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Cover Lettre International, Jakob Roepke
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LI 107, Winter 2014

Liebesdschihad und Kussprotest

(…)

Religiöse Zwangsjacken

Die Liebe, dieses uralte, emotionale Band zwischen zwei Menschen – gewöhnlich, aber nicht immer verschiedenen Geschlechts –, ist in Indien in zunehmendem Maße bedroht. Anders, als man erwarten könnte, geht die Bedrohung nicht vom Streß und von der Hektik der Modernisierung, von den Zwängen des Lebens im Informationszeitalter, von der Leichtigkeit der Ehescheidung und ähnlichen Dingen aus, die den Menschen zunehmend weniger Zeit und Raum lassen, um Beziehungen zu pflegen. Maßgebend ist vielmehr ein eingefleischter Konservatismus, verbunden mit Befürchtungen der Eltern, die „Kontrolle“ über ihre Kinder zu verlieren, einem Argwohn gegenüber „westlichen“ Verhaltensweisen und einem Unvermögen, sich in einer Welt zurechtzufinden, die im Wandel begriffen ist.

Mit diesem Gefühl der Verwirrung verbindet sich wirkungsvoll die scheinbare Klarheit rechtsgerichteter Fundamentalisten. Diese treten, unter Ausnutzung der Unsicherheit der Menschen mit Einschüchterung auf den Plan. Einfache Beziehungen werden als finstere Pläne gedeutet, gegen die man Macht und politische Unterstützung aufbietet, um sie zu unterbinden.

In diesen Zusammenhang gehört der Terminus „love jihad“, mit dem rechtsgerichtete hinduistische Gruppen ein Vorgehen bezeichnen, das sie interpretieren als eine hinterhältige und systematische Verschwörung der Muslime, darauf gerichtet, gegen die Hindugemeinschaft einen Krieg – jihad – zu führen, bei dem diese Liebe als Waffe benutzen. Das Verfahren, das Muslime angeblich einsetzen, besteht darin, daß sie sich in traditionelle hinduistische Zeremonien – etwa in eine fröhliche Tanzveranstaltung, die man als Garba bezeichnet und die sich an ein neuntägiges rituelles Fasten anschließt – einschleichen und Hindufrauen verführen. Dies tun sie angeblich, indem sie sich als Hindumänner ausgeben (an dem Tanz sind Männer und Frauen beteiligt) und arglose Mädchen anlocken; wenn diese sich dann verliebt haben, werden sie zur Konversion veranlaßt. Der nächste logische Schritt ist dann, daß sie muslimische Kinder bekommen, und die Befürchtung geht dahin, daß die muslimische Bevölkerung, wenn man das zuläßt, die der Hindus dereinst überflügeln wird, so daß die Hindus zur Minderheit im eigenen Land werden.

Mag diese Behauptung auch lächerlich erscheinen, so gibt es doch Menschen, bei denen sie Anklang finden. So sind die Garba-Tänze in Indien – die überwiegend im Bundesstaat Gujarat veranstaltet werden – öffentliche Ereignisse, bei denen die Bereitstellung von Speisen, Dekorationen und Beleuchtung traditionell in den Händen von Muslimen lagen, deren Präsenz bei diesem Tanz daher völlig normal ist, und es kommt durchaus vor, daß bei solchen Anlässen Beziehungen über Religionsgrenzen hinweg geknüpft werden. Hier wird ein ganz normaler Vorgang benutzt, um Befürchtungen, Sorge, manchmal auch Hysterie anzuheizen.

Diese Situation wird dadurch bestärkt, daß „religiöse Reinheit“ und das Heiraten innerhalb der eigenen Gruppe keineswegs Anliegen sind, die sich auf eine Glaubensgemeinschaft beschränken. Vielmehr stößt der Versuch, die Ehe in die religiöse Zwangsjacke zu stecken, auf große Resonanz, ob bei Hindus, Muslimen oder anderen Gruppen, so daß Menschen, die in vielen Punkten gegensätzliche Haltungen einnehmen, in der Ablehnung der freien Partnerwahl übereinstimmen.

In Cochin im südindischen Bundesstaat Kerala gingen kürzlich Gruppen junger Leute an die Öffentlichkeit, um gegen Einmischungen in ihr Privatleben und in ihr Recht auf freie Entscheidung zu protestieren. Ihr Protest – „Kiss of Love“ genannt – nahm die Form von Zusammenkünften an, bei denen sie sich in der Öffentlichkeit küßten – was damit zusammenhing, daß rechtsgerichtete Gruppen erklärt hatten, Küssen in der Öffentlichkeit sei etwas „Westliches“ und daher inakzeptabel. Ihre Proteste wurden in anderen Städten aufgegriffen, über das Internet verbreiteten sie sich wie ein Lauffeuer und fanden zunehmend Unterstützung.

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