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Cover Lettre International 70, Abbas
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LI 70, Herbst 2005

Bombay, Maximum City

Urbanes Chaos, Bandenkrieg und das brutale Regime der Polizei

Das organisierte Verbrechen in Bombay ist einzigartig. „All unsere Morde, unsere terroristischen Aktivitäten werden vom Ausland aus angeordnet“, sagt Ajay, als er davon spricht, weshalb die Polizei in Bombay nicht in der Lage ist, der Unterwelt endgültig Einhalt zu gebieten. „Wir verhaften die Schützen, die Leute, die die Tat verübt haben. Wenn wir Glück haben, bekommen wir die Leute zu fassen, die die Waffen besorgt haben. Aber wir haben hier nur die Hände und die Füße. Das Gehirn befindet sich außer Landes.“ Die Bandenchefs – die mit verschiedenen Pässen um die ganze Welt reisen, von Buenos Aires nach Bangkok – dirigieren ihre Truppen mit Satellitentelefonen. „Da glühen die Telefondrähte.“

Die Einkünfte der Banden in Bombay stammen aus Schutzgeldzahlungen, Erpressungen, Geldwäsche, Glücksspiel, Schwarzbrennerei, Filmfinanzierung, gehobener Prostitution und Drogen. In letzter Zeit haben sich die Banden der Stadt mit terroristischen Gruppierungen aus dem gesamten Subkontinent vernetzt, so mit den Befreiungstigern von Tamil Eelam in Sri Lanka, der Vereinten Befreiungsfront in Assam und der Gruppe Volkskrieg in Andhra Pradesh. Diese Gruppen verkaufen den Banden Waffen, und die Banden fungieren als ihre Finanziers. „Ich kenne Namen von Mitgliedern der Dawood-Bande in Guwahati“, also im fernen Assam, sagt Ajay.
Mit den Einkünften aus Prostitution und Schwarzbrennerei werden die einfachen Bandenmitglieder unterhalten, die Honorare der Anwälte der Bande bezahlt und Familien versorgt, deren Männer im Gefängnis sind, erklärt mir Ajay. Die Einnahmen aus Erpressungen werden aufgeteilt. Von 100 000 Rupien, die die Banden auf diesem Wege bekommen haben, gehen jeweils 60 000 an den Boß im Ausland, und 40 000 bleiben in der Kasse, um an die Bodentruppen verteilt zu werden. Ins Ausland gelangt das Geld über die hawala-Netze, ein papierloses Geldwäschesystem, in dem sich ein Sack mit Rupien, den man einem Ladeninhaber oder einem Diamantenhändler in Bombay gibt, schnell und effizient in einen Umschlag voller Dollars in Dubai verwandelt.

Die Banden stehen im Begriff, „sauber“ zu werden, sie gründen Unternehmen, die Hotels, Erholungseinrichtungen und Warenhäuser, ja sogar Banken betreiben. Die Unterhaltungsindustrie ist besonders beliebt: Chotta Rajan hat massiv in die Kabelnetze von Bombay investiert. Die Banden handeln auch mit Auslandsrechten für Filme und Bühnenshows, die auf Tournee gehen, und sie kontrollieren einen großen Teil der Musikindustrie, weil Banken im Bereich der Unterhaltungsindustrie im allgemeinen keine Finanzierungen übernehmen wollen – denn Buchprüfungen existieren so gut wie nicht.

Im Widerspruch zu den öffentlichen Verlautbarungen der Bosse sind sie auch in Drogengeschäfte verwickelt. Sie haben jedoch Angst vor den amerikanischen und britischen Behörden, die Drogenhändler mit Nachdruck verfolgen; deshalb sprechen sie nie über diese Sparte ihres Geschäfts und halten sie in beschränktem Rahmen. Das Barbiturat Mandrax ist die einzige Droge, die in Indien in großem Umfang produziert wird; hier stellen viele pharmazeutische Firmen, die mit Verlust arbeiten, die Tabletten her. Der Preis einer Tablette Mandrax – Herstellungskosten zuzüglich Bestechungsgeldern und Transport nach Mauritius auf dem Weg nach Südafrika, dem Bestimmungsland – beträgt 99 Paise oder 2,5 US-Cents. Sobald diese Tablette Südafrika erreicht hat, besitzt sie einen Wert von 2 Dollar 50 – eine Verhundertfachung. Ein Container faßt bis zu 1 800 Kilo dieser Tabletten. „Wenn jemand es schafft, daß ein einziger Container die südafrikanische Küste erreicht, hat er ausgesorgt“, bemerkt Ajay.

Die Männer bezeichnen die Organisationen, für die sie arbeiten, nicht als Banden, sie nennen sie Companies, und die Organisation hat in der Tat etwas Geschäftsmäßiges. In der Bande herrscht penible Arbeitsteilung. Es gibt Leute, die dafür verantwortlich sind, jeden Monat Gehälter auszuzahlen, wie in einer Firma. Andere sind dafür zuständig, Waffen bereitzustellen, und eine besondere Gruppe hat die Aufgabe, die Waffen zu lagern. Spezielle Zellen sind damit betraut, Zeugen einzuschüchtern. Sie frequentieren die Gerichtssäle und sorgen dafür, daß feindliche Zeugen zu ihren Gunsten umgedreht werden. Es gibt Ärzte, Rechtsanwälte, Sympathisanten, Fußsoldaten, Kundschafter und Leute, die für sichere Unterkünfte sorgen. Und dann ist da die ausgeklügelte Infrastruktur zur Versorgung von Bandenmitgliedern, die im Gefängnis sitzen. Um Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen verschiedener Banden in den Gefängnissen zu vermeiden, hat die Regierung für jede Bande andere Gefängnisse vorgesehen: Die Gawli-Bande wird auf die Gefängnisse Yerawada und Amravati verteilt; die Rajan-Bande sitzt in der Arthur Road; und die D-Company wird in den Gefängnissen von Byculla, Thane und Nashik untergebracht. In der Nähe des Gefängnisses von Nashik hat die D-Company eine Reihe von Wohnungen und Autorikschas erworben und Köche sowie Botenjungen angestellt. Küchenchefs in den Wohnungen bereiten Frühstück, Lunch und Dinner zu, und die Botenjungen springen in die Rikschas und liefern den Knastbrüdern warme Mahlzeiten. Es ist ein absolut planvolles, durch und durch effizientes Verpflegungssystem. Den Mann, der das Glück hat, nach einem Mord verhaftet zu werden, erwartet im Gefängnis eine Zeit, in der für seine Bedürfnisse stilvoll gesorgt ist. Und es gibt hinter Gittern einen eigenartigen Wettkampf in Großzügigkeit. Zum ganesh-Fest schickte Arun Gawli den Knastbrüdern von der D-Company in Thane, so erzählte mir einer von ihnen, eine Schachtel Süßigkeiten. „Der D-Company-Boß sagte: ‘Accha! So ist das also?’ und sandte einen riesigen Teller voll Halwa zurück an Gawli.“

Wie beim Sport und in der Unterhaltungsindustrie heuern die Banden Kundschafter an. Diese Späher sind überall, sie finden heraus, welche Leute in der Stadt Erfolg haben und in welchem Ausmaß; darüber erstatten sie den Banden Bericht. Ein erheblicher Teil der eingehenden Zahlungen geht zurück an die Kundschafter. Ebenso wie Ajay leben die Banden von Informationen. Sie hungern, ja, sie gieren nach Informationen, ständig schnüffeln sie danach in den Zeitungen, bei Betelverkäufern, in Vorstandsetagen, in den Büros von Politikern, im Internet.

Die Banden florieren, weil sie in einem Land, das einen so großen Rückstand von unerledigten Prozessen hat wie kein anderes auf der Welt, ein paralleles Justizsystem bilden. Ein Indiz für diese Lähmung der Justiz ist die Tatsache, daß sich im Jahre 2003, zehn Jahre nach den Explosionen von Bombay, die Verhandlungen gegen die Hintermänner immer noch hinziehen. „Das System der Strafjustiz ist völlig zusammengebrochen“, sagt Ajay. „Das ist der Grund, weshalb die Unterwelt gedeiht. Eine Auseinandersetzung über eine Wohnung, für die man vor Gericht zwanzig Jahre braucht, wird von der Unterwelt in einer Woche oder in einem Monat erledigt. Rechnen Sie sich die Ersparnis aus.“

Politiker werden kommen und gehen, die Stadt wird Aufstiege und Abstiege erleben, aber der Bandenkrieg wird niemals aufhören. Die Kultur des Bandenkriegs ist von der Kultur der Stadt nicht zu trennen. Madanpura, Nagpada, Agripada, Byculla, Dongri, Bhendi Bazaar, Dagdi Chawl: Das Herz Bombays ist das Herz des Bandenkriegs.

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