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LI 132, Frühjahr 2021

Alles in die Vertikale

Kingdom Radically Uplifted Mighty Praise – Wir tanzen Krump!

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Das war 1992, nach den großen Unruhen im April, den Rodney King Riots, fünfzig Tote, 2 000 Verletzte, sechs Tage und sechs Nächte im Kampf, Zeit genug, eine Welt zu schaffen oder zu vernichten, aber Tag und Nacht unterschieden sich nicht, zu jeder Uhrzeit dieselbe Finsternis, dieselbe Aschenschicht, durchbohrt von den Flammen der Brände, den Scheinwerfern, den Projektoren und den Laserstrahlen. Die Glassplitter der Auslagen lagen wie matter Rauhreif auf den Bürgersteigen. Unsere Kinderkörper hüpften im Rhythmus der Sirenen, der Schüsse und der Helikopterrotorblätter – und tief in uns, in unseren leichten Gliedern, zuckten Nerven, 62 unsichtbare Nerven, so viele, wie am 3. März 1991 Schläge auf den riesenhaften Körper von Rodney King niederprasselten, der auf dem Bauch auf der Fahrbahn lag und von vier Offizieren des LAPD verprügelt wurde, die eine Jury, in der kein Schwarzer saß, am 29. April freigesprochen hatte. Wir hatten sie gezählt, diese Schläge, auf dem Video, das ein Augenzeuge gemacht hatte, 56 Stockschläge und sechs Fußtritte, eine streng geregelte Choreographie, die wir unter uns nachspielten: Du bist der King und ich der Bulle, du prügelst, ich stecke ein, jeder kommt an die Reihe. Tommy (Tommys Legende) erzählt, er habe am siebten Tag nach den Rodney King Riots seinen Weg gefunden: die Drogen und das Dealen aufgeben und sich um uns kümmern, uns Kinder in South Central. Diese gespenstischen Schläge, die wir abbekommen hatten und die unter der glatten und schmalen Oberfläche unserer Haut wie entsicherte Granaten lagen. Wir haben viel von Tommy gelernt. Aber wir sind herangewachsen. Muskelknoten haben sich in unseren Armen gebildet, in unseren Schenkeln, in den mageren und integren Bäuchen der Mädchen. Wir haben einen brutaleren, radikaleren Tanz gesucht. Wir waren Clowns, wir sind zu Kriegern geworden.

Radikal hoch oben sind wir, wenn wir tanzen, höher als die Watts Towers, höher als die Trump Towers, unsere Köpfe berühren das Königreich, unsere Füße treten auf das Weiße Haus und seinen orangen Clown. Mit gespreizten Beinen stampfen wir den Boden, als wollten wir Ketten abschütteln, man bohrt die Erde, man weckt die Wurzeln auf, und dann plötzlich eine Drehung des Knies, ein Schlag auf den Feind von hinten. Stomp, unsere Schritte werden schneller, feinfühlend wie eine Ballerina suchen wir mit den Spitzen unserer Sneakers unsere balance points, erste Position, Spitze nach außen, die fünfte nach innen: Footwork, und indessen (es gibt keine Zeit mehr, nur mehr dichte, gesättigte, magnetische Momente) füllen sich unsere Lungen mit Luft und leeren sich in einem Zug: Chest Pop, unsere Schultern heben sich: Wobble, unsere Arme schwingen nach unten: Bounce, strecken sich, fangen auf oder werfen: Grab, unsere Hände schließen sich, eine Gerade mit der Führhand: Jab, unsere Finger öffnen sich, Zeigefinger und Daumen hochgestreckt: Talking, spreizen sich: Smack, unsere Fäuste ballen sich: Power.

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024