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Cover Lettre International, Charline von Heyl
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Inhaltsverzeichnis

LI 125, Sommer 2019

Mein Nachkomme

Ich glaube nicht an die Familie, an diese künstliche Ansammlung völlig verschiedener Personen, die nur durch den genetischen Code miteinander verbunden sind, und dieser gewährleistet ihnen lediglich die physische Gestalt und nichts anderes. Jeder einzelne macht dramatische Entwicklungsetappen durch, um zu seiner eigenen Persönlichkeit zu kommen, und trotzdem zwingen ihn verschiedene Arten von gesellschaftlichem Druck in das allgemeine Schema, das von der Familie garantiert wird. Nicht umsonst haben sich alle totalitären Regime den Familiensinn zu eigen gemacht, die Rolle und Bedeutung der Familie aufgeblasen, um ihr eigenes Regime als eine Art vergöttlichter Familie zu deuten. Die widerliche Unifizierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens bei den Faschisten wie auch in der paradiesischen Szenographie des Sozialismus läuft darauf hinaus, daß sie den eigenen Zwang mit dem anerkannten Terror des Elternhauses rechtfertigen, und so wie wir vor dem rabiaten Papa und der zänkischen Mutter Angst haben, sollen wir uns vor dem Vater – der Heimat – und vor der Mutter – der Partei – fürchten. Einen großen Beitrag zur allgemeinen Malträtierung der menschlichen Spezies leistet die Kirche, der religiöse Kult der Mutter und der ganzen Fesseln um den Familientisch wird nun vom Kult der Muttergottes beflügelt, zum Ideal wird der Stall, in dem sich das Ereignis der geheimnisvollen Geburt abgespielt hat, und die ganze Menschheit verwandelt sich leicht in eine Schafherde, die einen Hirten braucht. So blökt unser katholisches Volk genauso wie das nichtkatholische, es muhen unsere Bauern und Bäuerinnen an ihren Krippen, weil das bißchen Mais, mit dem man sie stopft, ebenfalls als Gabe des Himmels empfangen werden muß. So dauert das allgemeine, unvermeidliche Martyrium der menschlichen Spezies an, das sich größtenteils und zuallererst in den vier Wänden des Elternhauses abspielt. Damit schließt sich der Kreis der modernen Familie, aus dem man nur durch einen Skandal oder eine Krankheit herauskommt. Vier Fünftel der seelischen Krankheiten wurzeln im Familienkreis, wie auch ein Gutteil der ökonomischen und moralischen Probleme dieser Quelle entspringt. Sogar die globalen Konflikte zwischen Parteien oder ganzen Staaten bilden die Problematik des pathologischen Lebens in der Familie getreu ab. Die antiken Tragödien und Elisabethanischen Dramen führen zu Strindberg, Flaubert und Tolstoi, und in der modernen Literatur wird das Epos von den glücklichen Familien endgültig diskreditiert. Die Familie ist manchmal keinerlei Glück im menschlichen Leben, schrieb unser Dichter Crnjanski, als er in Rom lebte und sich mit Michelangelo befaßte, der in vielem familienlos war. Familien sind Medusen im menschlichen Leben, sagt Crnjanski. Allerdings hatte erst André Gide als erster den Mut, scharf auszusprechen: Familien, ich hasse euch! Die Surrealisten nahmen das Problem ein wenig lockerer, indem sie auf Jarrysche Art spotteten, Lautréamont legte seinen neurotischen Zorn an den Tag, die Psychoanalyse fügte dem einen wissenschaftlichen Ton hinzu, und am weitesten mit seinem Familienhaß trieb es unser Zeitgenosse, Thomas Bernhard. Mein Held schließt sich diesem in jeder Hinsicht an, seine Schlüsselidee ist die Zerrüttung der Familie, weil jede Familie, über die man schreibt, zerrüttet ist – es ist unmöglich über nicht zerrüttete Familien zu schreiben.

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Dann kam auch unserer Schriftsteller, Jergović, ebenfalls voller Zweifel an der menschlichen Spezies, nach allem, was im jüngsten Krieg begangen worden war, kehrte er nach Sarajevo, in seine Geburtsstadt, zurück, um das Heim aufzulösen, in dem er gelebt hatte, weil unsere Zeit abgelaufen ist. Dort wühlt er nicht nur in Schubladen voll toter Dinge, sondern auch in den Punkten seiner Vergangenheit, vor allem in jenen, wo er mit den Resten seiner Familie aneinandergeriet, vor allem mit den Eltern, die ihn bedrückten. Obwohl er darüber bereits ein Buch geschrieben hatte, fügte Jergović unlängst hinzu, wie ich jahrelang nach dem 3. Dezember 2012 hin- und hergerissen war, ob ich in das Haus in der Sepetarevac-Straße gehen und damit beginnen sollte, die Dinge aus dem Totenhaus zu sichten, umzuziehen. Könnte ich doch, überlegte ich, jemanden dingen, der das Haus mit allen Sachen darin niederbrennt oder es mit Dynamit in die Luft sprengt, damit wir endlich fertig sind. Nie wieder, dachte ich, würde ich die Sepetarevac-Straße hinaufgehen, was mich dann auch von der Pflicht entbinden würde, diese Stadt zu besuchen. Ein anderes Sarajevo war in meinem Kopf und in meinem Text, ich habe es erbaut, entwickelt und erweitert, aber die wirkliche Stadt mit diesem fatalen Berg und dem Totenhaus oben in der Sepetarevac-Straße hat meinem Sarajevo und mir nur Steine in den Weg gelegt. Warum nimmt er diesen Umzug zu guter Letzt auf sich, im Namen all derer, die seine Familie ausgemacht haben? Einmal im Leben zieht man so um, indem man auch die letzten Gegenstände und Spuren seiner Existenz an einem Ort und der Existenzen all seiner Verwandten aufräumt, die während des vergangenen Jahrhunderts da gelebt haben, geboren und gestorben und wieder geboren sind, um dann für sie alle weggehen zu müssen.

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Wo hat dieser Schriftsteller so viel Bitterkeit her und so wenig Segen? Während ich mit ihm zusammen bin, sehe ich viele Unterschiede an unserem gemeinsamen Tisch, handelt es sich lediglich um Unterschiede im Geschmack oder um eine andere Haltung gegenüber allem möglichen? Unsere große Nähe in vielen Dingen geht doch nicht verloren, weil ich starken schwarzen Assam trinke und er für mein Empfinden faden Grünen? Er selbst bekannte die Widerstände, die er jahrelang hatte, bis er sich das Essen von Tintenfisch zu eigen machte. Der, wie so viele Delikatessen, aus dem Meer, für manchen einen dubiosen Geschmack hat. Wodurch es, gerade so, zu besonderen Freuden kommt, nicht nur am Gaumen. Ich kenne keinen Autor, der bereit wäre, jene Kontroversen über Vergnügen oder Verdruß so bildhaft zu offenbaren. Die schönsten Geschmäcke kommen aus dem Ekel, aus dem Unbehagen, aus dem Schmerz, wenn etwas scharf, wenn es bitter, herb und übelriechend ist. Wenn ich esse, möchte ich nicht das Gefühl haben, Veilchen zu kauen. Enorm ist sein Drang zu Material, das durch Vorurteile gezeichnet ist, dieses in seiner Schönheit unübertroffene Oxyd, dieser Rost ist das größte Werk menschlicher Hände, der Punkt, an den unsere Zivilisation gelangt ist. Ist mein Dichter ein offener Dekadenter, in der Art eines Lautréamont, oder nur ein eigenständiger Charakter, der nichts, was ihm nicht entspricht, an seine Seele heranläßt? Und diese ist in einem solchen Maße offen für die dunklen Seiten des Lebens, denen Miljenko nicht verzeiht, niemals. Ich frage mich nur, wie aus dieser düsteren, melancholischen Natur eine solche Menge heller, weiser, erfrischender Bücher erblüht ist. So eben, weil aus der übergroßen Fröhlichkeit eines optimistischen Skribenten nur Kleie, Spreu und Mist herauskommen können; der wahre Text des menschlichen Bewußtseins sprießt aus dem Dunkel, aus der weisen Finsternis und den unerklärlichen Tiefen, die Dichtung ausmachen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024