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Cover Lettre International 81, Georg Baselitz
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LI 81, Sommer 2008

Gene, Zellen, Moleküle

Organische Natur und technische Reproduktion - Karten der Biologie

Im ausgehenden 20. Jahrhundert hat sich die molekulare Biologie grundlegend verändert – und mit ihr die Art und Weise, wie man mit den Werkzeugen der molekularen Genetik in die Reproduktion der Organismen einschließlich der Reproduktion des Menschen eingreifen kann. Damit einhergegangen sind massive Rekonfigurationen im Verhältnis von akademischer Forschung, industrieller Biotech-nologie und öffentlicher Partizipation. Die Veränderungen sind vielgestaltig und im Fluß.

Mit Gaston Bachelard könnte man den beobachtbaren Gestaltwandel als einen „phänomenotechnischen“ bezeichnen. In seinem Verlauf wurde vor allem das Vererbungsgeschehen, bis dahin ein stochastisch prognostizierbarer, aber im Grunde komplex organischer Prozeß, zu einem technisch manipulierbaren Kopiervorgang. Eingeleitet wurde dieser epistemische Wandel durch die Reindarstellung jener Enzyme, die in der Zelle die molekulargenetischen Vorgänge der Verdoppelung des Erbmaterials sowie seiner „Umschreibung“ und „Übersetzung“ steuern und die nun dazu verwendet werden können, das genetische Material zu manipulieren.

Mit der Verwendung dieser Moleküle als molekularer Werkzeuge eröffnet sich grundsätzlich die Möglichkeit, DNA-Stücke unterschiedlicher Herkunft miteinander zu verbinden, das heißt hybride oder „rekombinante“ Nukleinsäuremoleküle herzustellen. Das manipulierte Erbmaterial kann dann mit Hilfe von Vektoren in die Zelle eingebracht wer-den. So wurde eine Gentechnologie im engeren Sinne möglich. Das Charakteristikum dieser Techno-logie besteht darin, daß ihre zentralen Instrumente – Polymerasen, Restriktionsenzyme, Ligasen, Plasmide – alle selbst Einheiten von molekularer Ord-nung sind. Diese Technologie beruht nicht mehr auf schwerem analytischem Gerät, das nach physikalischen Prinzipien aufgebaut ist. Die Matrizen, mit denen Gene kopiert werden, die Scheren und die Nadeln, mit denen man sie schneidet und spleißt, und die Vektoren, mit denen man sie trans-portiert, sind selbst von der Größenordnung von Makromolekülen. Sie sind eine Art „weicher“ oder „nasser“ Technologie, ein molekularer Werkzeugkasten, mit dem man einerseits Makromoleküle maschinell herstellen, mit dessen Produkten man aber andererseits auch Organismen transformieren kann.

In beide Richtungen – molekulare Verfahren in Maschinen zu implementieren und im Reagenz-glas erzeugte Nukleinsäuren in Organismen zu verpflanzen – ist die Gentechnologie gegangen, nach-dem es Paul Berg 1972 erstmals gelungen war, ein hybrides DNA-Molekül aus zwei Viren – dem Phagen Lambda und dem infektiösen Affenvirus SV 40 – herzustellen. Mit der Möglichkeit, die genetische Reproduktionsmaschinerie der Zelle für die Vermehrung eigens konstruierter Nukleinsäurematrizen zu verwenden, verläßt der Molekularbiologe – als Gentechnologe bzw. Geningenieur – das Arbeitsparadigma des klassischen Biophysikers, Biochemikers und Genetikers. Er konstruiert nicht mehr Reagenzglasbedingungen, unter denen die Moleküle des Organismus und ihre Reaktionsfolgen den Status wissenschaftlicher Untersuchungsobjekte annehmen. Sondern umgekehrt: Er benützt das Milieu der Zelle als angemessene technische Einbettung, um seine Moleküle zu reproduzieren, sie zu exprimieren und die Wirkungen ihrer Pro-dukte zu testen. Der Organismus selbst wird damit in ein Labor, einen locus technicus, verwandelt. Nun geht es nicht länger um die extrazelluläre Repräsentation intrazellulärer Strukturen und Prozesse, sondern umgekehrt um die intrazelluläre Repräsentation eines extrazellulären Projekts. Wie Waclaw Szybalski 1978 konstatierte: „Die Arbeit mit Restriktionsnukleasen erlaubt es uns nicht nur, auf einfachem Wege rekombinante DNA-Moleküle zu konstruieren und einzelne Gene zu analysieren; sie hat uns auch in die neue Ära einer ,synthetischen Biologie‘ geführt, die nicht mehr nur existierende Gene beschreibt und analysiert, sondern neue Genanordnungen konstruiert und evaluiert.“

Zu diesen ihrerseits in Techniken verwandelten Enzymen und Genvektoren gesellten sich bald Verfahren zur gezielten Genmutation, zur Herstellung großer molekularer Vektoren sowie neue Verfahren zur Synthese von Nukleinsäuren. Zusammengenommen begannen diese Techniken, die Informations-, Schrift- und Textmetaphern zu verkörpern, die den Aufstieg der Molekularbiologie begleitet hatten: Lesen als DNA-Analyse; Schreiben als DNA-Synthese; Kopieren als Polymerasekettenreaktion; Editieren als Veränderung von Gensequenzen durch Schneiden, Spleißen und punktgenaue Mutationen. Kaushik Sunder Rajan hat dazu treffend bemerkt: „Der Unterschied ist nun, daß die Genomik es der Metapher des ,Lebens als Information‘ erlaubt, eine ma-te-rielle Wirklichkeit zu werden, die geeignet ist, die Form von Waren anzunehmen.“

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wur-de in den späten achtziger Jahren das Projekt der Se-quenzierung des gesamten Humangenoms auf den Weg und innerhalb von etwas mehr als einem Jahrzehnt zum Abschluß gebracht. David Jack-son, Gentechnologe bei DuPont Merck, brachte anläßlich des vierzigsten Jahrestages der Strukturauf-klärung der DNA-Doppelhelix die Situation Mitte der neunziger Jahre auf den Punkt: „Ich möchte behaupten, daß die Fähigkeit, die DNA zu lesen, zu schreiben und zu redigieren, etwas in der bisherigen Geschichte der Menschheit nicht Dagewesenes darstellt. Alles, was wir vorher zu tun in der Lage waren, ist, zwischen verschiedenen Genkombinationen zu wählen, welche uns die Mechanismen der Genetik zuspielten. Und obwohl wir [in der Vergangenheit] leistungsfähige und ausgeklügelte Selektionsverfahren ent-wickelt haben, ist doch die Auswahl zwischen einer Gruppe von Alternativen, über die man so gut wie keine Kontrolle hat, ganz und gar nicht zu vergleichen mit der Fähigkeit, seinen eigenen Text zu schreiben und zu bearbeiten“ – und zu vervielfältigen, möchte man hinzufügen. Ein langes Jahrhundert einer In-vitro-Forschungskultur schuf somit die Voraussetzungen dafür, daß die Biologie nunmehr den Weg zu-rück in die Zelle und den Organismus angetreten hat. Unter dem neuen Regime stülpt sie das Innere nicht mehr nach außen; jetzt wird umgekehrt das Außen, synthetisch und konstruktiv, der Zelle einverleibt und dort vermehrt. Der Vererbungsmechanismus wird einerseits umgemünzt in einen bio-tech-nologischen Kopiervorgang, mit dessen Hilfe sich ökonomisch und medizinisch relevante Produkte herstellen lassen; andererseits können gezielte Eingriffe in den Genbestand eines Organismus nun dazu verwendet werden, nicht nur diesen selbst umzuprogrammieren, sondern ihn dauerhaft für die folgenden Generationen zu verändern.

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