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Cover Lettre International 60, Ann Mandelbaum
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Inhaltsverzeichnis

LI 60, Frühjahr 2003

Spirituelle Mobilmachung

Staatsverfall und die Wiederkehr okkulter Gewalt in Afrika

Am 8. November des Jahres 2000 stürmten Demonstranten den Regierungssitz des Gouverneurs von Anambra State, nahmen einige der Mitarbeiter als Geiseln und verlangten, daß ein Zauberer namens Edward Okeke exekutiert werde. Prophet Eddy, den man auch den „Jesus aus Nawgu" nannte, war der Besitzer einer Kirche, in der seit vielen Jahren Wunderheilungen veranstaltet wurden. Wer den Propheten besuchte, wurde gleich am Eingang des healing centre von frommen Gestalten begrüßt: einer gewaltigen Jesus-Skulptur, daneben Statuen von Moses, dem Propheten Elias und schließlich von Eddy selbst, wie er sich über einen gefallenen Luzifer erhebt. Hinter der Fassade christlicher Frömmigkeit sollen sich aber, wie man im nachhinein erfuhr, monströse Verbrechen zugetragen haben, darunter eine Serie von Ritualmorden. Der Mann Gottes, so spekulierten Zeitungen, habe 93 Menschen getötet, um mit Hilfe von Leichenteilen besonders wirksame Zaubermittel herzustellen. In der Gegend von Onitsha, einer Großstadt im Igboland, im Südosten Nigerias, zum Beispiel vermutete man, daß Eddy seine Hände im Spiel hatte, als aus der Entbindungsstation eines Krankenhauses in einer Nacht 16 Babys gestohlen wurden.

Wegen seiner enormen Kräfte, die es ihm ermöglicht hatten, sich jahrelang jeder Verfolgung durch die Staatsbehörden zu entziehen, stand Edward Okeke im Verdacht, kein gewöhnlicher Sterblicher zu sein, sondern ein Mischwesen: „halb Mensch, halb Geist". Auf Plakaten, die auf allen größeren Märkten im Igboland zu kaufen waren, ist er daher mit doppeltem Gesicht abgebildet: einer Engelsmaske, die sich von einer tierartigen Dämonenfratze abhebt. Eddy selbst bestätigte den Verdacht, ein Geisterwesen zu sein, und zwar bei einem Verhör durch die Bakassi Boys, einer bewaffneten Miliz, die in einigen Bundesstaaten Südostnigerias mit der Verfolgung von Verbrechern betraut ist. Da die Bakassi Boys es sich zur Aufgabe gemacht haben, auch okkulte Formen des Bösen zu bekämpfen, waren sie am 4. November in die Villa des Propheten eingedrungen und hatten deren Besitzer verhaftet.

Was in den folgenden Tagen bei den Vernehmungen im Bakassi-Hauptquartier geschah, ist auf einer Audiokassette festgehalten, die überall im Igboland erhältlich ist: The Original True Confession of Prophet Eddy Nawgu. Zu hören bekommt man allerdings eine Art Collage, die Auszüge aus den Verhören aneinanderreiht, dramatisch untermalt mit dem Heulen von Polizeisirenen und dem Rattern von Maschinengewehrsalven. Die angeblichen Bekenntnisse sind auch nicht aus dem Mund von Eddy selbst zu hören, sondern werden wie bei einem Hörspiel von fremder Stimme vorgelesen. Aus dem Inszenierungscharakter läßt sich jedoch nicht folgern, daß es sich um erfundene Texte handeln muß. Offenbar gibt es Originalaufzeichnungen, denn als der Konflikt um Eddy eskalierte, schickten die Bakassi-Führer dem Präsidenten in der Hauptstadt Abuja eine Videokassette, die Szenen aus dem Verhör zeigt.

Während der Prophet im Bakassi-Zentrum interniert war, hatte das Präsidentenamt ultimativ verlangt, den Gefangenen der Polizei zu übergeben. Der Gouverneur von Anambra State, dem die Miliz offiziell unterstellt ist, hatte versucht, die Bakassi-Kämpfer davon abzuhalten, den Zauberer hinzurichten. Selbst Ibrahim Babangida, ein ehemaliger Präsident, der als der reichste und mächtigste Mann des Landes gilt, soll hinter den Kulissen Druck ausgeübt haben, damit der Prophet freikomme. Im Gespräch mit einigen Markthändlern, deren Stände gleich vor dem Bakassi-Hauptquartier gelegen sind, erfuhr ich, daß in jenen Novembertagen immer wieder Regierungslimousinen aus diversen Bundesstaaten vorfuhren, um mit der Bakassi-Führung zu verhandeln. Wenn Exgeneral Babangida jemanden freikaufen wolle, so wurde mir versichert, könne er, ohne zu zögern, eine Summe von 50 Millionen Naira anbieten. Aber die Bakassi Boys waren nicht zu bestechen. Am 9. November führten sie Edward Okeke aus seiner Zelle und brachten ihn auf einen Marktplatz, wo 20 000 Zuschauer begeistert Lieder sangen, als die jungen Männer den Zauberer mit ihren Macheten in Stücke hackten.

Auf den ersten Blick könnte man annehmen, daß sich bei dem Streit, ob der Prophet freizulassen oder hinzurichten sei, aufgeklärte und traditionelle Formen des Denkens entgegenstehen. Doch es geht dabei nicht um einen Konflikt zwischen rechtlich denkenden Repräsentanten des Staates und einer todeswütigen Menge, die von rückständigen, anachronistischen Ideen besessen ist. Jeder in Nigeria weiß, daß die Politiker, die sich in den Fall einmischten, okkulte Bedrohungen ebenso ernst nehmen wie andere Bürger des Landes. Der Gouverneur von Anambra zum Beispiel, ein promovierter Jurist, berichtete der Presse, daß einige seiner Anhänger eine Kirche gestürmt hätten, in der Gegner des Gouverneurs damit beschäftigt gewesen seien, aus Menschenfleisch Zaubermittel herzustellen: „The church was stormed and pieces of human flesh (...) were found being used for fetish concoction, all of them targeted at myself and some key politicians in Anambra State."

Daß Politiker sich intensiv mit okkulten Bedrohungen befassen, ist in Nigeria keineswegs ungewöhnlich. Von General Abacha, der das Land bis 1998 regierte, ist bekannt, daß er sich in seinem Präsidentenbunker mit Zauberern, Wahrsagern und islamischen Marabuts umgab, während Mitglieder seiner Regierung oft tage- oder wochenlang warten mußten, bis sie zu einer Audienz vorgelassen wurden.

Vor diesem Hintergrund verwunderte es niemanden, daß sich die Vertreter des Staates so nachdrücklich für den Zauberer aus Nawgu einsetzten. In den Augen der Bevölkerung war der angebliche Ritualmörder Teil des politischen Establishments, ja, er verkörperte die schlimmsten Aspekte der nigerianischen Oberschicht. Die gewaltsamen Proteste in der Landeshauptstadt, die den Lynchmord an dem Zauberer erzwingen sollten, hatten daher, zumindest für europäische Beobachter, rebellische oder „klassenkämpferische" Züge. Daß Edward Okeke enge Kontakte zu den Spitzen der Gesellschaft unterhalten hatte, ließ sich auch gar nicht bestreiten, denn einige seiner einflußreichen Kunden hatten sich mit ihm photographieren lassen. Eddy hatte diese Bilder in sein Büro gehängt, um für sein spirituelles Unternehmen zu werben. Allerdings schürten solche Photos den Verdacht, daß der Prophet, um derart prominente Kunden anzuziehen, besonders exklusive Zaubermittel anzubieten hatte. Warum sonst hätten ihm seine Besucher Luxuslimousinen schenken sollen?

Für Europäer klingt der Vorwurf, der Kirchenbesitzer aus Nawgu habe sich durch Menschenopfer bereichert, abwegig. In Nigeria dagegen ist die Öffentlichkeit beunruhigt, weil es tatsächlich immer wieder zu Ritualmorden kommt. Nach offiziellen Schätzungen sollen allein zwischen 1992 und 1996 etwa 6 000 Personen rituellen Morden zum Opfer gefallen sein. In den Gesprächen der Menschen werden solche Verbrechen gerne mit den Reichen und Mächtigen in Verbindung gebracht, ja, man hört oft, daß sich nur mit Hilfe okkulter Mittel Reichtum anhäufen lasse. Gegen Angehörige der Oberschicht regt sich daher der Verdacht, daß sie sich, ähnlich wie Hexen, zu verschworenen Gemeinschaften zusammenschlössen. Wer Mitglied ihrer „Millionärsklubs" werden wolle, müsse bereit sein, einen seiner engsten Angehörigen zu „verkaufen". Der Todgeweihte werde dann von einer unerklärlichen Krankheit erfaßt und sieche dahin, weil seine Peiniger die Seele ihres Opfers „zerfleischten" oder auf unsichtbare Weise dessen innere Organe zerstörten.

(...)

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