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Lettre International 134, Kubra Khademi
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Inhaltsverzeichnis

LI 134, Herbst 2021

Das künstliche Paradies

Ein Bericht von Blumenwiesen und einige Befunde aus der Hölle

Die Konstruktion des Gartens ist einfacher Natur, siebzig Quadratmeter, bedeckt mit Kies. Parallelepiped, an der Ecke zweier schmaler Straßen, es gibt auch Buchsbaumhecken, von denen er umfriedet ist. Ringsum stehen hohe Gebäude, so gleicht das kleine Grundstück einem Bassin, einer Lichtung, einer Insel. Offiziell war es einmal der Garten des Restaurants im Belgrader Literatenklub. Jetzt ist dieser Ort hergerichtet, fast auf Pariser Art, mit Lampions und Glasdecke, aber öde. Nicht nur, daß es Herbst ist, es ist die Spätzeit einer Geschichte, ihre Einöde. In dieser Stadt ist vieles verödet, das sieht man auch an diesem Garten, der hätte bleiben können, was er war, der kleine Winkel, der paradiesische, einer Generation, es aber nicht ist! Er ist jetzt für mich, bei seinem ganzen Glamour, nur der einstige Aufenthaltsort, für die Abendstunden, einer Gruppe von Dichtern und denen, die keine waren. Weil sich auch in den paradiesischen Gefilden, meine ich, nicht gleichgerichtete Menschen aufhalten, sondern unterschiedliche. So ist eine ganze Zeit vergangen, die ich heute, nachträglich, nur betrachten kann, als läse ich das alte Epos, das von Alighieri, seinen Schlußteil, der sich im Paradies abspielt.
     Zum Paradies zu gelangen bedeutete auch bei dem alten Dichter, zuerst unter den Höllenqualen der Sünder oder derer, die der Sünden beschuldigt wurden, zu leben. Es handelt sich um die Kellerräume des ehemaligen Literatenklubs, wo die Verstorbenen einer Literatur oder die, welche ich selbst als tot betrachte, geblieben sind. Von da unten steigt Dampf auf, weil dort auch jetzt gekocht und gebraten wird, die unreinen Seelen unserer Geschichte genießen die Früchte ihrer Unreinheit, und so fressen und saufen sie weiter. Die im großen Hexenkessel der Geschichte Versammelten sind mehr als jene, die zum zweifelhaften Sternenhimmel, dem Belgrader, aufgestiegen sind. Unten geblieben sind in großer Zahl die Trägen, Gefräßigen und Geizigen, die Gewalttäter, aber auch jene, die durch ihr dichterisches Werk deren Gewalt unterstützt haben, die Betrüger der Volksmassen, die Wankelmütigen und Kriegsgewinnler, die Säer von Zwietracht und die Verräter, vor allem ihrer selbst, dieses ganze überlebende Gesindel, das vielleicht nur ich für tot und nichtexistent halte. So dauert diese lebendige Kellerhölle unserer Geschichte fort, alles schmettert von ihrer Lebhaftigkeit, und kein alter Barde wird sie davon überzeugen, daß es sie nicht mehr gibt. Tote gibt es eigentlich am meisten in dieser Stadt, wenn sie auch nur betäubt sind. Hibernisiert ist eine ganze Generation, doch der Prinz, der sie auferwecken würde, von der Art eines Fortinbras, taucht nicht am Horizont auf.

Über das Paradies bestehen ebenfalls Vorurteile. Zunächst dieses, daß dort alles paradiesisch sei. Im Paradies ist nicht alles paradiesisch, genausowenig wie in der Hölle alles höllisch ist. Das Fegefeuer ist viel realer, dort ist es halb-halb. Das Fegefeuer gleicht für mich am meisten einem Treppenhaus, wie sich auch hier eines, geschmückt mit seinem Teppich, von oben nach unten und umgekehrt wälzt. Weil die Menschen des Fegefeuers, die armen Seelen dazwischen, nicht wissen, wo sie sind, ob sie hier oder da sind. An all das denke ich an diesem Abend in einem öden städtischen Restaurant, das meinem Garten, dem von einst, kaum ähnelt. So können meine heutigen Gäste, wenige an der Zahl, aber tot, Bewohner eines Paradieses sein, das nur in der Literaturgeschichte existiert.

Es gab einst auch eine Dame, die mich über diesen Kies führen könnte, nur ist auch sie vor allem gealtert und heute nur eine alte tote Redakteurin der Dichter, ohne den Glanz jener Beatrice. Und ohne die meisten Vorrechte, die sie besaß, früher einmal. Als hätte sie es satt, unsere Manuskripte zu sammeln, unsere Bücher zu verlegen, sie zu übersetzen, mit Poeten zu verkehren, uns an der Hand zu führen, den einen oder anderen auch zu lieben. Deshalb muß ich allein durch die alte Fabel gehen, ohne meine Redakteurin und auch ohne den Führer in Seide, wie durch dieses städtische Halbdunkel, weil der Abend anbricht, die Dämmerung unserer Geschichte. Dann muß ich aus eigenem Entschluß die Restaurantstühle hier anordnen, von denen es zu viele gibt, wie in einer Komödie von Ionesco. Nur daß ich meine toten Freunde, die ältesten, plaziere, Vinaver, Crnjanski, Matić, die jüngeren können auch stehen. Der Dichter Miljković fragt, ob wir auch Selbstmörder aufnehmen. Matvejević würde den einen oder anderen Russen mitbringen, die toten Russen, meint er, haben am meisten recht, sich tot zu nennen, die Russen, sagt er, sind, wenn sie tot sind, die totesten Toten auf der Welt. Ihm fehlt Okudschawa, mir Bytow, sage ich. Und mir Boris Dawidowitsch, wirft Danilo Kiš ein. Mich wundert aber schon, wie du noch am Leben sein kannst, fragt mich Miljković. Du lebst und lebst, und auch das hast du satt, meint er, wie Gogol gesagt hat. Ich wundere mich ja selber, sage ich zu ihm. Stell dich verrückt!, rät mir Matić. Dann sehe ich, daß es, wenn man lebt, am vernünftigsten wäre, sich verrückt zu stellen! Erasmushaft. Nur ist das heute ein großer Luxus, in der allgemeinen psychiatrischen Klinik unserer Gesellschaft wäre es wertvoll, wenigstens ein Fünkchen Vernunft und wenigstens ein Körnchen Gelassenheit zu bewahren.

Dies ist so die unverhofft versammelte kleine Gesellschaft toter Dichter, deren einziger Führer ich sein sollte. Weil mir auch weiterhin nichts fehlt, ich bin am Leben, und nichts tut mir weh. Mir fehlt nie etwas. Deswegen ist mir auch bestimmt, mich um einen solchen Garten zu kümmern, dem ebenfalls nichts fehlt. Ich sehe das an diesem Restaurant, dem es einerlei ist. Der Paradiesgarten sollte der Ort sein, dem nichts fehlt, dem nichts weh tut und der erst krank wird, wenn Menschen, wie sündenfrei auch immer, dort auftauchen. Ansonsten kommt mir diese paradiesische Umgebung, obwohl künstlich, das muß ich sagen, wie eine Gesellschaft von Depressiven, Entmutigten, Besiegten vor. Ein Aufenthalt im Paradies, heute, könnte wie eine Versammlung von Verlierern wirken, wenn jene Mafia, im Keller, verrufen in der ganzen Welt, auf die Pauke haut und sich freut, in der Meinung, sie sei auf einer Bauernhochzeit. Die Hölle meines heutigen Volkes ist ein Tohuwabohu von Säufern und Strolchen, aber daß es sich in dieser Lage befindet, im Keller und in der Hölle, stört es nicht. Denn diese Nation mit vielen heidnischen Zügen schert sich in Wirklichkeit nicht groß um die christliche Mythologie und lügt, wenn sie sagt, ihr liege etwas an der Kirche. Sie fürchtet sich, mehrheitlich, nicht vor der Hölle, was sie im letzten Krieg bewiesen hat; die Serben haben sich in diesen Verhältnissen, den höllischen, zu einem Teil ausgezeichnet zurechtgefunden und dort nur Gewinn gemacht.

Nun sehe ich, daß mein Bericht von den Blumenwiesen, im Paradies, wenigstens von denen, welche zur Dichtung gehören, im Schatten dieser Befunde aus der Hölle steht. So fragen sich meine toten Freunde, ob es überhaupt einen Zweck hatte, sich aus der rauchigen Kneipe, der infernalischen, herauszuschaffen, wenn da oben, unter den nicht zu erkennenden Sternen, lauter Verlierer versammelt sind.

(…)

Aber Dante hat am Ende doch alles wiedergutgemacht, sagt Matvejević, denn mit der Episode im Paradies ist es, als hätte er die Gesellschaft einer sozialen Gerechtigkeit, vielleicht den Sozialismus mit menschlichem Antlitz, beschrieben. Das ist es ja gerade, krächzt Kiš, kann mir jemand erklären, was dem Sozialismus ohne menschliches Antlitz bleibt? Die Genossen vom Eurokommunismus, die diese Parole erfunden haben, haben nicht begriffen, was sie gesagt haben. Ein Pleonasmus hat das suspekte Wesen jener ganzen Periode der Geschichte offenbart, jenes sansculottischen und kommunardischen. Sozialismus mit menschlichem Antlitz, allerhand! Mich interessiert nur noch eins, sagt Kiš, ob ein Linker auch nach dem Tod ein Linker bleibt? Alle schauen daraufhin Matvejević an, aber der schweigt.

Auch ich mißtraue im übrigen dem alten Dichter wegen seines Optimismus, der bösartigsten, wie ich finde, Krankheit des Menschengeschlechts. Er stellt sich vor, daß man auch aus der Hölle herauskommen kann, damit wir die Sterne sehen. Aber es gibt keine Sterne an meinem heutigen Himmel, dem Belgrader, es ist bewölkt. Vielleicht brauche ich darüber nicht vor jenen zu sprechen, die nicht mehr sind, aber Bewölkung ist meine dauerhafte Lösung, deshalb bin ich wohl auch im meteorologischen Sinne eine durch und durch dekadente und negative Person. Und meine, daß der Mensch wenig hat von der paradiesischen Lethargie unter den Sternen, aber wieviel nur verspricht jede Trübung des Himmelsgewölbes! Regen, Donner, Blitz, das ist die Prosodie des menschlichen Denkens, womit die wertvollsten Blätter der Poesie gefüllt sind. Soll es nur donnern, wie bei Lear, dem König der Schwermut, daraus muß immer etwas erwachsen!
     Was bei Dante am wichtigsten ist, sagt Konstan­tinović: die Diskussion, die Abhandlung, der Essayismus. Jeden Augenblick über irgend etwas, das ist Montaignetum vor Montaigne, vor Lukács und Musil. Essayismus. Die Göttliche Komödie ist eine Anthologie kleiner Versuche, verstreut über die Kolonnaden der Hölle, wie auch dort, über das Paradies. Sei es über die Teile des menschlichen Körpers, sei es über die Himmelsrichtungen, über die Stellung der Wörter im Satz, über alles.

Bei Dante im Paradies wird wahrhaft ständig diskutiert, sein paradiesisches Gespräch, das sind reine Digressionen, bald über dies, bald über das. Früher dachte ich, die Paradiessiedlung sei ein Paradies für Müßiggänger, aber in ihm gibt es keine Zeit zum Nichtstun. Bei Dante gibt es fast überhaupt keine Wiese, kein einziges Stückchen Gras, um sich in Ruhe draufzusetzen, nur schwere Pyrotechnik, mehr Licht als in Goethes Auge. Ich denke, sagt Kiš unverhofft, das Paradies wird einmal abgeschafft. Verbieten werden es gerade die Linken, die so viel über die paradiesische Zukunft reden, aber dann werden sie begreifen, daß sich dort lauter Gegner ihrer Ideen versammeln werden. Die auf Freiheit, Gleichberechtigung und Denkarbeit warten. Das alles paßt diesen steifen Leuten natürlich nicht. Das Paradies wird per Dekret abgeschafft, meint Kiš, wie in Rußland die bäuerlichen Betriebe abgeschafft wurden. Doch die Gerechten, sagt er, werden, da bin ich mir sicher, nicht in die Kolchosen des Denkens wollen, das kommt ihnen nicht in den Sinn. Das kann man nicht unbedingt wissen, sagt Matvejević. Ist es denn nicht das beste, springt Konstantinović bei: Vielleicht ist es am klügsten, es im ersten Moment nicht zu wissen, sondern erst später. Das ganze Leben, sagt er, habe ich mich bemüht, nicht im selben Moment zu wissen, sondern später, im weiteren Verlauf, dahinterzukommen. Die Wissenden sind unglücklich, so einer war mein Vater, sagt er, Doktor des Rechts, er glich Descartes. Wissen macht den Menschen steif, so habe ich ihn in Erinnerung, steif beim Gehen und auch sonst. Ganz im Gegensatz zu der Zerzaustheit von Montaigne. Das stimmt, sage ich meinem toten Mitbruder, dein Montaignetum hat uns ja hierhergebracht. Auch selbst hältst du den Essayismus für das, was uns aufrechterhalten kann, Montaigne wäre der wahre Führer unserer Bruderschaft, wenn Alighieri ihn hätte erfinden und vorhersehen können.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024