommt - als ihre erfolgreiche Vorbereitung oder Verhinderung. Er empfiehlt, dem Feind einen Köder durch Lagern im offenen Gelände auszulegen, einer umzingelten Truppe scheinbar Schlupflöcher zu lassen, damit sie nicht bis zum Letzten kämpft, rätselhafte Dinge ums Lager zu verteilen, deren Untersuchung den Feind aufhält. Die aktive Irreführung des Feindes ist aber nur die eine Seite - ihre andere ist Aufklärung als Beschaffung verläßlicher Information über den Feind. Sunzi lehrt, die Zeichen zu lesen: die Müdigkeit gegnerischer Soldaten an ihren Flüchen, die Geschwindigkeit ziehender Truppen an Form und Höhe der Staubsäulen, die Nervosität des Gegners am Lärm, den er nachts macht. Notwendigerweise endet dieser erstaunliche Text mit einer ausgefeilten Typologie der Spione und ihrer Einsatzmöglichkeiten: einheimische Verräter, die Land und Leute kennen; umgedrehte gegnerische Beamte, die Staatsgeheimnisse ausplaudern; gefaßte gegnerische Spione, die über den Wissensstand des Feindes berichten können; Überbringer von Spielmaterial, die dem Feind irreführende Informationen liefern; Kundschafter, die in Städte und Lager des Feindes eindringen und sie ausspionieren. Spione sind für Sunzi immer beides: Agenten der Informationsbeschaffung und der Desinformation. Als solche aber sind sie die Grundlage jedweder taktischen Entscheidung: "Von [ihnen] hängt die Fähigkeit der Armee ab, sich zu bewegen." Während in der europäischen Kriegführung Spionage und Verrat als ein notwendiges Übel und der Spion als unheroischer, infamer Mensch gilt, als Existenz, die man in einer effizienten Kriegführung "braucht, aber nicht schätzt" (Friedrich der Große), so knüpft Sunzi an sie das Geheimnis des unblutigen Erfolges: "Ein Heer von hunderttausend Mann auszuheben […] bedeutet große Verluste an Menschen und eine Belastung der Staatsschätze […]. Feindliche Armeen können sich jahrelang gegenüberstehen und um den Sieg ringen, der an einem einzigen Tag erkämpft wird. Da dies so ist, ist es der Gipfel der Unmenschlichkeit, über die Verfassung des Feindes im Unklaren zu bleiben, nur weil man die Ausgabe von hundert Unzen Silber für Belohnungen und Sold [der Spione] scheut." Das Ideal der eleganten Kriegskunst Sunzis ist ein Minimum an Gewalt, an Verschleiß und Zeit – alles andere, große Schlachten, lange Belagerungen und komplizierte Waffen sind Barbarei. Wichtigstes Instrument dieser Kriegskunst ist das Wissen, und dieses Wissen faßt Sunzi - das ist seine nachhaltigste Einsicht - als zweischneidiges Schwert: Intelligence ist immer Erkenntnis und Täuschung gleichermaßen, es ist ein Kampf um einen Wissensvorsprung, ein Spiel von Tarnung und Enttarnung, Information und Desinformation. Wissen ist Waffe in dem Maße, wie es gegen den Feind gewendet werden kann und einen strategischen Vorteil verschafft. Nicht Wahrheit oder Falschheit ist dabei das Kriterium, sondern Wirksamkeit. Es ist immer positioniert, in den Händen des Freundes oder des Feindes, und damit unverrückbar an die Seite geknüpft, die es einsetzt. Das Wissen der Intelligence ist nie "objektiv", sondern stets strategisch.

(...)

Ergreift, benennt, besetzt und kontrolliert der Staatsapparat den Raum und das, was in ihm geschieht und kommuniziert wird, so ist es demgegenüber das nomadische Wesen der Kriegsmaschine, ihn zu durchmessen, Distanzen zu überwinden, Räume zu erkunden. Sie ist es, die Räume als Gegenstand des Wissens konstituiert, noch bevor sie benannt, aufgeteilt, umgrenzt sind. Das Wissen der Intelligence ist darum grundlegend auf Räume bezogen, die durchquert und erkundet werden: von den vereinzelten Spähern und zufällig aufgegriffenen Ortskundigen über die als Geschäftsreisende getarnten Agenten bis hin zu den im Feindesland installierten Kundschaftern. Dieses Durchmessen und Sondieren ist etwas grundsätzlich anderes als die Landnahme, die territoriale Beherrschung installiert, Grenzen zieht, Ansprüche behauptet. Segmentiert oder - um mit Deleuze/Guattari zu sprechen - "kerbt" die Landnahme den Raum, so erstreckt er sich vor der Intelligence als "glatte", aber opake Struktur. "Glatt" ist der Raum, weil sich der nachrichtendienstliche Wille zum Wissen gerade nicht an Markierungen und Grenzen bricht, sondern diese durchstößt und überschreitet, opak, weil dieser Raum per definitionem ein undurchschauter, geheimnisvoller, tendenziell gefährlicher Raum, eine Zone intransparenter Zusammenhänge ist. Intelligence dringt in diesen Raum ein, als Beobachtung von außen oder oben, als Abfangen von Nachrichten, die diesen Raum durchqueren oder die er aussendet und - dies ist die riskanteste Form - als Begehung des Raumes. Leibhaftig das feindliche Territorium zu betreten, die verborgenen Orte auszuspähen, das Geheimnis über die Grenzlinie zu bringen, dies ist das archetypische Meisterstück des Spions oder Kundschafters. Wichtig ist seine Metamorphose, die mehr sein muß als eine oberflächliche Tarnung: eine Anverwandlung an das Terrain, das er betritt, eine Mimikry, ein "Feind-Werden". In Feindesland muß er zum Fremden werden, gerade um seinen Auftrag ordnungsgemäß zu erfüllen. Aber dieses Fremd-Werden oder Feind-Werden, die Möglichkeit, daß diese Metamorphose in Wirklichkeit oder am Ende ein Seitenwechsel ist, macht den Spion als militärische und politische Figur immer schon suspekt. Man braucht ihn, aber man schätzt ihn nicht.

Man schätzt ihn auch nicht als Subjekt des Wissens, sondern nur als Überträger, als Mittel. Der Kundschafter ist Medium des geheimen Wissens: Er zeichnet auf, transportiert und gibt wieder. Dabei ist zweitrangig, wieviel von dem, was er mitbringt, er selbst begriffen hat. Emblematische Figur dafür ist ein Gedächtniskünstler in Hitchcocks Die neununddreißig Stufen (1935), der geheime Formeln auswendig gelernt hat, um sie seinen Auftraggebern in einem Theater herzusagen. Er wird erschossen, aber mit seinen letzten Atemzügen betet er Zahlen und Zeichenfolgen herunter. Er überträgt eine Nachricht, deren Gehalt ihm für immer verschlossen bleibt, während er mit seinem Tod von ihrer ungeheuren Wichtigkeit zeugt. Als Träger und Transporteur von Wissen ist der Spion, so elegant und souverän er in einigen historischen und fiktiven Figuren wie Sorge oder Bond auftreten mag, niemals selbst Akteur der Geschichte, sondern immer Mittel, Instrument. Er handelt "im Auftrag", gelenkt von einer in vielfacher Hinsicht "fernen" Instanz, die ihn wie eine Sonde in den feindlichen Raum einsenkt. In den schwärzesten Szenarien des Kalten Krieges, etwa bei John Le Carré, ist er nichts als ein Testinstrument, dessen Untergang als Prüfung der Lage im feindlichen Raum einkalkuliert ist. Während er sich ständig bewegt, seine Spuren verwischt, unsichtbar sein muß, ist diese Zentrale unbewegt und präzise lokalisiert: im Hotel Lux, in der Normannenstraße, in Langley/ Virginia. Im Raum entfaltet sich die Grundkonstellation der Intelligence, die Dyade von Heerführer und Späher, Auftraggeber und Ausgesandtem als eine komplizierte Spannung von Verortung und Entortung.

Worin besteht die Struktur der Räume, die Intelligence erforscht - oder besser: erzeugt?

(...)

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