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Cover Lettre International 90, Luc Tuymans
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LI 90, Herbst 2010

Das achte Weltwunder

Material, Funktion, Ästhetik - zur Baugeschichte der Berliner Mauer

(Auszug/LI 90)

 

(...) Der wohl erste Mauerfall ereignete sich 1962. Am 11. Januar waren, wie Der Tag, Telegraf und Berliner Morgenpost photographisch dokumentierten, an zwei Stellen in der Mitte Berlins (Scharnhorststraße/Boyenstraße) Mauerteile auf einer Länge von zirka zwanzig Metern Richtung Westen abgestürzt. Die West-Berliner Polizei protokollierte unter anderem: „Gegen 07.00 Uhr wurde festgestellt, daß in N 65 gegenüber dem Hause Boyenstraße 39 der Sims der Grenzmauer in einer Länge von ca. 20 m vermutlich infolge Witterungseinflüsse[n] eingestürzt ist. Zur Zeit sind 9 Grenzpolizisten, 1 Schützenpanzer der Grenzpolizei und ein sowjetsektoraler Kranwagen am Ort und führen die Instandsetzungsarbeiten durch. 3 Schützenpanzer, 1 Jeep und 1 Lkw der französischen Streitkräfte sind ebenfalls am Ort.“

 

Solche Mauerfälle gab es aufgrund mangelnder Fundamentierung oder Abdichtung anfangs immer wieder. Besonders pikant war der Einsturz von zirka dreißig Meter Mauer Ende März 1962 in der Reinickendorfer Klemkestraße: Erst dieser Mauerfall gab Anlaß, den genauen Grenzverlauf an dieser Stelle zu überprüfen. Ergebnis der Recherchen beider Seiten: Die Mau-er war mehrere Meter auf das West-Berliner Gebiet vorgeschoben. Die kläglichen Reste wur-den am 31. März von West-Berliner Polizei unter dem Schutz der französischen Alliierten ent-sorgt. Und in den Jahren und Jahrzehnten danach? 1988 beschäftigte ein außergewöhnliches Ereignis unter anderem den Minister für Nationale Verteidigung der DDR, Keßler, den Minister für Kohle und Energie, Mitzinger, den Vorsitzenden des Ministerrats, Stoph, den Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, Schürer, den Sekretär für Wirtschaft des ZK der SED, Mittag, den für Sicherheitsfragen, Krenz, sowie den Ersten Sekretär der Bezirksleitung der SED, Scha-bowski.

 

Was war geschehen? Auf dem Gelände des Volkseigenen Betriebs Bergmann-Borsig, eines Großbetriebs der Industrieanlagenfertigung mit mehreren tausend Angestellten im heutigen Berlin-Pankow, waren im April 1988 Teile einer bis zu fünf Meter hohen Fabrikmauer eingestürzt, die hier zugleich die Vordermauer des Grenzsystems bildete. Hier, in einem unübersichtlichen und verschachtelten Gebiet (Betriebsangehörige brauchten eine Sondererlaubnis), bildete eine Fabrikanlage den vordersten Wall gen Westen. Dieser Mauerfall rief bürokratische Verhandlungen sondergleichen auf den Plan. Es ging um den erheblichen finanziellen Streitwert: Das Gesamtvolumen für den Neubau dieser Grenze nach zeitgemäßem Standard betrug 38 Millionen Mark. Zuletzt gelang es den finanziell klammen Grenztruppen, diese Kosten dem Ministerium für Kohle und Energie aufzubürden.

 

Kurz bevor das architektonische „Weltwunder“ endgültig fallen sollte, bestand es an abgelegenen Ecken noch immer aus baufälligen Provisorien unterschiedlicher Bauphasen: Pfusch am Bau. Zu Anfang gab es gar keinen wirklichen Mauerbau. Die Einsatzbefehle für die Nacht vom 12. zum 13. August sprachen von „pioniertechnischer Sicherung“. Obwohl Ulbricht immer eine Mauer favorisiert hatte, hatte Chruschtschow (der Ulbrichts Absperrungspläne immer wieder zurückgewiesen, sich schließlich doch dazu bereit erklärt und, wie Dokumente belegen, zum bestimmenden Akteur der Aktion aufgeworfen hatte) höchstens Stacheldraht genehmigt. Vorerst blieb es demnach bei Stacheldraht und einer zusätzlichen architektonischen Befestigung sensibler Areale (beispielsweise von Durchgangsstraßen) mittels Betonteilen. Man konzipierte einen Gartenzaun mit Truppenbewehrung, nicht viel mehr. Man hoffte, dem Flüchtlingsproblem damit Einhalt gebieten zu können – als hätte man es lediglich mit einem leicht labilen Staatsvolk zu tun, das nun wisse, wo der Hammer hängt. Die Wucht der nachfolgenden Grenzdurchbrüche beendete diese Diktatorenillusion. Dann zeigte man – Schlüsseldokument ist die Tagung des sogenannten „Zentralen Stabes“ unter Honecker vom 20. September 1961 – gnadenlos und umfassend die Instrumente. Begünstigend kam die laue Reaktion der Alliierten hinzu. Denn die drei nichtsowjetischen Besatzungsmächte spielten das Spiel mit; sie wetteiferten geradezu darum, die Grenzanlagen gegen Anschläge von westlicher Seite zu schützen. Von Widerstand keine Spur. Auch das bestärkte die Machthaber um Ulbricht und Honecker und verschaffte ihnen den Rückhalt, den Zaun zur Mauer aufzurüsten.

 

Die „Mauer“ war nicht zuletzt ein ungeplanter Selbstläufer, resultierend aus dem ungebrochenen Fluchtwillen der Ostdeutschen in Kombination mit alliierter Gleichgültigkeit gegen die bisherige Sperre. Eine Mauer war, trotz Mauerstücken an sensiblen Stellen wie am Brandenburger Tor oder quer über wichtige Durchgangsstraßen, nicht von Anfang an geplant. Erst am 20. September 1961, nach sorgfältiger Faktorenabwägung, fiel die Entscheidung für eine wirkliche „Mauer“. Beschlossen wurde, Straßen aufzureißen, Gräben zu ziehen, Drahtzäune auszubauen und Betonplatten über Verbindungsstraßen zu legen. Für einen innerstädtischen Abschnitt von 18 bis zwanzig Kilometern wurde die Errichtung von zwei Meter hohen Mauern beschlossen. Diese Minimalvermauerung war vorerst das Maximum. Bedenkenträger wie Staatssicherheitschef Mielke und Armeechef Hoffmann, die Gegenwind aus Moskau in Rechnung stellten, hatten Vorbehalte. Sie verwiesen darauf, daß eine Mauer für Außenbezirke und die sogenannte „grüne Grenze“ nicht vorteilhaft sei, da sie Schatten werfe und Flüchtlinge begünstige. Auch hielten sie Stacheldraht für sperrtechnisch wirkungsvoller. Für den Fall der Fälle gaben sie mit taktierendem Blick nach Moskau ihre Bedenken zu Protokoll. Noch ein Jahr später berichtete Armeechef Hoffmann in der zwölften Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates unbeirrt: „Am wirksamsten gegen Grenzverletzer sind die Drahtsperren.“ Und doch läßt sich der tatsächliche Beginn des planmäßigen Baus einer steinernen „Berliner Mauer“ auf diesen 20. September 1961 datieren. Insgesamt ist von der zeitlichen Aufeinanderfolge acht verschiedenartiger Sperranlagen auszugehen, von denen man fünf oder sechs im engeren Sinn als „Mauern“ bezeichnen kann.

 

(...)

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