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Cover Lettre International 57, Peter Zimmermann
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Inhaltsverzeichnis

LI 57, Sommer 2002

Mekka

Meine Jahre in der heiligen Stadt der islamischen Welt

(...) Shaikh Abdullah war ein Dauergrinser. Aber heute machte er ein ernsteres Gesicht, als ich es je zuvor bei ihm gesehen hatte. Ich verzichtete auf Höflichkeitsplauderei und folgte ihm lediglich schweigend. Er ging in sein Büro, steckte Naseefs Brief und meinen Paß in einen Aktenordner und teilte seinem Assistenten mit, daß er in einem besonderen Auftrag ins Paßbüro gehen müsse und dort den ganzen Tag bleiben werde. In Shaikh Abdullahs altem Pick-up fuhren wir dann zum Innenministerium.

In der Visaabteilung – jawazat – des Innenministeriums gingen wir direkt ins Büro des Direktors. Shaikh Abdullah legte ihm den Brief in der Akte vor. Der Direktor las den Brief sorgfältig, schrieb etwas darauf und forderte Shaikh Abdullah auf, den Brief zu einem bestimmten Schalter außerhalb des Gebäudes zu bringen. Der Schalter war eigentlich eine kleine Öffnung in einer sehr großen Mauer. Er war etwa einen Meter hoch, kaum mehr als einen halben Meter breit und wurde von fünf senkrechten Eisenstangen geschützt. Etwa ein Dutzend Leute versuchten gleichzeitig, Akten durch die Stangen zu reichen und mit dem Mann dahinter zu reden. Bei dem Anblick sank mir das Herz in die Hose.

Shaikh Abdullah spürte meine Bestürzung und klopfte mir sanft auf die Schulter. „Ich weiß, was ich tun muß, gelernt ist gelernt", sagte er zuversichtlich. „Bleiben Sie hier stehen und schauen Sie mir zu."

Er zählte eine Anzahl Schritte von der Menge vor dem Visaschalter weg wie ein Bowlingspieler, der seinen Anlauf vorbereitet. Knapp 20 Meter von der Menge entfernt blieb er stehen, drehte sich um und schrie den zwei oder drei Leuten, die zwischen ihm und der Menge standen, zu, sie sollten aus dem Weg gehen. Dann hob er die untere Hälfte seines toupe, seiner langen weißen Oberbekleidung, hoch und band sie sich um die Hüfte fest.

Schließlich schaute er mich grinsend an und zeigte dabei einen Goldzahn.

Plötzlich schrie Shaikh Abdullah mit schrecklicher Stimme: „Ya Allah" und rannte los. Die Leute vor dem Schalter drehten sich entsetzt um und konnten nicht glauben, was auf sie zukam. Shaikh Abdullah sprang auf die Menge, lief in Blitzesschnelle über ihre Köpfe und Schultern und legte seine Akte dem Mann hinter dem Schalter genau in die Hände. Dann stieg er elegant herab – ein müheloses Absitzen – und kam nonchalant zu mir zurück.

Klappt immer", sagte er triumphierend.

Ich kann nicht glauben, daß ein Mann Ihres Alters über soviel Energie und Geschicklichkeit verfügt", sagte ich in echtem Staunen und voller Bewunderung.

Genau das sagt meine Frau auch immer", erwiderte er.

Sind Sie bei diesem unglaublichen Manöver schon einmal gegen die Eisenstäbe geknallt?"

Noch nie."

Und jetzt?"

Tschoia." Er schloß Daumen und Finger seiner rechten Hand zusammen und führte sie in Höhe des Brustkorbs: „Tschoia." „Wir warten."

Etwa eine halbe Stunde später wurde der Schalter geschlossen. Die Menge löste sich auf. Ein paar Leute blieben, aber die meisten suchten anderswo Schatten. Shaikh Abdullah und ich hockten uns unter einen Baum.

Die Saudis haben das Warten zu einer Kunstform entwickelt. Tschoia ist zweifellos das gebräuchlichste Wort, die häufigste Geste im Saudi-Idiom. Das hat etwas mit der Zeitvorstellung der Beduinen zu tun. Im Laufe ihrer Geschichte, heißt es, haben die Beduinen nichts besessen – außer einer Menge Zeit. Sie haben gerne herumgelungert, ohne eiligst etwas Bestimmtes tun zu müssen. Deshalb ist das Warten zu einem wesentlichen Bestandteil des ganzen saudischen Lebens geworden. Saudis nennen niemals eine genaue Uhrzeit, um was es auch geht.

Wenn jemand mit „Insch’Allah, bukra" seinen Besuch ankündigt, meint er damit vielleicht morgen, übermorgen, in ein paar Tagen oder irgendwann in der nahen Zukunft oder irgendeinen Zeitpunkt bis zur Ewigkeit. Auch Treffen aller Art werden nie zu festen Stunden oder deren Unterteilungen vereinbart, sondern immer mit Bezug auf die fünf Tagesgebete. Bad zuhr, nach dem Mittagsgebet, kann jede Zeit zwischen Mittag und Sonnenuntergang bedeuten. Wenn die Zeit in Stunden gemessen wird, dann immer in vollen Stunden: Es heißt immer fünf Uhr, auch wenn es 20 vor oder nach fünf ist.

In einem seltsam pervertierten Sinn ist diese Zeitvorstellung zum integralen Bestandteil der Wahhabiten geworden, jener von Mohammed ibn abd al-Wahhab begründeten revival-Bewegung, die zum Staatscredo Saudi-Arabiens geworden ist. Abd al-Wahhab wurde 1703 in einem kleinen Ort im Nedjd geboren, dem nördlichen Teil des Königreichs, und wuchs in der Sekte der Hanbaliten auf, der strengsten der vier Schulen des islamischen Denkens. Abd al-Wahhab verfocht die Rückkehr zur Reinheit und zur einfachen Tiefe des Ursprungs des Islams, zu den Worten des Korans und der Sunna (der Praxis des Propheten).

Er lehnte Gebräuche ab, die seit jener Zeit entstanden waren, etwa die Feiern zum Geburtstag des Propheten, den Besuch von Gräbern und Schreinen der Heiligen und Theologen. Wie die Reformationsdenker des europäischen Christentums wandte sich Abd al-Wahhab gegen die Verfälschungen, mit denen die Religion sich den Massen beliebt machte, anstatt sie zu erziehen und ihnen zu dienen. Sein Eifer lenkte viele zurück zur Reinheit des Islams als einer Lehre der Demut und Einheit, motiviert von Gleichheit und Gerechtigkeit. Alle Arten nonkonformistischer christlicher Bewegungen wurzeln in den gleichen Idealen. Der saudische Wahhabismus verdankt auch dem muslimischen politischen Philosophen Ibn Taimiya aus dem 13. Jahrhundert viel. Ibn Taimiya befaßte sich fast ausschließlich mit der Stärke und dem Überleben der Muslimgemeinde zu einer Zeit, als der Islam, sich gerade vom Angriff der Kreuzzüge erholend, von den Mongolen bedroht wurde.

Er sah in der Zwietracht unter den Muslimen ihre Hauptschwäche und trachtete, die Pluralität der Interpretation zu ächten. Alles müsse im Koran und in der Sunna gefunden werden; Theologie und Philosophie, so Ibn Taimiya, hätten keinen Platz im Islam. Der Koran müsse wörtlich interpretiert werden. Wenn der Koran zum Beispiel sagt, Gott sitzt auf seinem Thron, dann sitzt er auf seinem Thron und basta. Es dürfe keine Diskussion über Wesen und Zweck des Throns geben. Nichts darf metaphorisch oder symbolisch gelesen werden.

(...)

Die wahre Bedeutung des saudischen Wahhabismus wurde mir klar im November 1979, als eine Gruppe von Fanatikern die Große Moschee in Mekka besetzte. Sie warfen dem saudischen Staat viele Sünden vor: Zusammenarbeit mit Christen, Unterstützung der Häresien der Schia, Verbreitung von Zwietracht mittels Duldung von mehr als einer Interpretation des Islams, die Einführung von Film und Fernsehen ins Königreich und die Fetischisierung des Geldes. Mekka wurde vom Rest der Welt abgeschnitten, und die Moschee wurde vom Militär und der Nationalgarde – die hauptsächlich dem Schutz der Königsfamilie dient – umstellt. Doch bevor die Rebellen aus der Moschee gespült werden konnten – im buchstäblichen Sinne, wie sich zeigte –, mußten sie förmlich zum Tode verurteilt werden.

Die Aufgabe fiel Scheich Abd al-Asis Bin Bas zu, dem ersten Gelehrten und Mufti des Königreichs. Bin Bas war blind, und ich sah ihn oft in der Großen Moschee bei der Umrundung der Kaaba. Das Bild war sich immer gleich. Ein junger Student, die Hand auf seiner linken Schulter, geleitete ihn um die Kaaba, während Horden von Bewunderern und Anhängern versuchten, ihm die rechte Hand zu küssen. Bin Bas gestattete ihnen, seine Hand zu ergreifen, aber wenn sie ihre Lippen auf den Handrücken drücken wollten, zog er seine Hand weg. Die Anklagen der Rebellen gegen den saudischen Staat wurden Bin Bas vorgelesen.

Er stimmte den Thesen der Rebellen völlig zu. Ja, sagte er, ein echter Wahhabitenstaat dürfe nichts mit den Ungläubigen zu tun haben. Ja, die Häresien der Schia dürften nicht ungestraft bleiben. Ja, unter keinen Umständen dürfe mehr als eine Interpretation des Islams geduldet werden. Ja, im Islam seien sämtliche Bilder verboten, also auch Film und Fernsehen. Und ja, Geld dürfe nicht zum Fetisch werden. Nur eine These teilte Bin Bas nicht – daß eben dies alles im saudischen Königreich erlaubt sei. Deshalb wurde die Große Moschee unter Wasser gesetzt, und die Rebellen wurden ertränkt. Mir kam es so vor, als ob die puritanischen Rebellen wenigstens ehrlich waren, im Gegensatz zu den Repräsentanten des Wahhabitenstaates.

Mit der Leugnung der Vielschichtigkeit und Vielfalt des Islams und mit der Ablehnung so vieler pluralistischer Interpretationen des Islams hat der Wahhabismus den Islam auf eine unfruchtbare Liste von Verboten und Geboten reduziert. Diese wurden in Saudi-Arabien mit brutaler Macht und/oder starkem sozialem Druck durchgesetzt; das lief auf Totalitarismus hinaus. Mich entsetzte nicht nur diese Erkenntnis, sondern auch, daß ich als jemand, der in der Islamischen Bewegung aktiv war, der mit der Literatur von Jamaa-e-Islami und der Muslim Brotherhood groß geworden war, womöglich dieser Vision beipflichten könnte oder daß ich sogar schon unbewußt zu ihrem Anhänger geworden war.

Gegen zwei Uhr nachmittags, wenn die meisten Büros für den Rest des Tages schlossen, öffnete sich der jawazat-Schalter. Im Schalterfenster tauchte eine Hand mit einer Akte auf und warf einen Ordner mit Papieren in die Luft. Ein im Schatten geduldig wartender Mann sprang auf, fing die Akte, öffnete sie, um sie kurz durchzusehen, und verließ mit dem Ausdruck der Zufriedenheit forsch das umzäunte Gelände. Wenig später tauchte die Hand wieder auf, und der Vorgang wiederholte sich. Dann tauchte die Hand mit einer anderen Akte auf. Diesmal fing Shaikh Abdullah sie.

Er schlug die Akte auf und sah hinein. Ich schaute ihn gespannt an. „Habe ich das Ausreisevisum bekommen?"

Nun, noch nicht ganz", antwortete Shaikh Abdullah. „Das Visum haben Sie nicht, aber der Brief von Dr. Naseef ist respektiert worden."

Was heißt das?"

Das weiß ich nicht. Mit solch einer Situation hatte ich noch nie zu tun. Aber ich glaube, Sie können morgen das Land verlassen."

Ich nahm Shaikh Abdullah die Akte aus der Hand. Meinem Paß war ein amtlich aussehender Brief beigelegt. Shaikh Abdullah zeigte auf den Brief und sagte: „Ich glaube, es ist ein Notfallvisum. Lesen Sie es mir vor."

Lesen Sie ihn bitte." Ich gab ihm den Brief. „Mein Arabisch ist nicht gut genug."

Das sagt meine Frau auch immer zu mir." Er gab mir den Brief zurück.

Ich fragte ihn: „Da alle Akten gleich aussehen und der Mann hinterm Schalter auf niemanden gezeigt und kein Zeichen gegeben hat, wie konnten Sie wissen, welche Akte Sie fangen mußten?"

Leiten Sie die Paßabteilung der Universität oder ich?" Shaikh Abdullah war von meiner Frage irritiert. „Ich darf Ihnen nicht alles verraten. Wenn Sie jetzt mit diesem Brief zum Flughafen fahren, werden Sie sehen, daß Sie das Land verlassen dürfen."

Khalas", sagte er und rieb sich Hände und Finger, als klopfe er sich Staub von den Händen. „Khalas", wiederholte er: „Es ist vorbei."

Ohne auf eine Erwiderung zu warten, sprang Shaikh Abdullah in seinen Pick-up und fuhr davon.

(...)

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