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Cover Lettre International 88, Joseph Semah
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Inhaltsverzeichnis

LI 88, Frühjahr 2010

Gärten des Glücks

Von Aufbruch, Frühlingsverheißung und vom Aufschwung der Seele

Paul Nizon spricht mit Heinz-Norbert Jocks

HEINZ-NORBERT JOCKS: Gibt es für Sie einen Willen zum Glück?

 

PAUL NIZON: Ja, den gibt es.



Wann ereignete sich in Ihrem Leben ein besonderer Glücksfall?
 

Vielleicht in der Adoleszenz, als ich wußte, ich würde als Schriftsteller leben?



Was ist Glück für Sie?
 

Eine müßige Selbstverlorenheit, verbunden mit dem Zustand eines randvollen Welt-Inneseins. In diesem Sinne war ich schon als kleiner Junge eindeutig glücksgierig. Möglicherweise hatte die Forderung, die Sehnsucht oder Herbeischaffung von Glück mit dem Bannen eines latenten Unglücks zu tun. Manchmal möchte ich glauben, daß der Grundton meiner Kindheit ein Unglücklichsein gewesen sei. Nun, dafür gab es Gründe, zum Beispiel das Fehlen einer Familienstruktur. Ferner, daß der Vater, mir ein Fremder, die längste Zeit meiner Kindheit gelähmt darniederlag und früh starb. Daß die große Familienwohnung in eine Pension umgewandelt worden war. Wenig Privatraum. Das alles war anscheinend eine so starke Belastung, daß ich darauf schon früh mit der Forderung nach Glückszuständen reagierte und, um diese herzustellen, auch Praktiken entwickelte. Es gab in der Nähe unseres Hauses in Bern einen eher düsteren Villenhügel, jedoch mit glücksverheißenden abgeschirmten Gärten, die ich als kleiner Junge gewissermaßen annektierte – dies nicht nur in einem innerlichen Sinne: Sie waren mein Revier, mein Geheimnis. Für mich waren es bevorrechtete Orte der Schönheit, der Stille und der Muße im Gegensatz zur Beengung zu Hause. Wonach ich mich sehnte, holte ich mir, von der Schule kommend, auf Umwegen und Abstechern in die Gegend der Gärten, in die ich nachts auch einbrach. Was sich dort einstellte, war nicht nur ein Ausbalancieren von bedrohlichen Unstimmigkeiten in meinem Innern, sondern ein erpreßtes Glück, also das, was ich später einmal den Aufschwung der Seele nannte. Die Jagd nach dem Glück entsprang dem Bedürfnis nach Kompensation latenten Unglücks.



Wie kam es in dem Buch

Im Bauch des Wals

zu dem Kapitel über die „Gärten des Glücks“?
 

Ich stellte mir oft die Frage, an welche Metaphern oder besser Topoi für mich das Glück gebunden ist. Dabei merkte ich bald, daß es die frühen Gärten sind, die mich mit Glück infizierten. Das habe ich in dem Kapitel denn auch ausgeführt. Natürlich hat das Glück der Gärten mit einer Paradiesvorstellung, mit Unschuld, mit atembenehmender Schönheit, mit Weltanfang und mit dem rettenden Gefühl der Enthebung aus aller Erdenschwere zu tun. Die Gärten hatten also die Funktion einer Glückslokalisierung, obwohl ich selber nie einen Garten hatte. Ich habe sie hauptsächlich in den Quartieren der Privilegierten, also der Reichen, erlebt. Ich bin ein Garten- und Parknarr sowie ein Liebhaber botanischer Gärten.



Können Sie das ein wenig mehr ausführen?
 

Für mich sind die Gärten eine Sphäre des Geheimnisses, der Erquickung und Besinnung, verknüpft mit der Vorstellung von ungetrübten Schönheitsvorgängen sowie winzigster Anwesenheiten, wozu Kleingetier, Insektengesumme, Schmetterlingsgeschaukel, Vogellaute sowie Geräusche des Wachsens und Dehnens gehören. Es ist die Entrückung aus aller Erden- und Lebenslast. Das fast nicht Wahrnehmbare des unschuldig Urkreatürlichen. Man könnte beim Wortesuchen bis zur Heiligkeit gehen. Die Gärten sind Offenbarungsgeschenke. Man kann sie sowenig haben wie eine Stadt, mit der man sich nur taumelnd, das heißt untergehend, verbinden kann. Das gleiche gilt für den Sexus, der ebenfalls ein Untergehen ist in etwas, das man nicht haben kann. Letztlich kann man nur den Wunsch danach haben, es immer von neuem haben zu wollen.



Warum eignen sich die Gärten der Reichen als Projektionsräume des Glücks?

Weil die Armen keine Gärten und nicht die dazugehörige Muße haben, höchstens Schrebergärten. Da, wo ich aufwuchs, gab es keine Gärten, die einen wie zuvor die Friedhöfe, die ich als Jüngling aufsuchte, zum müßigen Innesein und Denken einluden. Keine Gärten, nur Höfe zum Wäscheaufhängen, wie das bei Mietshäusern der Jahrhundertwende üblich ist.



Hatten Sie wirklich eine so unglückliche Kindheit?
 

Wenn ich das behaupten würde, wäre es nur die halbe Wahrheit. Im Gegensatz zu mir sagt meine Schwester, die den gleichen Bedingungen und Dämonen wie ich ausgesetzt war, wir hätten eine hinreißend schöne, überglückliche Kindheit gehabt. Nun ist ja alles Erfindung. Wenn Sie rückblickend von Ihrem Leben sprechen oder sich einen Lebenslauf zurechtzimmern, so ist das eine Art Wahrlügen, weil man sich zu gewissen Linien entschließt und andere wegläßt. Irgendwann glaubt man, alles wäre so gewesen, wie man es sich einbildet. An die Wahrheit des Biographischen kann ich, da alles Interpretation, also Einbildung ist, nicht recht glauben. Auch das Glück ist Fiktion.



Wie wehren Sie Unglück ab?
 

Vermutlich durch Schreiben. Solange meine Tagesverbringung an die schöpferische Arbeit gekoppelt ist, bin ich gefeit gegen Unglück, auch gegen Alter. Außerhalb des Schreibens bin ich offen für die schrecklichsten Unglücksvisionen.



Wann setzt das Glück beim Schreiben ein?
 

Bestimmt nicht, wenn ich ein Buch anfange, denn da komme ich mir vor, wie wenn ich für die Fremdenlegion unterschrieben hätte. Nicht auszudenken, worauf man sich einläßt. Wenn ich ein Buch beendige, bin ich nicht glücklich, sondern falle in ein Loch. Zwischendurch ereignet es sich. Es gibt Tage des Gelingens, wenn die Sprache zu greifen anfängt. Und, wenn sie die Führung übernimmt.



Ist dieser Glückszustand ein Einsseins mit der Sprache?

Ja, wo „es“ schreibt.



Für Nietzsche fällt das Erleben des Glücks mit dem Moment zusammen, wo die Zeit aufgehoben ist. Können Sie damit etwas anfangen?

Absolut.



Es gibt zwei großformatige Photographien in Ihrem Schreibatelier auf dem Montmartre. Die eine von einem düsteren Mietshaus, Ihrem Kindheitshaus, die andere von einem Ozeandampfer. Das Haus steht wohl für das Enden aller Geschichten und das Schiff für Unterwegssein und Glückssuche.

Die beiden Aufnahmen gehören in den Umkreis des Buches

Im Hause enden die Geschichten

. Der Arbeitstitel lautete eine Weile „Haus und Schiff“. Die Vorstellung vom Haus gleich Gefängnis und Beschwernis, auch Determination, ist mir bis heute geblieben. Die Aufnahme vom Schiff ist eine vergrößerte Postkarte mit der Darstellung eines alten russischen Dampfers, auf dem einer meiner Verwandten nach Amerika ausgewandert ist. Das Schiff ist Vehikel der freien Phantasie, der Wahl, der Entscheidung, der Welteroberung, des Abenteuers und der Utopie. Um auf die Strategien der Glückserzwingung zurückzukommen, so beinhaltet die Vorwegnahme eines schöneren Lebens auch Revolte: die Ablehnung unerträglicher gesellschaftlicher Strukturen, insbesondere der durch die familiären Umstände gegebenen niederdrückenden Bedingungen. Auf den Gängen durch die Gärten wurde die Maschine der Lebens- und Selbsterfindung in Gang gesetzt. Ich führte ein inneres Doppelleben. Im Grunde war ich schon damals dabei, mir einen Lebensroman anzuträumen. Kein Wunder, daß das überreiche Innenleben sich bald einmal in Aufschreibungen zu entladen begann. Ich mußte mich verbalisierend ausschütten, damit der Kopf nicht platzte. Das alles konnte nur einzelgängerisch, wenn nicht in der Einsamkeit vonstatten gehen. Darum war mir der Zugang zum Gemeinschaftlichen verhaßt. Ich bin sehr wohl fähig zu Freundschaften, aber Gemeinschaften wie in der Schule, auf der Universität oder in der Armee waren Zwangsformationen, die mich an der Inganghaltung der beschriebenen seelischen Prozesse und damit der schöpferischen Prädisposition hinderten. Die Gemeinschaft im Sinne von bierhaftem Teilen von Gemütlichkeit ist wie das Haus eine Horrorvorstellung geblieben, obwohl ich ganz gerne mal zu Besuch in Häusern bin, die mir gefallen. Aber das Bild der Gemütlichkeit ist mir ein Greuel. Auch meine Glückspraktiken waren Einzelhandlungen.



Was fällt Ihnen zu Glück noch ein?
 

Die großen, sich in den weiten Raum schwingenden und in Freiheit segelnden Vögel. Das ist für mich die Verkörperung dessen, wonach ich dürstete. Zu dem ekstatischen unumschränkten Freiheitsgefühl, auch als Selbstbefreiung zu verstehen, diesem Aufschwung der Seele kommt noch etwas hinzu, die Vereinigung mit etwas tief Entbehrtem, einer höheren Heimat. Zudem findet in diesem Zustand eine Vergegenwärtigung oder ein Innensein in einem fast mystischen Sinne statt. Dieses Entbrennen ist das Höchste an Glück oder höchstes Ziel.

 

Sie verbinden mit der Glücksempfindung das Aufschwingen und damit auch eine Befreiung von der tiefempfundenen Lebensschwere. Zur Schwermut finden sich in Ihren Büchern etliche Passagen. Zu Ihrem Verständnis von Glück eher indirekte, aber auch konkrete Äußerungen, etwa am Beispiel der französischen Malerei, wie wir sie von Bonnard oder Matisse kennen.



Empfanden Sie diese als Vorschein eines anderen Lebens?
 

Mir fällt dazu noch Vermeer ein, und zwar bezogen auf den Zeitstillstand. Glück hat ja stets mit einem Außerhalb-der-Zeit-Sein zu tun. Was die französische Malerei angeht, so läßt sie sich zu einem großen Teil als Arbeit an der Konkreti-sierung der Vorstellung vom irdischen Glück im Jetzt verstehen: des diesseitigen Glücks. Es ist die Herstellung des kleinen Glücks auf Erden, wozu auch die schöne nackte Frau am Busen der Natur gehört. Der Eros. Da gibt es ja die wunderbarsten Frauendarstellungen, wobei mir die Großartigkeit von Ingres immer mehr aufgeht. Für mich gehören zum Glück Eros und Schönheit. Mein Schönheitshunger ist schrankenlos und dessen Stillung so wichtig wie das tägliche Brot. Ja, Schönheit und Eros, was ja ohnehin zusammengehört. In dem Sinne ist Paris mit seinem beglückenden Überangebot an Augen-Blicken für mich die schönste aller Städte. Zum Schreiben unterhalte ich Ateliers außerhalb meines Wohnviertels. Um sie zu erreichen, muß ich die Stadt durchqueren, wozu ich viel Zeit aufwende. Als Ausgleich dafür sammle ich unterwegs Bilder, Zündstoff und Wortgedanken ein. Wenn man beinah dreißig Jahre in einer schauend nach wie vor unverbrauchten, unabgenutzten und teilweise sogar unbekannt gebliebenen Stadt lebt, weil diese wie ein Springbrunnen immer wieder neue Facetten hervorzuzaubern und unerhörte Schönheitsanfälle zu produzieren imstande ist, grenzt das an ein Wunder.



(...)

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