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Cover Lettre International 54, Alexander Polzin
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Inhaltsverzeichnis

LI 54, Herbst 2001

Prinzenliebe, Königsblut

Amoklauf oder Intrige? Das Massaker in Nepals Herrscherdynastie

Am Tag nach Dipendras "Katto"-Zeremonie verbreitete sich die Nachricht, daß der offizielle Bericht über das Massaker am selben Abend, zwei Wochen nach dem Blutbad, veröffentlicht werde. Auf dem Parlamentsgelände schloß ich mich den Reportern und Fernsehteams an, die sich ihren Weg in einen Saal freikämpften, der eindeutig zu klein war. Auf einem Tisch in der Mitte des Raumes lag eine Sammlung von Waffen. Die beiden Verfasser des Berichts nahmen Platz, und der Parlamentspräsident begann, ihre Untersuchungsergebnisse zusammenzufassen.

Er verlas eine Erklärung in Nepali und Englisch und trat dann nach vorn, um die Beweisstücke zu präsentieren. Nacheinander hob er die Waffen in die Höhe, und die Fernsehteams drängelten sich gegenseitig beiseite, um ihn zu knipsen, während er lächelnd mit den Waffen posierte, die die Königsfamilie ausgelöscht hatten. Er hielt ein M-16-Sturmgewehr hoch und richtete es scherzhaft auf die Presseleute. Ein nepalesischer Journalist neben mir stöhnte auf und hielt sich angesichts dieses Abgleitens von der Tragödie in die Farce die Augen zu.

Der Tarnanzug, der Dipendra gehört hatte, wurde aus einem schwarzen Plastiksack gezogen und hochgehoben, als handele sich um das Fell eines erlegten Tieres. Dann hielt er ein Paar Handschuhe und schwarze Lederstiefel in die Höhe. Über den Lärm hinweg riefen ihm Journalisten Fragen zu. Der Vorsitzende wimmelte sie ab. "Der Bericht wird ins Internet gestellt", sagte er.

Wenn der Bericht die Öffentlichkeit von der offiziellen Version überzeugen sollte, so war er nicht gerade ein überwältigender Erfolg. Trotz seines Umfangs und der Beweisstücke wurde kein Versuch unternommen, eine Antwort auf die zentrale Frage zu geben: Was hatte Dipendras mörderische Attacke ausgelöst?

Der Tag des Kronprinzen war offensichtlich normal verlaufen. Er hatte den Vormittag in seinem Büro verbracht und mit seinen Eltern zu Mittag gegessen. Am Nachmittag hatte er das Sportzentrum Satdobato besucht, um sich über den Stand der Vorbereitungen auf die bevorstehenden Landesmeisterschaften zu informieren, und hatte sich dann wieder mit seinen Eltern getroffen, um im Haus eines Guru einer offiziellen Teegesellschaft beizuwohnen. Dann kehrten sie in den Palast zurück – für den späteren Abend war ein Familiendinner geplant – , und der Prinz zog sich zurück, um eine Partie Billard zu spielen. Sein Adjutant arrangierte die Bälle für ihn. Der Billardsaal des Palastes war mit einer Bar und einem CD-Player ausgestattet, und die Jüngeren kamen oft hier zusammen. Er war über eine breite Veranda mit einem Salon verbunden, in dem die Königinmutter gern diese Abende verbrachte. In nächster Nähe befand sich der Speisesaal, in dem das Büffet hergerichtet werden sollte. Zu diesen Soireen traf sich nur der engste Familienkreis, und die Adjutanten hielten sich diskret abseits und warteten in einem nahe gelegenen Büro. Selbst die Diener zogen sich zurück und überließen es den Gästen, sich selbst mit Getränken zu versorgen.

Um 19.15 Uhr bestellte der Adjutant des Prinzen etwas Wein und schenkte Dipendra einen Schuß Famous Grouse Whisky ein. Dann überließ er den Prinzen seinem Billardspiel und ging, um sich um das Einparken der Autos der in Kürze erwarteten Gäste zu kümmern.

Am Tag zuvor hatte ein Adjutant Rabi Shumshere Rana, den Onkel des Königs und der Königin, angerufen, um ihn, wie üblich, auf halb acht einzuladen. Rabi trug bei diesen Empfängen keine Uhr, erzählte er mir, weil der König die Essenszeit immer vergaß. "Manchmal konnte es elf werden, bis wir mit dem Essen anfingen, gelegentlich sogar Mitternacht. Hätte ich eine Uhr bei mir gehabt, wäre ich nervös geworden." Doch er erinnert sich, daß er selbst pünktlich eintraf und vor ihm nur ein einziger Gast da war: Maheshwar Kumar Singh, ein angeheirateter Onkel des Königs. Rabi ist einer der wenigen, die mir gegenüber keinen Zweifel daran äußerten, daß der Kronprinz seine Familie ermordete. Rabi stand keinen halben Meter von Dipendra entfernt, als dieser auf den König schoß.

Dipendra, im traditionellen informellen Anzug, bestehend aus einer Kurta und weiten Pajama-Hosen, bot Rabi einen Drink an. Rabi entschied sich für White Horse Whisky. Andere Gäste trafen ein, und Dipendra schenkte weiter Getränke aus. Dann fuhr Dipendra, von Rabi unbemerkt, zusammen mit seinem Adjutanten im Auto weg, um seine Großmutter in ihrer unweit gelegenen Residenz abzuholen.

Nachdem die Königinmutter in ihrem Salon Platz genommen hatte, machten ihr Dipendra und die Gäste ihre Aufwartung; das Protokoll erforderte, daß zuerst auf ihre Gesundheit getrunken werden sollte. Rabi setzte sich zu der alten Dame, während die jüngeren Mitglieder der Familie sich am anderen Ende des Saales versammelten, um auf die Ankunft des Königs und der Königin zu warten. Als letzter traf der König, aus seinem Büro kommend, ein. Es war halb neun.

Dipendras Einzelverbindungsnachweis zufolge telefonierte er um 20.12 Uhr – offensichtlich vom Billardsaal aus – über sein Handy mit Devyani. Sie sprachen eine Minute und neunzehn Sekunden miteinander. Um 20.19 Uhr rief Dipendra einen seiner Adjutanten zu sich und forderte ihn auf, ihm ein paar "besondere" Zigaretten zu bringen, die in dem Bericht als Mischung aus Haschisch und einer nicht identifizierten schwarzen Substanz beschrieben werden. Dipendra hatte solche Mischungen seit mindestens einem Jahr geraucht, selbst bei öffentlichen Veranstaltungen.

Rabi zufolge befanden sich die meisten der Gäste im Salon der Königinmutter. Der Prinz war zusammen mit Paras und Nirajan, seinem jüngeren Bruder, in den Billardsaal zurückgekehrt. Obwohl es keine Diskussion über seine Heirat gegeben hatte, hatte Dipendra Paras berichtet, daß sowohl seine Mutter als auch seine Großmutter dagegen seien und er beabsichtige, am Sonntag mit seinem Vater darüber zu reden. Einigen Berichten zufolge scheint Dipendra dann groteskerweise betrunken zu Boden gefallen zu sein. Er wurde auf sein Zimmer gebracht, damit er sich dort erhole.

Als Devyani etwas später zurückrief, klang Dipendra betrunken. Dieses Mal sprachen sie mehr als vier Minuten miteinander. In ihrer auf Tonband gesprochenen Aussage gegenüber dem Untersuchungsausschuß erklärte Devyani, über seine unartikulierte Sprechweise so beunruhigt gewesen zu sein, daß sie einen seiner Adjutanten, Raj Kumar Karki, anrief. Karki war zu Hause, wo er sich gerade auf eine Reise in die Vereinigten Staaten vorbereitete. Er teilte Devyani mit, daß er nicht im Dienst sei. Ein paar Minuten später rief ihn Devyani noch einmal an. Immer noch widerwillig telefonierte Karki daraufhin mit dem diensthabenden Adjutanten, den Devyani ebenfalls angerufen hatte, und dieser versicherte ihm, daß bereits zwei Diener geschickt worden seien, um beim Prinzen nach dem Rechten zu sehen.

Diese trafen Dipendra auf dem Boden liegend an. Er bemühte sich, seine Kurta aufzuknöpfen. Sie halfen ihm beim Ausziehen, und er torkelte ins Badezimmer, wo sie hörten, wie er würgte. Als er ein paar Minuten später wieder erschien, schickte er die Diener weg und rief erneut Devyani an, um sie zu beruhigen. "Ich gehe jetzt schlafen", sagte er. "Gute Nacht. Wir reden morgen miteinander."

Aber Dipendra legte sich nicht schlafen. Er stand auf und zog sich an: Hemd und Hose in Tarnfarben, schwarze Stiefel, eine Armeejacke, einen schweren Munitionsgürtel aus Leder, eine Soldatenmütze und schwarze Lederhandschuhe. Bewaffnet mit einem M-16-Sturmgewehr, einer 9-mm-Glock-Pistole, einer MP-5k-Maschinenpistole und einer Flinte vom Kaliber 12, verließ er seine Gemächer. Als seine Ordonnanz bemerkte, daß er fortging, fragte sie ihn, ob er eine San-Tasche benötige.

"Die brauche ich jetzt nicht", antwortete Dipendra.

Unterdessen plauderte Rabi noch immer mit der Königinmutter. Als er sich etwas nachschenken wollte, bemerkte er, daß mittlerweile die meisten Anwesenden in den Billardsaal zurückgegangen waren. Der König stand in der Nähe des Billardtisches mit einem Coke in der Hand und unterhielt sich mit seinem Onkel Maheshwar Singh, seinem Bruder Dhirendra und einem Schwager. Ein paar Damen, darunter die Königin, saßen auf einer Sofagruppe nahe dem Billardtisch.

"Was gibt es?" fragte der König Rabi.

"Nichts Neues", antwortete er.

Maheshwar Singh entschuldigte sich für die Abwesenheit seiner Frau – sie litt unter einem Gichtanfall. Der König sprach ihm sein Mitgefühl aus. Gicht, sagte er, und hohe Cholesterinwerte, das seien Familienübel.

In diesem Augenblick bemerkte Rabi einen Mann im Kampfanzug, der schwarze Stiefel und eine Mütze trug. "Er war hinter mir aufgetaucht, während ich den König ansah", sagte er. "Ich brauchte eine Minute, bis ich begriff, daß es der Kronprinz war. Er trug eine Waffe, die ich nie zuvor gesehen hatte. Sie war kaum dreißig Zentimeter lang. Es hätte eine Spielzeugpistole sein können." Rabi sagte, er habe fragend die Augenbrauen hochgezogen. "Ich hielt es für einen Scherz", erklärte er. "Er hat sich als Kind immer gern verkleidet und Scherze gemacht. Er war ein unbekümmerter Mensch."

Dipendra lächelte Rabi an und gab, ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern, drei Schüsse auf seinen Vater ab. Dann verließ er den Raum.

Rabi konnte kaum fassen, was er gesehen hatte. "Vor meinen Augen war auf den König geschossen worden. Ich war wie betäubt. Er blinzelte nicht und zuckte nicht zusammen. Er beugte sich nur sehr langsam vor und begann zusammenzusacken. Er trug eine Kurta aus blaßgelber Seide, auf der sich ein Blutfleck bildete. Er sah überrascht aus und sagte zu seinem Sohn: ‘Was hast du bloß getan?’ Beinahe hätte ich noch immer an einen Scherz geglaubt."

Rabi rief nach einem Arzt. Der Zufall wollte es, daß sich einer im Raum befand, ein junger, mit der Königsfamilie verschwägerter Militärarzt. Er eilte hinüber, und der König sank in seine Arme. Maheshwar Singh umfaßte den Kopf des Königs.

Die Königin lief hinaus und rief um Hilfe. Rabi verließ den Billardsaal und eilte über die Veranda hinüber, um nach der Königinmutter zu sehen. Er bezwang seine Panik und betrat den Salon. Die Königinmutter hatte die Schüsse nicht gehört, und Rabi zog die schwere Tür hinter sich zu, während er versuchte, sich eine Ausrede einfallen zu lassen, denn er wollte die Tür zusperren. Aber im Türschloß steckte kein Schüssel.

Im Billardsaal versuchten die Gäste unterdessen immer noch zu begreifen, was geschehen war, als Dipendra zurückkam, die Mütze jetzt tiefer über die Augen gezogen. Von der Tür aus feuerte er auf Gyanendras Frau Komal. Dann schoß er auf seinen Schwager Kumar Gorakh. Während der Prinz weiter in den Raum hineinging, versuchte Dhirendra, ein Bruder des Königs, ihm den Weg zu verstellen. "Baba", protestierte er. "Du hast schon genug angerichtet!" Wortlos gab der Prinz aus kürzester Entfernung zwei Schüsse auf ihn ab. Dann ließ er die Maschinenpistole fallen und ging aus dem Saal. Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann brach die Hölle los.

Am anderen Ende des Raumes hatte Paras kühlen Kopf bewahrt. Er schob die jungen Damen hinter ein Sofa und rief dann Maheshwar Singh zu, er solle aus der Schußlinie gehen. Maheshwar stürzte in die Richtung von Paras und warf sich neben den Prinzessinnen auf den Boden. Die Tochter des Königs, Shruti, eilte in die andere Richtung, zu ihrem Vater. Aber als sie bei ihm anlangte, sah sie ihren Mann, Kumar Gorakh, verletzt am Boden liegen. Der Militärarzt und die Schwester des Königs, Shoba, waren immer noch bemüht, die Blutung aus dem Hals des Königs zu stillen.

Der König versuchte mühsam aufzustehen. Er griff nach der weggeworfenen Waffe, aber seine Schwester riß sie ihm weg und schleuderte sie auf den Boden. Dann erschien Dipendra wieder an der Tür, dieses Mal mit dem M-16. In panischer Angst brachte sich der Arzt hinter dem Sofa in Sicherheit. Der Prinz trat auf den König zu und schoß ihm noch einmal, diesmal aus kürzester Distanz, in den Kopf. Dann erschoß er einen weiteren Onkel, den hilflosen Kumar Khadga, und daraufhin seine Tante Sharada. Während er schoß, blitzte das Mündungsfeuer des M-16 immer wieder wie wild auf. Er gab auf seine Schwester Schüsse ab, und während sie auf den Körper ihres verwundet daliegenden Mannes fiel, streckte Dipendra noch seine Tanten Jayanti und Ketaki nieder.

Dann wandte er sich der Gruppe zu, die am anderen Ende des Saales auf dem Boden kauerte. Paras ging einen Schritt auf ihn zu und schrie verzweifelt: "Was tust du bloß? Was tust du bloß? Bitte, geh!" Der Prinz sah ihn an und zögerte. Er gab keinen Schuß ab, sondern machte kehrt, verließ den Billardsaal und ging in Richtung seiner Gemächer davon.

Unterdessen war die Königinmutter, die von dem Blutbad nebenan nichts bemerkt hatte, über Rabis seltsames Verhalten so irritiert, daß er sich verpflichtet fühlte, ihr endlich mitzuteilen, daß auf den König geschossen worden war. Er sagte ihr, sie solle warten, und ging in den Billardsaal zurück, um nachzusehen, was passiert war.

Der Adjutant des Königs, der, wie bei diesen Familienzusammenkünften üblich, seinen Dienst in einem nahe gelegenen Büro versah, hatte die Schüsse und den Ruf der Königin nach einem Arzt gehört. Er ließ die Palastwachen kommen und bewegte sich selbst mit militärischer Umsicht auf den Billardsaal zu, als er die zweite Salve hörte. Die Glastür des Saales war zwar abgeschlossen, aber er sah die königliche Familie am Boden liegen. Daraufhin zertrümmerten die Wachen die Tür, trugen den König zu einem Auto des Palastes und rasten zum Krankenhaus. Als Rabi erschien, waren die Palastwachen gerade dabei, in höchster Eile die anderen Verletzten in Autos zu tragen.

Von der Königin und ihrem jüngeren Sohn, Nirajan, fehlte jede Spur. Der letzte, der sie lebend sah, war ein Küchenjunge, der bemerkte, daß die beiden an ihm vorübergingen. Prinz Dipendra kam ebenfalls an ihm vorbei, im Rückwärtsgang und in jeder Hand eine Waffe. Die Königin lief ihm hinterher und schrie ihn an. Dann folgte aus der Dunkelheit des Gartens ein weiterer Feuerstoß. Nirajans Leiche wurde in der Nähe des Weges gefunden, der zu Dipendras Gemächern führte. Dipendra warf das M-16 weg und lief, offensichtlich immer noch von der Königin verfolgt, auf seine Wohnung zu. Er stieg ein paar Stufen zu seinem Schlafzimmer hinauf, drehte sich um und erschoß seine Mutter. Dann ging er die Treppe wieder hinunter, stieg über ihre Leiche, kehrte zu dem Weg zurück und überquerte eine Brücke. Dort wurde er von einem Adjutanten, der seinem Stöhnen gefolgt war, aufgefunden. Er lag, mit durchschossenem Schädel, bei der Brücke. Seine 9-mm-Pistole war ihm aus der Hand und in den Teich gefallen.

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