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Cover Lettre International 95, Maki Na Kamura
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LI 95, Winter 2011

Die Psyche des Orpheus

Monteverdi, Gluck, Offenbach, Berlioz – Versionen eines Opernmythos

Man ist versucht zu sagen, daß der Schritt von Monteverdis Orfeo zu Glucks Orfeo ed Euridice dem Schritt von Descartes zu Kant entspricht. Glucks Beitrag zur Geschichte der Oper war die Artikulation einer neuen Form von Subjektivität. Bei Monteverdi haben wir es mit Sublimierung in reinster Form zu tun. Nachdem Orpheus sich umgedreht hat, um einen Blick auf Eurydike zu werfen und sie damit zu verlieren, tröstet ihn die Gottheit: Gewiß, als Person aus Fleisch und Blut hat er sie verloren, doch wird er ihre schönen Züge von nun an überall erblicken können, in den Sternen am Himmel, im Glitzern des Morgentaus usw. Den narzißtischen Gewinn, den diese Wendung mit sich bringt, macht Orpheus sich schnell zu eigen: Er ist entzückt von der vor ihm liegenden Aufgabe, Eurydike poetisch zu verherrlichen. Kurz, er liebt nicht mehr sie, sondern die Vision, wie er seine Liebe zu ihr manifest werden läßt.

Dies wirft natürlich ein anderes Licht auf die ewige Frage, warum Orpheus zurückblickte, um so die ganze Sache zu vermasseln. Wir begegnen hier dem Zusammenhang zwischen dem Todestrieb und der schöpferischen Sublimierung: Orpheus’ Blick zurück ist ein perverser Akt stricto sensu, da er Eurydike absichtlich verliert, um sie als Objekt erhabener poetischer Inspiration zurückzugewinnen (ein Gedanke, der von Klaus Theweleit entwickelt wurde). Aber sollte man hier nicht einen Schritt weitergehen? Was, wenn Eurydike im Wissen um die Sackgasse, in der sich ihr geliebter Orpheus befindet, sein Sichumdrehen provoziert hätte? Vielleicht hat sie gedacht: „Ich weiß, daß er mich liebt; aber er hat das Zeug zu einem großen Dichter. Das ist seine Bestimmung, und er kann das in ihr liegende Versprechen nicht erfüllen, wenn er glücklich mit mir verheiratet ist. Also muß ich, wenn ich mich ethisch vertretbar verhalten will, mich opfern und ihn dazu bringen, daß er sich umdreht, um mich dadurch zu verlieren und der große Dichter zu werden, der er zu werden verdient.“ Und dann fängt sie leise an zu husten oder dergleichen, um ihn auf sich aufmerksam zu machen … Für ein solches Verhalten gibt es unzählige Beispiele: Wie Eurydike dadurch, daß sie sich opfert, das heißt Orpheus absichtlich dazu bringt, seinen Blick auf sie zu richten und sie damit in den Hades zurückzuschicken, seine Kreativität freisetzt und ihm erlaubt, seiner dichterischen Sendung zu folgen, so stellt Elsa in Wagners Lohengrin, ebenfalls absichtlich, die verhängnisvolle Frage, um Lohengrin zu befreien, dessen wahres Begehren natürlich darin besteht, der einsame Künstler zu bleiben, der sein Leiden zu Kreativität sublimiert. Wagners Brünnhilde, dieses „leidende, sich opfernde Weib“, ist das ultimative Beispiel: Sie will ihre Vernichtung, aber nicht als verzweifelte Kompensation für ihre Schuld, sondern sie will sie als einen Akt der Liebe, der den geliebten Mann erlösen soll, oder, wie Wagner selbst es in seinem Brief an Franz Liszt vom 19. Oktober 1858 ausgedrückt hat: „Die Liebe einer zarten Frau hat mich beglückt: sie konnte sich in ein Meer der Leiden und Qualen stürzen, um mir zu sagen - ich liebe Dich! Was sie zu leiden hatte, kann nur ermessen, wer ihre ganze Zartheit kennt. – Nichts wurde uns gespart; dafür aber – bin ich nun erlöst, und sie ist selig, weil sie’s weiß.
(…)

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