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Cover Lettre International 80, Philip Taaffe
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LI 80, Frühjahr 2008

Kritiker und Cineasten

Die „Cahier du cinéma“ - Stationen einer legendären Filmzeitschrift

Was ist aus den Cahiers du cinéma geworden? Jahrzehntelang druckte dieses Magazin im Stil eines Notizbuchs die polemischsten und einflußreichsten Kritiken der Filmwelt; die Zeitschrift spielte eine entscheidende Rolle bei der Etablierung des Films als „siebte Kunst“. Unter der Herausgeberschaft von André Bazin rekrutierten die Cahiers bald nach ihrer Gründung 1951 eine Gruppe brillanter junger Rezensenten – Truffaut, Godard, Chabrol –, die der Kunst der Filmkritik Kultstatus und internationalen Ruhm verschafften, bevor sie ihren Worten Taten folgen ließen und die Kamera hinaus in die Straßen von Paris trugen, um die Nouvelle Vague ins Leben zu rufen. Nachfolgende Generationen von Redakteuren, darunter Éric Rohmer, Jacques Rivette und die zuerst gemeinsam arbeitenden Serge Daney und Serge Toubiana, brachten ihre eigenwilligen Ansichten über Zukunft und Absicht des Magazins mit – Philosophie oder Barrikaden; Ästhetizismus oder Zapping durchs Fernsehprogramm –, doch sie behielten immer ein Gespür für ihre filmische Vorreiterrolle und den leidenschaftlichen Interventionismus.

Die Cahiers erscheinen noch immer monatlich, inzwischen in einem Hochglanzmagazinformat, nicht mehr zu unterscheiden vom Gedränge der Mainstream-Kinomagazine. Festivalfilme, Blockbuster, erzieherische Ansätze, Archive: Die wohlwollende Berichterstattung umfaßt mehr Themen denn je, der Stil ist kunstvoll, wenngleich erstaunlich leidenschaftslos; das Gefühl beim Lesen – soviel Auswahl, sowenig Risiko – gleicht der Langeweile beim Durchblättern eines gehobenen Verbrauchermagazins. Dreißig Jahre lang hat dieses Magazin die Art und Weise geprägt, wie wir Filme sehen und verstehen, im populären wie im wissenschaftlichen Bereich. Die Cahiers haben Filmemacher zu großen Taten inspiriert und provoziert und wurden somit selbst, um es mit Alexandre Astruc zu sagen, zum caméra-stylo der Autorenfilmtheorie. Heute wirkt das Magazin kaum anregender als die Bordlektüre im Flieger zum nächsten Filmfestival. Wie konnte es nur dazu kommen?

Ursprünglich waren die Cahiers du cinéma als Produkt der massiv aufblühenden radikalen Intellektuellenkultur der Pariser Nachkriegszeit konzipiert. Die Linke ging aus ihrer Rolle in der Résistance deutlich gestärkt hervor, die nutz- und wirkungslosen konservativen Eliten waren entsprechend diskreditiert. Die Befreiung wurde nicht nur politisch, sondern auch kulturell und intellektuell vollzogen; Literatur und Philosophie, Politik und Sozialtheorie, Film, Jazz, Experimentaltheater, Hoch- und Populärkultur, alles wurde kombiniert und reagierte aufeinander – mit spektakulären Ergebnissen. Sartre, Camus, de Beauvoir, Malraux, Duras und Lévi-Strauss produzierten ihre eindrucksvollsten Werke. Philosophische Zeitschriften wie Les Temps Modernes, Esprit oder Critique drängten auf den Markt, befeuert von langanhaltenden und erbittert geführten Debatten. Die plötzliche Horizonterweiterung nach der klaustrophobischen Besatzung durch die Nazis öffnete den Kontakt mit dem Prä-McCarthy-Amerika und dem Italien der Neorealisten. Zur gleichen Zeit brachte das französische Kino Filme von Renoir, Ophüls, Cocteau, Melville, Resnais und Bresson hervor.

Obwohl die Lumière-Brüder einst prophezeiten, daß der Film keine große Zukunft habe, hatte sich die französische Filmkultur schon bald als fruchtbarer Boden für eine ganze Reihe von Stilen herausgestellt – und auch für den Austausch zwischen Kritik und Praxis. Der erste Filmklub wurde 1921 eröffnet, und in der Zwischenkriegszeit kam eine bunt gemischte Vielzahl von Filmmagazinen auf den Markt. Diese Kultur blühte 1945 wieder auf, nachdem sie während der Besatzung teilweise in den Untergrund getrieben worden war. So entstand ein Netzwerk von linksgerichteten Filmclubs in Paris. Henri Langlois baute seine Cinémathèque Française wieder auf und zeigte in der rue de Messine Werke (ohne Untertitel) von Hawks, Hitchcock und solche aus dem Film noir.1 Neben einer Flut von Magazinen gab es auch das L’Écran français, das Sartre, Camus, Malraux, Becker und Langlois zu ihren Redakteuren zählte. Es publizierte so grundlegende Texte wie Astrucs Aufsatz zum caméra-stylo, der erstmals den Regisseur als Einzelkünstler mit einem Maler oder Autor verglich, nur daß er an Stelle des Füllfederhalters sein Filmteam einsetzte; oder Roger Leenhardts Aufruf, sich zwischen Ford und Wyler zu entscheiden – frühe Ansätze zu einer Autorenpolitik. Maurice Schérer (der bald das Pseudonym Éric Rohmer annehmen sollte, das er aus Erich von Stroheim und Sax Rohmer, dem Erfinder von Fu Manchu, bastelte) wurde Herausgeber der Gazette du cinéma, des Programmblatts des Kinoclubs im Quartier Latin. Im Jahr 1946 gründete der Lebemann und Cineast Jean Georges Auriol seine Revue du cinéma aus der Vorkriegszeit erneut, dieses Mal mit der Mission, einerseits die Erklärung der Stummfilmzeit zum Goldenen Zeitalter in Frage zu stellen, andererseits die nationalistische Lobhudelei anzugreifen, mit der das cinéma de qualité von Marcel Carné und René Clair überhäuft wurde. Auriol war überzeugt, daß Filmkritik eine eigens geschaffene Sprache erforderte, und orientierte sich an der Avantgarde, an Italien und den Werken von Welles, Sturges und Wyler in den USA. Er veröffentlichte Texte von jungen Kritikern wie Jacques Doniol-Valcroze (der bei Cinémonde arbeitete), Astruc, Pierre Kast, Bazin und Rohmer; Auriols eigene Aufsätze zu Film und Malerei sind noch heute bahnbrechend.

1950 begann die überschwengliche Freude über die Befreiung langsam abzuebben und von der Bedrückung des Kalten Krieges ersetzt zu werden; die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) baute ihre Kontrolle über L’Écran français ebenso aus wie über einige der Filmclubs. Die Spaltungen vertieften sich. Der Filmhistoriker der Partei, Georges Sadoul, stand für den Konsens der alten Garde: Dem Stummfilm sei mit Ehrfurcht zu begegnen, Hollywood müsse verachtet und nationale Produktionen müßten kritiklos verteidigt werden. Im Gegensatz dazu war sich die Gruppe, die sich bald im Cahiers-Projekt zusammenfinden sollte, nicht nur in ihrer leidenschaftlichen Begeisterung für Filme einig – ein neuer Film wurde stets von dem Rezensenten besprochen, der am enthusiastischsten war –, sondern auch in ihrem Beharren auf einem Bruch mit der althergebrachten filmischen Praxis und Theorie. Für sie war, um es mit Peter Wollen zu sagen, „der vollständige Umsturz des herrschenden Geschmacksregimes eine Vorbedingung für den Triumph neuer Filmemacher mit neuen Filmen, die man auf einer anderen Werteskala beurteilen muß“. Diesen Paradigmenwechsel könnte man als „letzte in einer Serie von kritischen Revolutionen des 20.?Jahrhunderts“ sehen, „mit denen im Namen des ‘Modernismus’ gegen das Ancien régime der künstlerischen Konventionen gekämpft wurde“. In dieser Auseinandersetzung wurde Amerika als kultureller Verbündeter empfunden, eine mächtige Bilderproduktion der Moderne und der dynamischen populären Energien, die darin gebündelt sind. Der Name Cahiers, der ihren Texten den gleichen Status zuwies wie Notizen, die in Schulhefte gekritzelt wurden, deutet auf die vorläufige und doch todernste Natur ihres Unterfangens hin.

Gleichzeitig war die Aufstellung der Cahiers erstaunlich heterogen in Geschmacksbreite und Denkansätzen. Bazin war von Sartre ebenso inspiriert wie vom antikolonialistischen Katholizismus des Esprit-Redakteurs Emmanuel Mounier; Rohmer war Formalist durch und durch; Lo Duca war eher Generalist, Autor des Bandes über Filmgeschichte in der Buchreihe Que sais-je?; Doniol-Valcroze bewunderte Buñuel; Kast war der einzige echte Linke in der Gruppe. Kurz darauf kam die letzte Zutat hinzu: die polemische Energie einer noch jüngeren Gruppe um Truffaut (ein Protegé Bazins), Godard, Rivette und Chabrol. Diese revolutionären Modernisierer trafen sich bei Filmclubvorstellungen und schrieben für die von Schérer/Rohmer geleitete Gazette. Sie traten 1940 bei einer Vorstellung des Films Objectif 49 als vereinte Kraft auf: Auf der von Cocteau, Bresson, Queneau und anderen organisierten Veranstaltung stritten die Zwanzigjährigen mit Sadoul über das cinéma de qualité und Hollywood.

Ein Katalysator war der plötzliche Tod Auriols bei einem Autounfall 1950; mit der Revue war es vorbei. Im April 1951 wurde aus einem überfüllten Raum in der avenue des Champs-Élysées ein dünnes Magazin mit gelbem Umschlag ausgeliefert: Die Cahiers du cinéma, Revue mensuelle du cinéma et du télécinéma. Sein erstes Editorial prangerte die „böswillige Neutralität“ an, die „mittelmäßige Filme, verständnisvolle Kritiken und eine Verdummung des Publikums toleriert“. Als Beispiel für einen Film, für den sich das neue Magazin einsetzen wollte, wurden Bressons Tagebuch eines Landpfarrers, Dmytryks Haus der Sehnsucht, Wilders Sunset Boulevard und de Sicas Wunder von Mailand genannt – alles Filme, die seinerzeit in Paris zu sehen waren.

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