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Cover Lettre International 48, Philip Rantzer
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LI 48, Frühjahr 2000

Kotau vor dem Drachenthron

Manchmal kann das Fernsehen ein Bild einfangen, das ins Auge sticht wie ein unschätzbares Gemälde auf einem Trödelhaufen. Zwei Beispiele vom Ende des vergangenen Jahres waren besonders auffällig. Eines war am 19.Oktober in den Nachrichten der BBC zu sehen. Gezeigt wurde eine von Pferden gezogene Kutsche, die über die Mall in London zum Buckingham-Palast rumpelte. In ihr saßen die englische Queen und ihr Staatsgast Jiang Zemin, Präsident der Volksrepublik China. Ehrenwachen in scharlachroten Uniformen und glänzenden Brustpanzern flankierten das königliche Gefährt, der Himmel ein vollkommenes Blau, im Herbstwind flatternde Flaggen: rot für China, blau-weiß für Britannien. Mehrere tausend Menschen sahen sich den Umzug an, zumeist Touristen, aber auch eine Handvoll Chinesen, die vom Botschaftspersonal verteilte Papierfahnen schwenkten. Plötzlich wurde es unruhig: Britische Polizeibeamte! verhafteten einen Mann, der ein Spruchband aufrollen wollte. Auf dem Transparent stand auf chinesisch: "Freiheit für alle politischen Gefangenen". Der Mann war Wei Jingsheng, jener Dissident, der achtzehn Jahre in chinesischen Gefängnissen verbracht hatte, weil er sich für die Demokratie in seinem Land einsetzte. Die Arme wurden ihm auf den Rücken gebogen, als man ihn aus den Augen jener lächelnden, plumpen, bebrillten Gestalt schaffte, die nun zufällig die letzte große Diktatur der Welt regiert. Ein schockierendes Bild. Wie konnte dies in einem Land geschehen, das sich rühmt, eine Bastion der Demokratie und der freien Meinungsäußerung zu sein?

Das zweite Fernsehbild wurde einen Monat früher ausgestrahlt. Es zeigte nur einen flüchtigen Moment in einem Dokumentarfilm über das Wiederaufleben der chinesisch-amerikanischen Beziehungen im Jahre 1972. Henry Kissinger, ähnlich einer Katze, die gerade eine Maus gefangen hat, erklärte, wie mit den Chinesen umzugehen sei. Die Chinesen, sagte er, "sind vermutlich schlauer als wir", also muß man stets aufrichtig zu ihnen sein. Eine bemerkenswerte Äußerung von einem Mann, dessen diplomatisches und politisches Verhalten niemals aufrichtig gewesen ist (damals betrog er gerade das Außenministerium seines eigenen Landes). Verblüffender aber war der erste Teil seines Satzes: Sie "...sind vermutlich schlauer als wir". Warum? Wieso sollte dieser gerissene und arrogante Harvardzögling etwas Derartiges annehmen?

Doch zunächst zurück zum Bild und zu der offiziellen britischen Politik, die jeden chinesischen Kritiker daran hinderte, Jiang Zemin den Tag zu verderben. Der Hauptgrund dafür liegt auf der Hand. Britannien will seine Wirtschaftsbeziehungen mit China ausbauen. Daran ist auch nichts auszusetzen. Der Handel ist nicht allein dem britischen Geschäftsleben zuträglich, sondern er könnte auch dazu dienen, die Öffnung der chinesischen Gesellschaft zur Außenwelt weiter voranzutreiben. Es ist im Prinzip auch nichts Falsches dabei, dem chinesischen Staatsoberhaupt einen freundlichen Empfang zu bereiten. Die Schändlichkeit lag in der Unterstützung, seine Kritiker zum Schweigen zu bringen.

Wie die meisten Diktatoren ist auch Präsident Jiang schon durch erste Anzeichen von Protest leicht zu verärgern. Das war bekannt. Das britische Außenministerium hatte seine Hausaufgaben gemacht. Als man vor einiger Zeit während eines Besuches in der Schweiz einigen Demonstranten gestattete, Jiang unter die Augen zu kommen, wandte er sich an seine Gastgeber und sagte, sie hätten gerade einen guten Freund verloren. "Ein Freund Chinas" zu sein bedeutet jedoch immer noch, was es bereits vor vielen Jahrhunderten bedeutet hat. Von Barbaren wird erwartet, daß sie dem Drachenthron ihren Tribut zollen, daß sie vor dem chinesischen Kaiser niederknien und zum Zeichen ihrer Unterwerfung mit der Stirn den Boden berühren. Kritik wird als Ausdruck von Feindschaft empfunden. Und wie vor dreihundert Jahren gilt, daß Handelschancen nur "alten Freunden" eingeräumt werden. Selbst auf britischem Boden das Recht auf Widerspruch mit Füßen zu treten ist der Preis, den die britische Regierung zu zahlen bereit ist, als ein Freund Chinas gelten zu dürfen. Wenn sie den Kotau nicht leistet, machen es bestimmt die Franzosen oder die Deutschen.

Da Großbritannien neunmal mehr nach Belgien als nach China exportiert und der Handel mit der Volksrepublik im Vergleich etwa mit den Handelsbeziehungen zum demokratischen Taiwan nur minimal ist, wirkt dieser kommerzielle Übereifer ein wenig merkwürdig. Doch die Hoffnung auf ungeheure Reichtümer lockt weiterhin wie ein Trugbild, verführerisch, aber stets außer Reichweite. Man stelle sich vor: Es geht nicht mehr länger darum, Öllampen an Millionen zu verkaufen, sondern nun geht es um Autos, Computer und Fernsehgeräte an mehr als eine Milliarde Menschen.

Nur wenige Wochen vor Jiang Zemins Europareise hatten sich Geschäftsleute aus der ganzen Welt unter der Schirmherrschaft von Time Warner Inc. in Shanghai versammelt, um fünfzig Jahre kommunistischer Diktatur in China zu feiern. Gemäß der alten Tradition Tribut zollender Barbaren gingen auch sie gleichsam in die Knie und berührten mit der Stirn den Boden. Der Vorsitzende von Time Warner nannte Präsident Jiang Zemin "meinen guten Freund", und man vermied sorgfältig alle Gesprächsthemen, die den Chinesen hätten unangenehm sein können. Der gute Freund des Vorsitzenden reagierte mit einer schroffen Stellungnahme gegen alle Fremden, die versuchten, den Chinesen ihre Vorstellungen von Menschenrechten "aufzuzwingen". Und er verbot die neueste Ausgabe des Wochenmagazins Time, da es einen Artikel von Wei Jingsheng veröffentlicht hatte. Dennoch blieben die Geschäftsleute auf den Knien und wagten es nic! ht, die Stirn vom Boden zu heben. Der Vorsitzende der Nokia Corporation plapperte etwas davon, wie vortrefflich doch die gegenwärtigen Herrscher Chinas das Land regierten. Und der Vorsitzende von Viacom und prospektive Käufer von CBS sagte, daß journalistische Integrität natürlich etwas sehr Schönes sei, doch dürfe dies nicht heißen, daß "journalistische Integrität sich als unnötig offensiv gegenüber jenen Ländern erweise, mit denen wir Geschäfte treiben".

Kein Wunder daher, daß die kommunistischen Herrscher Chinas fest davon überzeugt sind, den Westlern liege ausschließlich das Geld am Herzen. Es gibt in Asien natürlich ein altes Vorurteil, das angesichts der Gefühle von Unterlegenheit, wie Kolonialismus und ökonomische Rückständigkeit sie hervorgerufen hatten, lange als eine Art Gegenmittel zur Wahrung des Gesichtes fungierte, jenes Vorurteil nämlich, daß die Westler primitiv und habgierig, die Chinesen oder auch die Inder aber Geistesvölker sind, die sich über solch niedrige kommerzielle Anliegen erhaben wähnen dürfen. Dieses Vorurteil hat sich immer wieder aufs neue bestätigt, seit europäische Handelsgesandtschaften gegen Ende des 18.Jahrhunderts in Peking eingetroffen und vor dem himmlischen Thron niedergekniet waren. Und wenn der Kotau den Europäern keine Geschäfte brachte, führten sie Krieg. Ob nun so oder so, ganz offensichtlich beherrschte einzig das Gold ihr barbarisches Denken.

Es liegt eine ungeheure Ironie darin, daß die westliche Auffassung über die Chinesen mit einem ähnlichen Vorurteil behaftet war. Die meisten Europäer kannten Chinesen nur als Einwanderer aus südostasiatischen Hafenstädten. Diese Chinesen verdienten wie die meisten Einwanderer überall auf der Welt ihren Lebensunterhalt mit Handelsgeschäften, wodurch sie allen Chinesen den Ruf eintrugen, geborene Geschäftsleute zu sein, oder, um es mit den weniger freundlichen Worten eines thailändischen Politikers der dreißiger Jahre zu sagen, sie waren "die Juden Asiens". Daher vielleicht die Ansicht, daß man, wenn man es nur richtig anpacke, ein Vermögen in China verdienen könne.

In Wahrheit jedoch geht die Frage nach kommerzieller Habgier weit über die Beziehungen zwischen Ost und West hinaus. Ein entsprechender Vorwurf ist immer wieder gegen handeltreibende und mit einem gewissen Maß an Liberalität regierte Staaten wie etwa die Niederlande, Großbritannien oder Venedig von eher autoritären Regierungen erhoben worden. Erinnert sei an Napoleon, der England für ein Krämervolk hielt oder an Kaiser Wilhelm II., der das britische Empire ein kommerzielles Unterfangen nannte — im Gegensatz zum Deutschen Reich, das den Segen des deutschen Geistes über den Globus verbreitete, ob die Völker ihn wollten oder nicht. Es besteht eine Verbindung zwischen Geschäftsinteressen, oder doch zumindest der Freiheit des Handels, und liberaler oder gar demokratischer Politik. Geld trägt dazu bei, Gleichheit zu schaffen, ist egalitär und blind gegenüber Glaube und Rasse. (Wie Voltaire über die! Londoner Börse sagte: Muslims, Christen und Juden sind im Handel Gleiche, die einzigen Ungläubigen dabei sind die Zahlunsunfähigen.) Handel kann gedeihen, wenn der Besitz des einzelnen durch das Gesetz geschützt wird. Und das bedeutet ebenso Schutz vor dem Staat wie vor den Menschen. Beunruhigend an China und angrenzenden Staaten wie etwa Singapur aber ist, daß dieses Axiom von einem anderen Modell in Frage gestellt wird: die Kombination von politischer Unterdrückung mit kommerzieller Liberalität. Die Versuchung, vor der Sowjetunion zu Kreuze zu kriechen, ist nie derart mächtig gewesen, da dort kein Geld zu machen war. China lockt uns mit seinen Reichtümern, solange wir seine Kaiser lobpreisen.

Henry Kissinger hat in den letzten Jahrzehnten gut daran verdient, daß er Geschäftsleuten erzählte, wie in China Geld zu machen ist. Und er war Peking stets ein guter Freund. Nachdem die chinesische Regierung eine friedfertige, zivile Protestbewegung mit mörderischer Gewalt niedergeschlagen hatte, ergriff Kissinger das Wort zu ihrer Verteidigung. Denn, so sagte er, "Ordnung muß sein". Und doch glaube ich, daß das gute Geschäft nicht der einzige und vielleicht nicht einmal der wichtigste Grund für Kissinger ist, sich schon seit langem vom chinesischen Traum fasziniert zu zeigen. Ich denke, es offenbart eine Anziehungskraft der Ordnung als solcher, sogar einen Kult der Macht. Der Schlüssel zum Verständnis liegt in seinen Worten: "Vermutlich sind sie schlauer als wir." Es ist gefährlich, derlei über ein ganzes Volk zu behaupten, und gerade Juden sollten empfindlich auf den möglichen Widerhall einer solchen Annahme reagieren. Denn der Gedanke, daß eine bestimmte Rasse oder eine Nation auffällig intelligent ist (und aus lauter guten Geschäftsleuten besteht), kann ebenso negative wie positive Konnotationen haben. Das Bild vom teuflisch verschlagenen Chinamann ist der Nazi-Karikatur vom Jud Süß durchaus ähnlich und inspirierte Sax Rohmer zu seinem berühmten Bösewicht Dr.Fu Manchu.

Es mag im Jahre 1972 gerade noch möglich gewesen sein, den Schatten von Fu Manchu in Kissingers Gegenspielern auszumachen, doch fehlte Mao gewiß die nötige Finesse für eine derartige Rolle, und auch wenn an Zhou Enlais Händen Blut klebte, war er doch eher speichelleckender Lakai als Erzgauner. Möglicherweise war es auch gar nicht so sehr die überragende Schlauheit, die Kissinger am Hofe Mao Zedongs beeindruckte, sondern die Atmosphäre ungeschminkter Macht. Vielleicht ist Mao ein Massenmörder gewesen, doch wissen wir, daß jemand, der einen Menschen umbringt, ein gewöhnlicher Krimineller ist, wer aber Millionen tötet, der ist ein Großer Mann. Das Gefühl, mit einem solch großen Mann Geschäfte machen zu können, mag eine Form des Selbstlobes sein, als würde ein wenig von seiner Macht abfärben. Liest man Kissingers Memoiren über seine Begegnungen mit Mao, bekommt man den Eindruck, daß der deutschstämmige Repräsentant der mächtigsten Nation der Erde tief beeindruckt war vom Diktator einer rückständigen, verarmten Dritte-Welt-Nation, die eigentlich nur über sehr wenig Macht verfügte. Doch hätte Kissinger, anders als Mao, nie den Tod von Millionen einfach dadurch verursachen können, daß er seine Phantasien auslebte. Dafür mußte man eben ein "Großer Führer" sein, und Große Führer werden zum Glück nur selten von Demokratien hervorgebracht.

Despotismus hat immer einen Teil der Mystik Chinas ausgemacht. Jahrhundertelang bot China den Europäern ein Utopia oder ein Dystopia, auf das sie ihre Phantasien projizieren konnten. Für Voltaire war China ein rationalistisches, von aufgeklärten Gelehrtenbeamten regiertes Utopia. Die Phantasie eines Intellektuellen. Ezra Pound fand im konfuzianischen Staat den Entwurf einer vollkommenen Ordnung, ein diszipliniertes Volk, das unter der unnachgiebigen Führerschaft des Kaisers wie ein Mann agierte. Die Phantasie eines Faschisten. Er sah Parallelen zwischen dem kaiserlichen China und Mussolinis Italien. Einige Jahre später wurde der Vorsitzende Mao von westlichen Intellektuellen weithin dafür bewundert, daß er seine absolute Macht zu sozialen Experimenten mit einer Milliarde gehorsamer Untertanen nutzte. Das war der Faschismus der Linken, doch auch der Traum eines typischen Intellektuellen.

Henry Kissinger zählt gewiß zu den Intellektuellen, doch ist er weder Faschist noch Kommunist. Seine Faszination für Macht beruht eher auf seiner Identifikation mit Metternich. Für ihn ist die ideale Welt ein riesiges Schachbrett, auf dem große Männer geschickte Züge machen, um das Gleichgewicht des Spiels zu wahren. Große Männer, Kissinger eingeschlossen, lieben nichts so sehr wie die Ordnung. Aus ihrer Sicht ist die Demokratie bestenfalls eine chaotische Exzentrizität des Westens, und es besteht keinerlei Notwendigkeit, sie in China einzuführen. Demokratie in China würde zu Unordnung führen. Und die Sinophilen haben an China stets die Blaupause sozialer Ordnung bewundert, ob nun konfuzianisch in der Vergangenheit oder kommunistisch in der Gegenwart.

Es ist interessant, Kissingers Faszination für China die offene Verachtung für Japan gegenüberzustellen. Dieses Phänomen ist unter Sinophilen nicht gerade ungewöhnlich, neigen sie doch dazu, Chinas alte Feinde durch die chinesische Brille zu betrachten. Doch Kissinger bemäkelt an Japan vor allem, daß es keine großen Führer vorzuweisen hat. Das Fehlen einer starken Zentralregierung mit Politikern, die mit ihm Globalschach spielen können, macht ihn rasend. Kissingers Verachtung für das friedliche, handeltreibende Nachkriegs-Japan erinnert an einen anderen Großen, an Charles de Gaulle, der den japanischen Premierminister einmal einen Vertreter für Transistorradios genannt hat. Das war taktlos, dennoch ist es zweifellos richtig, daß japanische Premierminister selten als große Männer beschrieben werden können.

Nun, Japan ist wohl kaum das Vorzeigemodell einer liberalen Demokratie. Seine Bürokraten sind sogar noch autoritärer als die Frankreichs. Und die politische Dominanz durch eine korrupte konservative Partei hat sogar noch länger gedauert als der Würgegriff, in dem die Christdemokraten Italien hielten. Verglichen mit nahezu jeder anderen Nation in Asien ist Japan jedoch ein offenes, liberales Land, in dem Redefreiheit und Stimmrecht für selbstverständlich gehalten werden. Und obwohl die gängige Auffassung vom prämodernen Japan einen Polizeistaat der Samurai zeigt, trifft auch dies nur zum Teil zu. Japanische Kaiser haben nie über eine Macht verfügt, die mit jener der chinesischen Kaiser vergleichbar gewesen wäre; während der längsten Zeit der japanischen Geschichte verfügten sie sogar über gar keine Macht. Die starken Männer des Militärs regierten Japan ohne eine Spur von Demokratie, doch war ihre Herrschaft kaum absolut zu nennen. Im 17.und 18.Jahrhundert beruhte die Regierung Japans auf einem Netz offizieller und inoffizieller Kompromisse, die es den Dörfern letztlich gestattete, sich selbst zu regieren, und die den Handeltreibenden größere Freiheiten als den Händlern im kaiserlichen China gewährte.

Nicht China, sondern das alte Japan war also gewissermaßen der Vorläufer des sogenannten "asiatischen Modells", des Asian Way, dem China heute so nacheifert: die Kombination von politischer Autokratie mit kommerzieller Freizügigkeit. Auf Japan trifft dieses Model kaum noch zu; Singapur kommt ihm am nächsten. Es ist kein Modell, das die meisten Europäer von amerikanischen Politikern ganz zu schweigen problemlos in ihren eigenen Ländern vertreten könnten. Dafür ist die Demokratie zu weit entwickelt. Doch auf Asien angewandt findet es Bewunderung. Und auch hier wird ein altes Muster sichtbar: Asien insbesondere China war nie nur ein leeres Blatt, auf das die Europäer ihre exotischen Phantasien projizierten. Diese Phantasien haben immer auch heimische Unzufriedenheit reflektiert. Voltaires Bewunderung für den "rationalen", konfuzianischen Mandarin-Staat war Ausdruck seiner antiklerikalen Ansichten in Frankreich. Ezra Pounds faschistische Vorstellungen über China spiegelten seine Verachtung bourgeoiser Demokratie wider. Gleiches gilt für die Pariser Maoisten des Jahres 1968.

Und dies trifft ebenso für den Kotau westlicher Geschäftsleute vor der kommunistischen Regierung Chinas und ihrer katzbuckligen Bewunderung für Lee Kuan Yews Propaganda für antiliberale "asiatische Werte" zu. Mit anderen Worten: Sie kriechen nicht allein aus Opportunismus zu Kreuze. Der asiatischen Eigenart zu gehorchen drückt auch ein Unbehagen mit den chaotischen, manchem Geschäft dem Staatsgeschäft ebenso wie dem Geschäft an sich oft hinderlichen Gepflogenheiten der Demokratie aus. Wir kennen dieses Unbehagen von den Bürokraten der Europäischen Union. Warum überlassen wir nicht den Bankiers und den ungewählten Beamten von den Eliteschulen die Sorge um unsere Angelegenheiten; sie wissen doch sicherlich besser damit umzugehen als diese vulgären Politiker. Und die Politiker selbst, beunruhigt ob der Nörgelei ihrer Kritiker und der Forderungen ihrer Wähler, werden gewiß so manches Mal neidvoll zusehen, wie Lee Kuan Yew und seine asiatischen Autokratenkollegen mit ihren Schwierigkeiten fertig werden.

Von den Bewunderern des Asian Way wird einem oft gesagt, daß China sich schon machen werde, da dort niemand mehr an den Kommunismus glaube; mein Gott, sie sind doch jetzt alle Kapitalisten! Die Leute, die dies behaupten, sind zumeist vom kapitalistischen Erfolg derart aufgeblähte Geschäftemacher und Bankiers, daß sie blind für jene politischen Gefahren sind, die so leicht ihre eigenen Interessen gefährden könnten — von denen einer Milliarde Chinesen ganz zu schweigen. Ein Regime, dessen Gewalt sich nicht auf allgemeine Zustimmung stützt, dessen einziger Anspruch auf das Machtmonopol in seinem Versprechen auf stetig wachsenden Reichtum liegt, ist ein zerbrechliches Regime. Maos absolute Herrschaft basierte auf roher Macht und Indoktrination. Präsident Jiang kann eine vergleichbare Macht nicht aufbieten, und der Glaube an die kommunistische Lehre ist passé (damit haben die Geschäftsleute recht). Dem Präsidenten bleibt nur das Lockmittel Geld, und wenn es damit nicht klappt, kann er es mit der widerwärtigen Fratze des Nationalismus probieren. Da alle, selbst die erfolgreichsten Länder, ökonomische Tiefen wie Höhen durchleiden, ist Chinas universelle So-werd-ich-schnell-wohlhabend- Masche reich an Gefahren. Und auch heute wird nicht jeder Chinese täglich reicher. Wie eh und je ist der Reichtum ungleichmäßig verteilt. Das chinesische Hinterland, weitab von den vergleichsweise florierenden Küstenstädten, ist immer noch schrecklich arm; mehrere hundert Millionen Arbeitslose durchstreifen das Land auf der Suche nach einem Job. Kein Wunder, daß die chinesische Regierung beim leisesten Anzeichen von Widerspruch und Unzufriedenheit nervös wird.

Der moderne chinesische Nationalismus weist seine eigene Geschichte zahlloser Demütigungen auf, von denen manche echt, manche eingebildet sind, andere aber zu politischen Zwecken absichtlich konstruiert wurden, doch hat der chinesische Nationalismus viel mit den bösartigen Formen jenes Nationalismus gemein, den die Europäer so gut kennen. Das wilhelminische Deutschland war eine Großmacht, die ihre Industrie ankurbelte und mit ihrem Reichtum protzte. Wie das heutige chinesische Regime hielten die deutschen Regierungen gegen Ende des 19.Jahrhunderts die Ökonomie für eine Waffe, für ein Werkzeug zur Förderung nationaler Macht. Den Deutschen stand es frei, Geld zu verdienen, doch war ihnen nicht gestattet, ihre politischen Rechte auf demokratische Art auszuüben. Die Regentschaft von Wilhelm II. war von einem defensiven Nationalismus voller Ressentiments gekennzeichnet, der es den Menschen erlaubte, ja sie sogar dazu ermunterte! , die Schuld an jeglichem Rückschlag bei den Ausländern oder den Außenseitern in ihren Reihen zu suchen. In der paranoiden Weltsicht des Kaisers war Deutschland von feindlichen Mächten umgeben, die es am Boden halten wollten. Die ganze Welt war gegen die Deutschen und die größte Gefahr, seiner Meinung nach, drohte aus China.

Die chinesische Regierung pflegt ebenfalls die Vorstellung, daß die äußere Welt den Chinesen ihre Macht mißgönnt und China arm und geteilt sehen möchte. Doch ist der Nationalismus in China ein zweischneidiges Schwert, haben doch seine regelmäßigen Ausbrüche oft auch die chinesische Regierung selbst getroffen. Im letzten Jahrhundert etwa richtete sich die nationalistische Rebellion gegen die "fremden" Mandschus, die den Drachenthron besetzt hielten. Im 20. Jahrhundert begannen die Rebellionen gewöhnlich als Protest, da die Regierung eine Demütigung Chinas durch die Fremden zuließ. Die berühmte Vierte-Mai-Bewegung im Jahre 1919 begann mit einer Studentendemonstration gegen eine Regierung, die es zugelassen hatte, daß deutscher Besitz in China im Austausch für dringend benötigte Finanzanleihen an die Japaner übertragen wurde. Die Studentendemonstrationen in den achtziger Jahren begannen ebenfalls mit einem Protest gegen japanische Firmen, die den chinesischen Markt infiltrierten. Und als in diesem Jahr die chinesische Botschaft in Belgrad von einer NATO-Bombe getroffen wurde, war keineswegs eindeutig, wer hier wen manipulierte. Stachelte die Regierung die Studenten auf oder war es eher umgekehrt?

Daher sollte der Gedanke auf tiefe Skepsis stoßen, daß es sich beim Asian Way oder Chinese Way, den Kapitalismus zu fördern und politischen Widerspruch zu unterdrücken, um einen sicheren Weg handle. Japan oder Indien könnten gravierende wirtschaftliche Krisen vermutlich überstehen, da ihre demokratischen Systeme und seien sie auch noch so unvollkommen als Puffer fungieren. Gleiches aber gilt nicht für China. Falls oder vielmehr sobald die chinesische Ökonomie zusammenbricht, müssen wir mit massiver Gewalt rechnen, die sich entweder in Form von Rebellionen und brutalen Niederschlagungen gegen das eigene Land oder gegen die äußere Welt richtet, was hieße, daß Taiwan das erste, aber vermutlich nicht das letzte Opfer sein dürfte. Die Folgen für das übrige Asien sind unabsehbar, doch gewiß unangenehm. Und da die Vereinigten Staaten den Polizisten in Ostasien spielen, wird auch der Westen unweigerlich hineingezogen werden.

Selbst wenn wir alle humanitären Befürchtungen außer acht und die universalen Werte außen vor lassen, selbst wenn wir gänzlich aus Eigennutz handeln, sollten wir die Demokratie in China fördern, indem wir den sogenannten Asian Way kritisieren. Solche Kritik für koloniale Arroganz zu halten, mag tolerant und liberal erscheinen, ist in Wahrheit aber nur dumm. Denn es geht nicht darum, die westliche Macht zu vermehren, sondern darum, dem chinesischen Volk die freie Meinungsäußerung, die Wahl der eigenen Herrscher und einen Anteil an der Macht zu ermöglichen. Es würde China zu einem glücklicheren Land und die Welt zu einem sichereren Ort machen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024