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Cover Lettre International 54, Alexander Polzin
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LI 54, Herbst 2001

Jerusalem

James Fenton

JERUSALEM

1

Stein fleht zu Stein,

Herz zu Herz, Herz zu Stein,

Und die Befragung hat kein End’,

Denn es gibt keine Ewige Stadt

Und Mitleid hat nicht statt

Und nichts ist unterm Firmament,

Kein Regenbogen, kein sich’rer Grund –

Zwischen mir und Gott gibt es keinen Bund.

2

In der Luft liegt Herrlichkeit.

Allenthalben herrscht das Leid,

Worin, als wär es Haut, ein jeder lebt.

Meine Geschichte wird verehrt.

Meine wird mir verwehrt.

Dies die Zisterne, wo aller Krieg anhebt,

Vom Panzerwagen Gelächter gellt.

Dies ist der Mann, der deine Person in Frage stellt.

3

Schuld bist du allein.

Dies ist ein Kreuzritterschrein.

Der Kidron entspringt in Mea She’arim.

Ich spreche für dich das Gebet.

Ich sag’ dir, was zu tun ansteht.

Ich steinige dich. Hau’ deine Glieder kurz und klein.

Oh, bang kann mir nicht vor dir sein.

Doch vielleicht sollt’ ich fürchten, zu was du mich treibst.

4

Dies ist nicht Golgatha.

Dies ist das Heilige Grab.

Der Tempel des Hadrian, einer Liebe erbaut,

Der er nie ganz getraut.

Golgatha könnte überall sein.

Jerusalem selbst ist rastlos in Gang,

Springt Hügel hinab und Hügel hinan.

Und wie sein Weg wird auch sein Letzter Wille sein.

5

Die Stadt wurde niedergemacht,

Der Jordan zum Stocken gebracht.

Von Christenhand wurden Juden lebendig verbrannt.

Dies wird Minarett genannt.

Ich steh’ noch nicht an der Wand.

Wir erwarten frische Truppen durchs Land.

Wie heißt deine Mutter in Wirklichkeit?

Gäb’ es in Bethlehem heute Sicherheit?

6

Dies ist das Grab im Garten.

Nein, das ist das richtige Grab.

Ich bin Armenier. Und Kopte ich.

Dies ist Utopien.

Ich kam hierher von Äthiopien.

Hier unten setzte der Fliegende Teppich

Den Propheten zum Beten ab für eine Nacht

Und hat ihn flugs von hier aus zurückgebracht.

7

Wer packte deinen Sack?

Ich packte meinen Sack.

Wo stammte deiner Onkelmutter Schwester her?

Kam dir ein Araber je in die Quer’?

Ja, ich gehöre zu diesem Pack.

Ich bin ein Wurm. Vom Mistkäferschlag.

Ich schreie "unrein" durch die Gassen

Und sehe aller Augen mich verachten, hassen.

8

Feind bin ich dir.

Gethsemane ist hier.

Zum Tempelberg zerbroch’ne Gräber blicken.

Sage mir jetzt, sage mir eben,

Wann werden wir uns alle erheben?

Werd’ ich zuerst den großen Totenberg bestücken?

Wann werden die Stämme zusammenrücken?

Wann, sag’, ist der Tag, wo das Gericht anbricht?

9

Im Irrtum bist

Du Terrorist.

Du wirst verbrannt. Dies’ Land ist mein.

Das handelst du dir ein:

Gesetz des Nie-mehr-Heim.

Dies ist der Sauerteig, der süße Wein.

Dies ist mein Geschichte, ist mein Geschlecht

Und mein Gesicht verätzte dieser Unglücksknecht.

10

Stein fleht zu Stein,

Herz zu Herz, Herz zu Stein.

Dies sind Archäologen im Kriegszustand.

Hier sind wir und sie sind dort.

Jerusalem heißt dieser Ort.

Dies sind die Sterbenden mit tätowierter Hand.

Wenn du das tust, zerstöre ich dein Heim.

Ich tat’s. Und du hast meins zerstört. Zahlst mir es heim.

Jerusalem,
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