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Cover Lettre International 63, Max Grüter
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Inhaltsverzeichnis

LI 63, Winter 2003

China

Verwüstung und Schwermut unter dem Himmel / Fragmente

Es gibt nichts Hoffnungsloseres auf dieser Welt als die sogenannte Südwestliche Regional-Busstation in Nanjing am 5. Mai 2002, kurz vor sieben Uhr morgens im Nieselregen und im unbezähmbaren eisigen Wind, nichts Hoffnungsloseres als den Regionalbus, der sich vom Standplatz Nummer fünf aus dem Hof dieser Busstation im unüberblickbaren Chaos der losfahrenden Linienbusse durch die ratlose Menge der zwischen Linienbussen und Pfützen dahinwogenden elenden, stinkenden und dreckigen Menschen nur langsam bis zur geschäftigen Straße durchkämpft und sich aufmacht, die elenden, stinkenden und dreckigen Straßen zu befahren, nichts Hoffnungsloseres als diese Straßen, als die unendliche Reihe der beidseitigen, in der immerwährenden Zeitweiligkeit erstarrten Barackenbauten, denn es gibt keine Worte, diese hoffnungslose Farbe zu beschreiben, diese langsam mordende Varietät von Braun und Grau, wie sie die Stadt an diesem Morgen langsam überzieht, keine Worte für dieses aussichtslose Gekeife, das manchmal hereinschwappt, wenn der Bus an einer größeren Kreuzung oder an einer Haltestelle kurz anhalten muß und die Schaffnerin mit dem knittrigen Gesicht die Tür öffnet, sich hinauslehnt und in der Hoffnung auf weitere Reisende wie ein heiserer Falke das Reiseziel hinausschreit, denn es läßt sich seinem Wesen nach mit Worten nicht beschreiben, daß der Ort, wohin ich mit meinem Gefährten reise, den ich zu dolmetschen ersucht habe, in irgendeiner Weise der Welt entgegengesetzt liegt, wir fahren hinaus aus der Welt, und sie fällt immer weiter zurück, liegt immer weiter hinter uns, wir werden in diesem immer dichteren unbeschreiblichen Nebel von trostlosem Braun und Grau in eine Richtung gerüttelt und geschüttelt, wo es ganz und gar unglaubhaft erscheint, daß außer diesem fürchterlich öden Gemisch von Braun und Grau etwas existiert, wir sitzen hinten im klapprigen Bus, für einen Mai gekleidet, aber für einen anderen, also frieren und zittern wir und versuchen aus dem Fenster zu schauen, doch können wir kaum durch die schmutzige Scheibe sehen, so wiederholen wir innerlich nur, ja, soll sein, in Ordnung, irgendwie ertragen wir diese Umstände schon, nur das eine darf der schmierige und hoffnungslose Nebel innen und außen nicht aufsaugen: Diesen Ort, dem wir zustreben, muß es geben, der Ort, zu dem uns dieser Bus angeblich bringt, einer der wichtigsten heiligen Berge der Buddhisten, Jiuhuashan, muß einfach existieren.

Ungefähr vier Stunden werde die Fahrt dauern, sagte man uns beim Fahrkartenschalter, um dann aus lauter Gefälligkeit, das Gesicht ein wenig abgewandt, erklärend anzufügen, vier, vier und eine halbe Stunde, so hätten sie es gemeint, woraus schon damals zu erahnen war, welche Art Autobus wir benützen würden, das eine jedoch begriffen wir erst jetzt, nach Verstreichen der ersten Stunde, daß in Wirklichkeit keiner wußte, ja, keiner wissen konnte, wie lange die Fahrt bis Jiuhuashan dauern würde, verlangsamten doch so viele sogenannte unvorhersehbare Hindernisse und Zufälle unsere Reise, daß ihretwegen alles, insbesondere aber die Fahrtdauer, vollkommen unvorhersagbar wurde, Hindernisse und Zufälle, aber eigentlich nur für uns unvorhersehbar, da sie zum Großteil dem Personal zu verdanken waren, dem Fahrer und der Schaffnerin, die ihre Aufgabe - wie recht bald nach Verlassen der Stadt offenkundig wurde - als ihre Privatunternehmung auffaßten und nicht nur an den vorgeschriebenen Haltestellen, sondern auch allenthalben auf der Straße stoppten und versuchten, immer wieder neue Fahrgäste unter den Menschen, die auf der Landstraße einhergingen, zu finden, eine regelrechte Jagd nach neuen Fahrgästen von Kilometer zu Kilometer, nach Leuten, mit denen im Sinne einer für uns undurchschaubaren Übereinkunft, denn Worte wurden kaum gewechselt, in Sekundenschnelle eine Vereinbarung getroffen wurde, Geld blitzte in der einen Hand auf und verschwand in einer anderen, im immer voller werdenden Linienbus wurde also Schwarzbeförderung betrieben, immer voller wurde der Bus freilich vorne und bis zur Mitte, denn hinten, wohin wir abgedrängt worden waren, saß kaum jemand, sie waren ja nicht verrückt, da war es nämlich viel kälter, denn die Wärme der einzigen arbeitenden, nahe dem Fahrersitz vermuteten Heizung reichte nicht so weit, hier fanden im Kampf um die Sitze wirklich nur die Schwachen und Unterprivilegiertesten Platz - was für ein verdammtes Pech, sagten wir einander immer wieder, auf den kunstledernen Sitzen fröstelnd, Nanjing und Mai und trotzdem ein Wetter fast wie im Februar.

Doch konnten wir auch nicht so richtig mit den Leuten reden, denn alle vier chinesischen Mitreisenden, die nur hier hinten Platz gefunden hatten, sprachen, wo man sonst immer für eine Plauderei und das Schließen von Bekanntschaften zu haben war, kein einziges Wort, weder zu einander noch zu uns, jeder saß möglichst weit vom anderen entfernt, in Mäntel und Schals gewickelt, mit Mützen auf dem Kopf; nachdem sie ihre Gepäckstücke lange Minuten hindurch unter den Beinen und auf den benachbarten Sitzen verstaut hatten, starrten sie nur wortlos durch die schmutzige Scheibe in den braungrauen Nebel hinaus, in welchem keiner eine Ahnung hatte, wo er denn war, Gewißheit gab es einzig darüber, daß wir vom endlosen Raum südöstlich von Nanjing aufgesogen worden waren, es war einfach nicht festzustellen, welche Strecke schon hinter uns und wieviel des Weges noch vor uns lag, ich verfolgte das Verstreichen der Zeit auf meiner Armbanduhr und fühlte, daß das noch lange so weitergehen würde, so lange, daß es schließlich gleichgültig würde, ob vier oder vier und einhalb Stunden, die Zeit würde doch nichts weiter bedeuten - und der Bus holperte nur so dahin im dichten Verkehr auf der schlaglochübersäten Straße, das blecherne Gefährt rüttelte und schepperte, es warf uns auf den eiskalten Sitzen hin und her, doch wir fuhren in blindem Vertrauen unentwegt weiter, neben uns, am Straßenrand, diese Unmenge von Menschen, bepackt mit mächtigen Bündeln, mit Säcken: Sie gingen irgendwohin, auch sie strebten vorwärts, im Gänsemarsch, neigten sich dem eisig nieselnden Regen und dem Wind entgegen, und nur einige wenige winkten der Schaffnerin zu, die sich gelegentlich rufend hinauslehnte, und stiegen zu uns ein, die anderen machten nur Platz, als hörten sie sie gar nicht, ließen uns ihren gespenstischen Aufmarsch passieren, dann traten sie zurück auf den Asphalt, um sich weiter unter der Last ihrer Bündel und Säcke dahinzuschleppen, auch sie offenbar in blindem Vertrauen, wie wir hier oben im Bus, die wir an ihnen vorbeizogen und sie mit Schlamm bespritzten, als hätte dieses Vertrauen irgendeinen gemeinsamen Beweggrund, als wäre die Unmöglichkeit dessen, daß in der weiten Ferne dieser unheilschwangeren Dämmerung in Wirklichkeit gar nichts da sei, gerade Grund genug dafür, daß wir alle daran glaubten, heute noch an unser Ziel zu gelangen.

Meine Uhr zeigte neun Minuten nach acht, als der Fahrer kaum hundert Meter von einer Kreuzung dreier großer Landstraßen in einer Kurve plötzlich anhielt und eine im Schlamm der Straße offensichtlich auf diesen Bus wartende Frau mittleren Alters zusteigen ließ, um etwa von da an jenen Teil unserer Reise beginnen zu lassen, in welchem wir, der Dolmetscher und ich, voreinander nicht mehr verheimlichen konnten, nicht alle möglichen Komplikationen unseres Planes, nämlich zum Jiuhuashan zu kommen, hinreichend erwogen zu haben, wie auch nicht, ob sich die Risiken im Falle eines derart ungewissen Reisezieles lohnten, denn, sagte ich zu meinem in der Kälte noch immer zitternden, schläfrigen Gefährten, wir zwei weißen Europäer, wir würden von dem Ganzen hier nichts, rein gar nichts verstehen, verstehen wir doch bereits nicht, wie so eine Buslinie funktionierte, woher die Frau wußte, daß sie hier warten mußte, und woher der Fahrer, daß die Frau gerade hier auf ihn warten würde, hier, in dieser Kurve, noch dazu um diese Zeit, sagen wir einmal: so um acht herum, denn von einem Fahrplan konnte in unserem Fall ja überhaupt nicht die Rede sein, das sei wirklich so, man verstehe hier nichts, stimmte mir der Dolmetscher zu, sichtlich bedrückt, und dann sei das nur eine der vielen, sagte ich, für uns unbekannten, jedoch funktionierenden Regeln, lediglich ein winziger Bruchteil eines ganzen Systems, auf das wir uns verlassen würden und welches denn doch irgendwie Bestand habe, damit dieser Bus hier und alle anderen Busse in China verkehren könnten, wobei es doch etliche ihrer Art gebe, etliche jeden Tag und jeden Morgen und Abend und Vormittag und Nachmittag, etliche Millionen, und es gebe Verkehr genug - nur eine unter vielen, wir beobachteten die Frau, wie sie durch die aufgehende Tür zu den sich vorne dicht Drängenden heraufkletterte, wie sie dann der Schaffnerin wortlos einige Yuan in die Hand drückte und sich sodann zwischen den Fahrgästen des sofort wieder anfahrenden Fahrzeuges bis an das Ende des Autobusses durchdrängelte und ihre riesigen, verknoteten Bündel an der Seite neben sich, eine Sitzreihe schräg vor uns unterbrachte, sich schließlich zum Fenster setzte - sie trug einen grauen, wattierten Mantel, auf dem Kopf eine Schildmütze aus Lodenstoff, einen dünnen Schal um den Hals, billige Schnürstiefel an den Füßen, das ganze Geschöpf war vollkommen durchnäßt, so naß, daß noch minutenlang Wasser von ihm troff, und so erweckte die Arme den elenden Eindruck eines zottigen ausgesetzten Köters, zudem war sie ein völlig indifferentes Wesen, sie hatte etwas an sich, das mir von hier, eine Reihe schräg hinter ihr, das Betrachten ihres Gesichtes zum Beispiel vergeblich machte, es war ein in jeder Hinsicht ersetzbares Gesicht, ersetzbar durch jegliches andere, gleichsam der Mittelwert von einem Gesicht, das ich mir unmöglich merken konnte, vergeblich fixierte ich es, ich konnte es unmöglich von den anderen unterscheiden, weil es genauso war wie Tausende und Abertausende, wie Millionen und Abermillionen in dieser unfaßbaren Menschenmenge, die China hieß und wo dieses "China" möglicherweise gar nichts anderes war als eine in der Weltgeschichte beispiellose, unermeßliche und undefinierbare Masse von Menschen, das alles lag in diesem Gesicht, das machte es so erschreckend anders, so erschreckend unidentifizierbar, wobei das Gesicht dieser Frau, ihre gesamte Erscheinung, so wie sie sich eine Sitzreihe schräg vor uns an der anderen Seite niederließ, mir das Gefühl vermittelte, nicht zu wissen, weil es nicht gesagt werden konnte, wer sich dort hingesetzt hatte, weil sich dort jeder beliebige hätte hinsetzen können, diese Frau konnte jeder beliebige sein, diese Frau war - und das war die erbarmungsloseste aller Wahrheiten und die erbarmungsloseste aller Tatsachen - gleichgültig, wer: Sie saß dort, Wasser tropfte von ihr, auch sie starrte durch die dreckige Fensterscheibe - und dann vollführte dieses auswechselbare, dieses überaus durchschnittliche, unauffällige Geschöpf - ohne auch nur irgend etwas an seinem auswechselbaren, durchschnittlichen, unauffälligen Wesen zu ändern - etwas vollkommen Unerwartetes, etwas, womit keiner rechnen konnte: Sie öffnete das Fenster - sie packte den Fensterriegel und riß ihn beiseite, öffnete das Fenster gut zur Hälfte, wodurch freilich der eiskalte Regen und die eiskalte Luft sofort hereinfuhren, dermaßen unerwartet, daß in den ersten Sekunden keiner von uns zu begreifen schien, weder wir noch die anderen, diese vier, die mit uns gemeinsam nur noch hier hinten Platz gefunden hatten, es widersprach sämtlicher Vernunft, daß jemand, der so durchnäßt war und zuvor wer weiß wie lange draußen im kalten Nieselregen offenbar durchfroren gewartet hatte und sich endlich hinsetzen konnte, jetzt das Fenster gegen sich und uns aufriß, so daß weder ich noch mein Gefährte eine beträchtliche Weile lang ein Wort hervorbrachten, wir blickten die Frau nur an, wie der hereinfegende Wind ihr die durchnäßte Kappe fast vom Kopf zerrte, wir starrten sie staunend an, wie sie sich die Kappe zurechtrückte, dann die Augen schloß, den Hinterkopf ein wenig an die Sitzlehne abstützte und sich nicht mehr rührte, der Wind fauchte herein, und wir starrten sie nur an und begriffen nicht, was sie trieb, doch sprach lange Zeit keiner - und so fuhr der Bus mit uns dahin, in den Nebel hinein, im dichten Gegenverkehr, vorwärts, angeblich in Richtung Jiuhuashan.

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024