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Cover Lettre International 37, Miriam Cahn
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Inhaltsverzeichnis

LI 37, Sommer 1997

Der Künstler als Pixel

Von der Abrüstung der Kunst und der Entsorgung der Kultur

Hans-Jürgen Heinrichs Ich möchte mit einer Situation beginnen, die sich auch in Ihren Arbeiten findet. Zwei Menschen, die einander nicht verstehen, reden miteinander. Dies ist dadurch möglich, daß sie lernen, die Gesten und Haltungen des anderen zu verstehen und das Reden, und auch das Schweigen, des anderen zu deuten. Sie werden also zu Archäologen des Sinns und vertiefen sich in jeden Ausdruck und entdecken hinter jeder Oberflächenschicht tiefere Schichten. Das wäre so etwas wie ein elementares Modell dessen, was man sich mit der multikulturellen Gesellschaft einmal gewünscht und vorgestellt hat, nämlich mit bestehenden Fremdheiten kommunikativ umzugehen und den Differenzen lustvoll zu begegnen. Welche Rolle spielt die Kunst bei der Verständigung und bei der Überwindung des Fremden, des vermeintlich Fremden auch, des Andersartigen?

Jochen Gerz Was man unterschätzt, ist die Ähnlichkeit. Wir sind kulturell auf die Diversität, auf die Verschiedenheit, auf die Gegensätzlichkeit fixiert. Wir erkennen Unterschiede. Wir wären gut beraten, Ähnlichkeiten zu verfolgen, weil sie längere, neuere Wege versprechen. Zwischen dem türkischen Künstler Sarkis und mir standen während dieses Gesprächs, bei dem er Türkisch sprach, das ich nicht verstehe, und ich Deutsch sprach, das Sarkis nicht versteht, zwei Gläser Wasser auf dem Tisch. Nachträglich habe ich erfahren, daß Sarkis über die Bedingungen der Armenier in der Türkei gesprochen hat. Ich habe von unserem antiautoritären Kinderladen in der Universität Censier erzählt. Nachträglich haben wir gemerkt, daß wir aus dem gleichen Wasserglas getrunken haben. So kam ein Gespräch zustande, das vor allem die Leute verstehen, die weder die eine noch die andere Sprache sprechen.

Wir versuchen immer Schnittstellen zu finden, wo wir uns begegnen können. Das Gespräch ist stets eine Annäherung zwischen den verschiedenen Sprachen.

Man kann sich zum Beispiel zwei Reisende während einer Zugfahrt vorstellen: Der eine schaut beständig aus dem Fenster und hat den Wunsch, über das Außen, das, was er am Außen wahrnimmt, die Fremde zu erfahren, meinetwegen eine Vorstellung von Europa zu bekommen; der andere, der mehr dem Künstler gleicht, versucht diese Auseinandersetzung näher an sich selbst zu führen und das, was das Eigene und das Fremde sein könnte, an sich selbst zu erfahren. Wer hat nun mehr Lust, das Fremde zu verstehen, der Reisende, der mehr nach Außen schaut oder derjenige, der das Andere an sich selbst zu erfahren versucht? Ist der Künstler jemand, der diesen Prozeß der Auseinandersetzung ganz nah an sich selbst führt?

Die Kunst hat keine Identität, die stärker wäre als die Umgebung, in der sie stattfindet. Sie ist ein kleiner Teil, der im Garten der Gegenwart die Zeit umbricht, ein dienlicher und mitarbeitender Teil, der es ermöglicht, etwas zu kompostieren in der Identität des Gegenwärtigen, um es bereit zu machen für eine Zukunft. Die Kunst ist eigentlich nur ein Agent, ein Pulver, das im viel wichtigeren Vorgang des Waschens zur Wirkung kommt. Nicht über seine Identität oder Sichtbarkeit, sondern eben über seine Funktion, sein bloßes Wirken. Die Reise, die ich damals gemacht oder zu machen vorgegeben habe, bezog sich auf dieses letzte "Paradies" unserer Informationsgesellschaft, zu der auch die Kunst gehört, und dieses Paradies war der Osten: der alte Osten, dieses Reiseziel Orient in den Büchern und der tatsächliche, verbotene Osten im Kommunismus.

Die Reise nach Rußland gegen die "wirkliche, falsche" Reisebewegung, das "Erleben" und "Erjagen" . Ich konnte einfach alles zumachen und sagen, ich erreise, erfahre mich selbst. Ich werde während dieser 16 Tage nicht daran vorbeikommen, daß ich selbst auch reise. Das, was zu sehen ist, ist das Fenster zum Osten; von Bedeutung bin aber auch ich, derjenige, der vor dem Tafelbild steht und sehen kann. Da spielte auch eine Kritik der Konzeptkunst, der Fiktionalisierung der Kunst hinein. Mag sein, die Arbeit ist auch deshalb interessant, weil sie zum ersten Mal ein Aufwiegen zwischen Fontäne und Pissoir vornimmt, und daß man irgendwo spürt: Marcel, gib mir mein Pissoir zurück.

Marcel Duchamps Pissoir. An dem, was Sie sagen, scheinen mir zwei Dinge wichtig zu sein. Zum einen, daß diese auf die eigene Erfahrung bezogene Reise ein Privileg des Künstlers ist, daß er seine eigene seelische Realität viel konzentrierter darlegen und offenbaren kann als andere. Sie wollen ja dieses Privileg nicht für sich behalten, sondern es auf den Betrachter erweitern. Der zweite Gesichtspunkt betrifft die Simulation, also die Erzeugung der Wirklichkeit durch unsere Wahrnehmungs- und Produktionsapparate, der Begriff der Informationsgesellschaft, der Peep-Gesellschaft, einer auf das Sehen fixierten Gesellschaft; die Geschwindigkeit spielt eine große Rolle, die sich verändert hat, und auf diese Weise nehmen wir nicht nur beim Reisen, sondern in unserer täglichen Wahrnehmung alles viel beschleunigter wahr. Welche Folgen hat dies für unsere Bildwahrnehmung und für die Reproduktion von Bildern? Der Filmregisseur Edgar Reitz sprach davon, daß wir in ein digitales Zeitalter eingetreten sind, in dem sich das europäische Kino vollkommen verändern wird. Er sagt, es wird keine Filmrollen mehr geben, sondern die Verleihfirmen werden die Filme über eigene Kanäle, über Glasfaser oder Satellit per Datenstrom einspeisen. Und damit werden sich auch die Räume, in denen wir Kunst wahrnehmen, grundlegend verändern. Das Kino, als Ort, verändert sich; man kann die Filme an jedem beliebigen Ort abspielen, die Projektion ist in jede beliebige Richtung lenkbar, womit auch das Publikum mobiler wird. Dadurch verändert sich grundsätzlich der Ort, der öffentliche Ort der Kunst. Der öffentliche Ort der Kunst kann ja nicht das Museum im klassischen Sinne sein. Es kann aber auch nicht in einem banalen Sinne jeder öffentliche Ort sein. Was ist überhaupt noch ein Ort in der Moderne? Wird an den neuen Orten, an denen sich Kunst abspielt, ein anderer Instinkt und ein anderes Bedürfnis befriedigt, oder sind es nur graduelle Veränderungen, die uns in einigen wenigen Jahren, im Rückblick, als viel weniger spektakulär erscheinen werden als im Augenblick?

Die meisten Menschen sind heute terrorisiert von ihren Freiheiten, von ihren Möglichkeiten, von ihren Alternativen. Aber das ist nicht die Freiheit des Gedichts, das ist nicht die Freiheit der Zeichnung, das ist nicht das, was Baudelaire von uns fordert, das ist inzwischen nur noch die Freiheit des Papiers, die Freiheit der Medien, die Freiheit der gesamten Rahmenbedingungen, die Freiheit des Rahmens. In diesem Sinne sind wir und sind wir zugleich auch nicht Kinder unseres eigenen Lebens, unserer eigenen Welt. Ich hoffe, daß wir nicht alle demnächst in Trübsinn verfallen nur deshalb, weil die Utopien, die wir formuliert haben, uns nun wirklich langsam um die Ohren fliegen. Wir müssen zugeben, daß wir, im besten Sinne, schuld daran sind. Ich hoffe, daß etwa der Verlust des Körpers, der Verlust der Zeit die Leute nicht kirre machen wird, denn dies sind Dinge, von denen lange geträumt worden ist. Ich hoffe auch, daß uns dieser neue Einbruch der Freiheiten - nicht der Freiheit, sondern der Freiheiten -, daß diese Pluralitäten, die uns jetzt umschwirren, da, wo es bisher nur Singularität und Tabu gab, uns nicht den Geschmack an allem verderben. Wir sind in einem Raum, auch wenn er nicht mehr die symbolischen Orte der Abwesenheit beinhaltet.

Joseph Beuys, der trotz aller Skepsis gegenüber der Kunst doch daran festgehalten hat, daß die Kunst die humanitäre Frage, die ethische Frage nach dem Wesen des Menschen, der Zivilisation, der Gesellschaft stellt, hat einmal formuliert: Was könnte überhaupt der Sinn der Kunst sein, wenn sie nicht die humanitäre Frage stellt, wenn die Kunst nicht etwas liefern kann, was für den Menschen substantiell unentbehrlich ist. Zugleich hat Beuys gesagt: Ich trete aus der Kunst aus. Immer wieder dieselbe Problematik, das Verhältnis von Kunst, Leben und Gesellschaft.

Um diesen Ort der Kunst zwischen dem Politischen, dem Allgemeinen und dem Privaten, dem Individuellen, zu präzisieren, möchte ich einige Arbeiten von Ihnen in unser Gespräch einbeziehen. Vor mehr als 25 Jahren machten Sie eine Aktion, bei der Sie ein Seil von einer Ausstellung hinaus in die Straße laufen ließen. Sie bezogen auf diese Weise die Zuschauer und die Passanten in das Geschehen mit ein. Im Vergleich zu Ihren späteren Arbeiten, die sehr viel politischer sind, mag das etwas banal oder einfach gestrickt sein, und dennoch denke ich, daß darin etwas Elementares enthalten ist. Erwähnen möchte ich auch ein aktuelles Projekt: Sie bitten Menschen darum, Momente des Lächelns fotografisch festzuhalten. Was sind das für Aktionen? Welches Verständnis von Kunst steht dahinter?

Es kann für mich - das ist vielleicht der Unterschied zu jemandem wie Beuys - nach dem Holocaust keinen Imperativ Kunst oder Ethos mehr geben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine Gesellschaft einerseits produziert, was sie produziert hat, nämlich den beispiellosen Genozid am eigenen Körper, im eigenen Land, am eigenen Selbst-Sein, und andererseits direkt danach das Buch weiterblättern kann, von einer Seite zur anderen umschlägt und wieder vom Imperativ Kunst, Ethos, Humanismus sprechen kann. Dieser Teil der Arbeit und auch der Aussage von Beuys ist mir immer schleierhaft geblieben. Ich muß mit weniger auskommen. Dieses Mit-weniger-Auskommen sehe ich immer mehr bestätigt durch eine in der gesamten Gesellschaft existierende, und wie ich meine, der Zukunft vorgezeichnete Tendenz zur Homöopathie. Ich glaube, daß wir mit weniger Energie, mit weniger Sinn-Suche, mit weniger Bündelung besser dastehen. Die Tatsache, daß wir seit mehreren Jahrzehnten mit Argumenten leben können, die wir nicht benutzen, wie die Atombombe, ist ein Indiz dafür. Die Nichtbenutzung von Wissen, die Nichtbenutzung von Können, die Nichtbenutzung von Informationen scheint mit eine Ressource der Zukunft zu sein. Ich glaube, daß Kunst im Sinne einer Homöopathisierung ihres Sinnstiftungsauftrages viel vor sich hat. Mit kleineren Quoten an sogenannte Probleme heranzugehen. Mit kleineren Energien. Letztlich hat das wieder mit der Ähnlichkeit zu tun. So schön Sinn ist, so schwachsinnig ist meistens die Suche danach.

Einerseits scheint es einleuchtend zu sein, daß wir nach Auschwitz nicht mehr mit solchen weitgesteckten Zielen arbeiten und solche Imperative nicht mehr gebrauchen können. Andererseits stellt sich die Frage, ob nicht ein Künstler prinzipiell darauf angewiesen ist, so etwas wie ein Ethos, einen Imperativ in sich zu tragen, dem er folgt, ohne daß er dies nun in Form eines Manifestes oder eines Imperativs formulieren muß. Es ist die Frage, ob nicht auch Ihr Wunsch, den Betrachter, den Passanten mit in das Werk einzubeziehen, von einem Imperativ, von einem Ethos, von einer Vision geprägt ist, ohne die diese Aktionen nicht möglich wären.

Das Problem ist doch: Trägt der Kunstbegriff überhaupt noch, oder ist das eher so etwas wie ein Fetisch, an dem wir festhalten, der aber gar nicht mehr real existiert? Ist Kunst vielleicht etwas ganz anderes, vielleicht das, was Paul Virilio über Heiner Müller nach dessen Tod gesagt hat: Es gehe darum, inmitten des Chaos und des Widerspruchs eines verwüsteten Europas noch an dem eigenen Leben, an Ideen festzuhalten. Geht es nicht darum, doch noch ein Leben zu verwirklichen? Ist die Kunst denn nur ein Vehikel, mit dem man versucht, weiterhin daran zu operieren, zu laborieren?

Ich glaube, daß die Kultur mit ihren Erfindungen und Konventionen hypothetischen Charakter hat. Ich sehe aber am Leben zunächst einmal nichts, das mich an die Kultur erinnert. Ich sehe nur in der Kultur dieses und jenes, das mich ans Leben erinnert. Also ich sehe zuerst einmal einen Raum, den ich als das Umfeld bezeichne, mein Umfeld, mein biographisches Umfeld, meine Zeit. In diesem Feld kommt Kultur vor. Ich sehe nicht, daß ich in eine Kultur geboren worden wäre, aus der heraus ich mich für das Leben interessieren müßte. Künstler haben oft etwas, aber nicht, weil andere es nicht hätten; was sie haben ist, mit einer gewissen Radikalität hinsichtlich der Realität ausgestattet zu sein. Ein Künstler ist ein enorm an der Realität interessierter Mensch. Kunstwerke sind Übersetzungen dieser Suche, dieses Engagements in bezug auf die Realität. Das Imperativ-Getöse, das wir wie einen Geschirrkasten seit Jahrhunderten mitschleppen, diese Imperative sind Dinge, die manchmal Werkzeugcharakter haben und manchmal eben nicht. Sehr oft sind es relativ sinnlose Objekte, die Lärm machen und die die Bewegung behindern. Ich lasse nicht gerne vor das Leben etwas spannen, was imperativen Charakter hat und dem Menschen einen Teil seiner Verantwortung oder einen Teil seiner Empfindungen, seiner Neugierde, seiner Freude, seines Schmerzes abnehmen könnte. Ich möchte das Risiko, den Kick unserer ganz eigenartigen, gebrauchsanweisungslosen Existenz erhalten.

(...)

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