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Cover Lettre International 65, Dennis Gün
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Inhaltsverzeichnis

LI 65, Sommer 2004

Palästina - Verzweifelte Zustände

Die Hoffnung, sagt man, hat einen bitteren Nachgeschmack. Nirgends trifft dies mehr zu als im Nahen Osten, wo im Laufe des vergangenen halben Jahrhunderts die Gelegenheiten zum Frieden vertan worden sind und die Sehnsucht nach Gerechtigkeit immer dringlicher geworden ist. Die Besorgnis über die Behandlung von Arabern durch Juden reicht weit ins vergangene Jahrhundert zurück; zahlreiche jüdische Intellektuelle, darunter Hannah Arendt, Martin Buber und Gershom Scholem, teilten sie. Aber ihre Warnungen wurden von der jüdischen Mehrheitsmeinung ignoriert, wo nicht gar lächerlich gemacht. Darin liegt eine bittere Ironie, denn gerade diese Denker haben implizit – und bisweilen auch explizit – vorhergesagt, daß die Palästinenser die Folgekosten des europäischen Holocaust würden zahlen müssen. Diese historische List des Schicksals sollte zur Quelle eines ideologischen Wettstreits darüber werden, wer das wirkliche Opfer ist, – ein Wettstreit, der noch immer die Möglichkeit einer vernünftigen Diskussion zwischen Juden und Palästinensern vergiftet.

Die Juden hatten – verständlicherweise – nach dem Zweiten Weltkrieg den moralischen Anspruch auf einen nationalen Hafen der Sicherheit erhoben, und Europa, bedrückt von der Schuld der jüngsten Vergangenheit, war bereit, ihn zuzugestehen, solange er irgendwo anders lag: etwa im "Heiligen Land". Mit ebenso gutem Recht bestanden jedoch dessen arabische Bewohner darauf, daß sie am Holocaust keinen Anteil hatten und daß sie nicht gezwungen werden dürften, einen so furchtbaren Preis für das Blut zu zahlen, das von anderen vergossen worden war. Es gab für die Israelis einen Weg zur moralischen Quadratur des Kreises: Sie verstanden die Gründung eines neuen "jüdischen" Staates als die in einem "Land ohne Volk für ein Volk ohne Land". Dieser Slogan, der 1901 von Israel Zangwill geprägt wurde, der ihn ironischerweise aber niemals in erster Linie auf Palästina gemünzt hatte, wurde vielleicht der Gründungsmythos Israels schlechthin. Er sah die Fruchtbarmachung einer leeren Wüste durch ein "auserwähltes Volk" vor, ein kultiviertes Volk, das von der Geschichte mißhandelt worden war und sich nun endlich in der Lage sah, sein Schicksal durch Intelligenz, Mut und Beharrlichkeit zu gestalten. Unglücklicherweise aber war das Land tatsächlich weder leer noch frei von Zivilisation: Dafür mußte erst noch gesorgt werden.

Hierin liegt die Bedeutung der Beiträge von "revisionistischen" Historikern wie Benny Morris und Ilan Pappe sowie von unabhängig eingestellten Soziologen wie Baruch Kimmerling. Ihre politischen Ansichten unterscheiden sich radikal voneinander, aber ihre Forschung illustriert mit akademischer Objektivität, daß das "Volk ohne Land" in Wahrheit das "Land ohne Volk" erst erschaffen hat – durch etwas, was man heute als "ethnische Säuberung" bezeichnen würde. Die Gründung Israels brachte die gewaltsame Vertreibung von 750 000 arabischen Einwohnern mit sich, die Auslöschung von mehr als 400 Ortschaften, die Anwendung von Vergewaltigung und Folter und die Herabstufung der im neuen Staat lebenden Araber zu Bürgern zweiter Klasse, um den "jüdischen" Charakter dieses Staates sicherzustellen. Doch der alte Mythos weigert sich zu sterben. Noch immer besteht das Bild eines heroischen Kampfes, den eine kleine Gemeinschaft friedlicher Juden gegen eine riesige Armee wilder Araber wagte.

Ein Krieg folgte auf den anderen. 1956 versuchte Israel mit der Rückendeckung Frankreichs und Englands, den Suezkanal zu besetzen; die Vereinigten Staaten, die den wachsenden europäischen Einfluß im Nahen Osten fürchteten, forderten die Eindringlinge zum Rückzug auf. Sie taten es. Dann, im Jahr 1967, griff Israel eine vereinte Streitmacht der Armeen Ägyptens, Syriens und Jordaniens an, die an seinen Grenzen aufmarschiert war. Der Sechstagekrieg kulminierte in einer für die arabische Welt erniedrigenden Niederlage und der Besetzung des Gazastreifens, der Golanhöhen, der Sinaihalbinsel und der Westbank. Als Reaktion auf diese Ereignisse verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die berühmte Resolution Nummer 242, die den Rückzug der Israelis aus den eroberten Gebieten forderte. Hier begann der Umschwung in der amerikanischen Außenpolitik: Israel erschien nun als die beherrschende Kraft der Region und als Bollwerk gegen die Sowjetunion, mit deren Interessen die arabische Welt in den Augen der USA identifiziert wurde. Im Jahr 1968 bildete sich auch die palästinensische Befreiungsorganisation PLO, und ein Jahr später wurde Jassir Arafat zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Als Verkörperung der Forderung nach einem palästinensischen Staat war die PLO unter dem langen Schatten der "Katastrophe" (nakba) von 1948 geboren, der Vertreibung als Folge der Gründung Israels und der vernichtenden militärischen Niederlage von 1967.

(...)

Es gibt keine Aussicht auf einen dauerhaften Frieden, solange Israel von einer Koalition regiert wird, die von imperialistischen Ambitionen und militärischer Unterdrückung der Palästinenser zusammengehalten wird. Die Verhältnisse in Israel verschlechtern sich zusehends. Nach jüngsten Erhebungen glauben 65 Prozent, daß Israel einen ökonomischen Niedergang, und 73 Prozent, daß es einen sozialen Niedergang erlebt. Ein Gefühl der Verzweiflung breitet sich aus, das durch die Gefahr terroristischer Anschläge ebenso verstärkt wird wie durch die wachsende Überzeugung, daß Israel zu einer Parianation wird. Anstatt über die Auswirkungen der israelischen Politik nachzudenken, beschränken sich säkulare Zionisten und religiöse Fanatiker darauf, diese Entwicklungen als Produkte eines "neuen Antisemitismus" zu sehen.

"Neu" ist am "neuen Antisemitismus" nur, daß die Juden nicht mehr untereinander gespalten und nicht mehr wehrlose Opfer einer christlichen Welt sind. Die Juden haben heute ein mächtiges Heimatland, mächtige Lobby-Organisationen in allen westlichen demokratischen Staaten und mächtige Alliierte wie die USA. Es gibt keine starken faschistischen Organisationen mehr, die sich aus antisemitischer Ideologie speisen, Antisemitismus wird nicht mehr an den Universitäten gelehrt, er ist nicht mehr akzeptabel in der guten Gesellschaft, und es gibt in keiner Demokratie eine antisemitische Bewegung, die ernsthafte Aussichten hätte, an die Macht zu gelangen. Neu ist nur die Art und Weise, wie altmodische Vorurteile mit der barbarischen Behandlung der Palästinenser verwoben werden, mit den Versuchen von Ariel Scharon und seinen Anhängern, ein "Großisrael" zu schaffen, und mit der Politik der Vereinigten Staaten im Nahen Osten.

Dieses politische Handeln wird als Bestätigung der alten Überzeugungen von der jüdischen Macht und der jüdischen Weltverschwörung gesehen, die mit den Protokollen der Weisen von Zion in Verbindung gebracht wird. Jüdische Organisationen sind inzwischen damit beschäftigt, jede Kritik an Israel mit Antisemitismus zu identifizieren und in dieser Art ihre eigene Version vom "Rückfall" zu verbreiten. Eine Synagoge wird beschmiert, ein Friedhof geschändet, eine jüdische Person wird auf der Straße belästigt. Diese Handlungen sind furchtbar und unentschuldbar. Mit dem Finger auf sie zu zeigen, ohne die Auswirkungen der israelischen Politik auf die Palästinenser mit in Betracht zu ziehen, ist trotzdem schlicht obszön. Der Ansatzpunkt für jedes ernsthafte Engagement in der Nahost-Politik ist klar genug. Er setzt voraus, darauf zu bestehen, daß der Holocaust nicht benützt werden sollte, um die gegenwärtige israelische Politik zu rechtfertigen, und daß Kritik an dieser Politik nicht mit Antisemitismus gleichgesetzt werden darf.

Genügend Juden sind  die Bande von radikalen Zionisten und religiösen Fanatikern leid, deren Politik das Beste ihrer Tradition mit Militarismus, Imperialismus, religiösem Obskurantismus und krudestem Rassismus in Verbindung bringt. Über sechzig Prozent der israelischen Bürger befürworten eine Art von Zwei-Staaten-Lösung. Verschiedene Nichtregierungsorganisationen wie Peace Now, Gruppen wie Women in Black und die Refuseniks – Soldaten, die den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern – bilden Bausteine einer wesentlich anderen Zivilgesellschaft, als es sie heute gibt. Solche Gruppen verdienen Unterstützung, gemeinsam mit jenen, die sich bemühen, die israelischen Araber zu einer politischen Kraft zu formieren. Politiker des Imperialismus und der Diskriminierung gibt es nicht bloß in der Likud-Partei Ariel Scharons. Die Arbeiterpartei hat sich als beinahe ebensowenig vertrauenswürdige Alternative erwiesen: Die Idee, eine "Trennmauer" zu errichten, kam tatsächlich von der Arbeiterpartei. Aber wenn man sich einem Feind gegenüber sieht, der einen Knüppel trägt, und einem anderen Feind, der ein Gewehr hat, so ist es – gemäß einem alten Spruch, den Trotzki angesichts des Aufstiegs des Nazismus gebrauchte – besser, zuerst den mit dem Gewehr zu entwaffnen. Das trifft auch hier zu: Jede Aussicht auf Frieden beruht in erster Linie darauf, die Herrschaft Scharons zu beenden.

In jedem Falle aber gilt, daß ein sicherer Friede – ein Friede mit Legitimität – nicht erreicht werden kann, indem man die Gerechtigkeit opfert.

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