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Cover Lettre International 60, Ann Mandelbaum
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LI 60, Frühjahr 2003

Die Goldenen Neunziger

Globalisierungsmythen, Wirtschaftshochmut und Doppelmoral

Eine Volkswirtschaft gleicht einem großen Schiff: Man kann ihren Kurs nicht schnell korrigieren. Zudem verändert sich eine Volkswirtschaft so langsam, daß man Ursache und Wirkung nicht immer klar auseinanderhalten kann. Zufälligerweise sagen uns die Statistiker nun, daß das Wachstum in den achtziger Jahren robuster war, als wir glaubten, während das Wachstum Ende der neunziger Jahre nicht so robust war, wie wir dachten. Wir hatten jahrzehntelang in großem Umfang in Computer und Hochtechnologie investiert, aber die Investitionen spiegelten sich merkwürdigerweise nicht in den Daten über die Produktivität der Wirtschaft wider.

In den neunziger Jahren zahlte es sich dann endlich aus - doch das Verdienst daran wurde der eher kurzatmigen Politik von Rubin und Greenspan zugeschrieben. In dem Irrglauben, wir hätten die Antwort auf die ökonomischen Mißstände der Welt gefunden, drängten wir anderen Ländern unsere Rezepte auf. Unser Wirtschaftssystem hat große Vorzüge, aber es ist nicht das einzige System, das funktioniert; andere Systeme mögen für andere besser funktionieren. Die Schweden beispielsweise haben ihren traditionellen Wohlfahrtsstaat zwar reformiert, aber nicht aufgegeben; die soziale Sicherheit, die er gewährt, verhindert nicht nur extreme Armut - die in Amerika noch immer so weit verbreitet ist -, sondern fördert auch jene Risikobereitschaft, die für die New Economy unverzichtbar ist.

Der Lebensstandard ist in Schweden genauso stark gestiegen und neue Technologien haben sich genauso schnell ausgebreitet wie in den USA. Und die Schweden sind sogar besser durch den globalen Abschwung gekommen als die Amerikaner. Weil wir das stärkste Land der Welt sind, hoffen andere darauf, daß wir ins Wanken geraten; unser Hochmut, unsere Anpreisung des Kapitalismus amerikanischen Stils haben ihre Feindseligkeit nur verstärkt. Die Risse in unserem System, die jetzt sichtbar wurden, gaben den Kritikern Amerikas hinlänglich Gelegenheit zu einem triumphierenden: „Ich hab’s euch doch gesagt." Es gehörte zu den vorrangigen Zielen der amerikanischen Außenpolitik, anderen Ländern den US-Kapitalismus und das amerikanische Demokratieverständnis schmackhaft zu machen, doch durch unser Verhalten haben wir ihnen beides vergällt.

Tatsache ist, daß die Welt wirtschaftlich eng verflochten ist und daß wir nur durch internationale Abmachungen, die auf einen fairen Interessenausgleich gerichtet sind, den Weltmarkt stabilisieren können. Dazu bedarf es einer Kooperationsbereitschaft, die man nicht durch rohe Gewalt, durch das Diktat unangemessener Bedingungen inmitten einer Krise, durch Schikanen, durch ungerechte Handelsverträge oder durch eine doppelzüngige Außenhandelspolitik erreicht. All dies sind Elemente des hegemonialen Selbstverständnisses, das die USA in den neunziger Jahren entwickelten, das jedoch von der Regierung Bush besonders ruppig zur Schau getragen wird.

Die jüngsten Proteste bei den Konferenzen der maßgeblichen Akteure der Weltwirtschaft in Seattle, Prag, Washington und Genua waren für viele Amerikaner ein Schock. Ihnen dämmert, daß die Globalisierung, wie wir sie propagieren, äußerst unbeliebt ist, wie übrigens auch die USA selbst. Für diejenigen, die viel Zeit in Entwicklungsländern verbringen, kamen die Proteste nicht überraschend, aber für diejenigen, die an die Mythen der Globalisierung nach amerikanischem Muster glauben, waren sie völlig unverständlich. Warum, so fragten sie, empfinden Länder, denen wir wirtschaftlich unter die Arme greifen, eine solche Abneigung gegen uns und unsere Politik?

Die Antwort liegt größtenteils in der einfachen Tatsache, daß die Globalisierung viele der Armsten in der Dritten Welt noch ärmer gemacht hat. Und selbst wenn es ihnen besser geht, haben sie das Gefühl, daß ihr Dasein unsicherer geworden ist. Argentinien wurde lang Zeit als Musterland gelungener Reformen gepriesen. Wenn sie heute nach Argentinien schauen, fragen sie sich: Wenn dies das Ergebnis ist, was steht uns dann bevor? Und in dem Maße, wie die Arbeitslosigkeit und das Gefühl der Unsicherheit zunehmen und wie die Früchte des bescheidenen Wachstums vor allem den Reichen zugute kommen, wächst auch das Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit. Wir haben uns so sehr auf unsere ökonomischen Mythen konzentriert und sind so sehr darauf bedacht, die Globalisierung zu unserem kurzfristigen Vorteil zu gestalten, daß wir nicht merken, was wir uns selbst und der Welt damit angetan haben.

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024