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Inhaltsverzeichnis

LI 133, Sommer 2021

Die Schönheit der Viren

Ein Krieg gegen die Krankheit kann so gefährlich sein wie der Feind

(...)

Menschen und deren Haus- und Herdentiere machen gegenwärtig 96 Prozent der planetaren Biomasse an Säugetieren aus.10 Niemals zuvor in der Geschichte der Evolution ist eine kleine Zahl großer tierischer Spezies von solcher Dominanz am oberen Ende der Nahrungskette gewesen. Unsere Schweine-, Rinder- und Hühnerfabriken (wie auch die Gruppierungen von Schafen, Pferden und Hunden und entsprechende Aquakulturen) sind von riesigem Umfang, aber von extrem schmaler genetischer Diversität. Viren haben sich seit Beginn des mehrzelligen Lebens an epochale Veränderungen angepaßt. Mit einer Evolutionsgeschwindigkeit, die millionenfach größer ist als die von Säugetieren, sind jene Mikroben, denen es gelungen ist, in Säugetierzellen einzudringen, dort in die neue Welt einer anfälligen Wirtspopulation hineingestolpert – in die Welt der naiven Wirte, wie der bedeutsame Spezialbegriff lautet. Das zoonotische Tor mag schmal sein, doch ungeahnte Möglichkeiten erwarten das, was hindurch­gegangen ist.
     Diese neue Welt ist vom Virus noch unerforscht, so, wie das Virus neu für uns ist. Was als nächstes geschieht, liegt am Schnittpunkt verschiedener Ungewißheiten. Es ist ein Puzzle, dessen Teile sich laufend verändern. Virologen und Epidemiologen sagen offen, daß es nicht lediglich eine Frage ausreichenden Wissens ist, sondern daß ihr Gegenstand sich (buchstäblich) weiterentwickelt, während sie ihn studieren.

 

WEISSE COBRAS
Viren sind gefährlich. Seit die Mikrobiologie vor fast einem Jahrhundert mit ihnen zu arbeiten begonnen hat, ist diese Gefahr Teil ihrer Faszination gewesen. Die Möglichkeiten, infektiöse Viren als Waffen einzusetzen, und die Notwendigkeit, sich gegen den Einsatz derartiger Waffen seitens des Gegners zu verteidigen, haben Militärwissenschaftler in die virologische Forschung gebracht (und umgekehrt Virologen in die Militärwissenschaft). Wir müssen uns Sorgen wegen der Möglichkeiten biologischer Kriegführung machen. Und auch darüber, wie manche Virologen vielleicht die Menschenwelt sehen. Die institutionelle Struktur der Biosicherheit und deren Bedrohungsperspektive haben diesen Wissenschaftlern sehr breite Möglichkeiten der Forschung und des Experimentierens verschafft.
     In seiner journalistischen Darstellung vom Ausbruch einer bei Affen auftretenden Variante des Ebolavirus in einer Anlage zur Unterbringung von Labortieren (in Reston, Virginia, im Jahre 1989) versucht Richard Preston die Gedanken des Virologen Tom Geisbert imaginär zu rekonstruieren, als dieser die ersten Bilder des Ebolavirus betrachtet.
     „Er sah Viruspartikel, die wie Schlangen geformt waren, in Negativbildern. Es waren weiße Kobras, die ineinander verschlungen waren wie das Haar der Medusa. Es war das Gesicht der Natur selbst, die obszöne Göttin, nackt enthüllt. Dieses Etwas, diese Lebensform, war atemberaubend schön. Als er es anstarrte, fand er sich aus der Menschenwelt fortgezogen in eine Welt, wo sich moralische Grenzen verwischen und schließlich ganz auflösen. Er war in Erstaunen und Bewunderung versunken, obwohl er wußte, daß er die Beute war.“
     Exotische Bilder wie dieses können eine nützliche geistige Prothese sein, die uns hilft, über radikal andere Sichtweisen der Wirklichkeit nachzudenken. Die Technologien sind offensichtlich gefährlich, aber die Modelle können es ebenfalls sein. In diesem Fall zeichnet sich ab, daß man Ebola als eine Erweiterung des archaischen Dschungels sieht, dem Conradschen Herz der Finsternis vergleichbar, wo das Böse lauert.

(…)

Untersuchen wir den Parallelfall der Atombombe. Das Manhattan-Projekt, das im Frühjahr 1945 die erste Atombombe entwickelte, war ein wissenschaftliches Vordringen ins Unbekannte. Für die Beteiligten war es überaus spannend – gleichzeitig aufregend und furchteinflößend. Die Wissenschaftler in der Wüste hatten das Vertrauen und die Unterstützung des Präsidenten der USA und arbeiteten an der größten intellektuellen und praktischen Herausforderung ihres Lebens, in einem Augenblick der Geschichte, in welchem die Zivilisation auf dem Spiel stand. Diese Physiker erforschten die Grenzen der Existenz und der Vernichtung. Bei der Beobachtung des Trinity-Tests sagte Robert Oppenheimer: „Nun bin ich der Tod, der Zerstörer ganzer Welten.“ Am Vortag hatte sein Kollege Enrico Fermi (der wegen der vorausgesetzten Unfehlbarkeit seiner Kalkulationen den Spitznamen „der Papst“ trug) „Wetten von seinen Kollegen entgegengenommen, ob der erste atomare Test die Atmosphäre entzünden würde und ob in diesem Falle lediglich New Mexico vernichtet würde oder die ganze Welt“.
     Oppenheimer, Fermi und die anderen gingen Risiken ein, die allein sie selbst überhaupt formulieren konnten und die nach außen zu tragen ihnen natürlich nicht gestattet war. Sie waren wie Bergsteiger an den Wänden unbekannter Gipfel, erregt von der Gefahr wie von ihrem Triumph, und am Ende suchten sie nur deshalb nach neuen Gipfeln, weil diese da waren und bestiegen werden könnten. Einer aus dieser Gruppe von Wissenschaftlern, Edward Teller, war später obsessiv mit der Konstruktion immer größerer Bomben beschäftigt – weil er es konnte.
     Diese intellektuelle Kultur (verbunden mit der Geheimhaltung und Selbstabschottung der militärischen Autoritäten, die für Nuklearwaffen verantwortlich waren) änderte sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht; sie änderte sich während des Kalten Krieges nicht, und sie ist auch jetzt noch nicht verschwunden. Fermi gewann 1945 seine Wette: Die Testbombe zerstörte weder New Mexico noch die Welt, und seit dem August 1945 hat es keine atomare Kriegführung gegeben, weder absichtlich noch zufällig. Doch sind sich die Physiker nur allzusehr des Sündenfalles bewußt, der darin lag, die Geheimnisse des Universums aufzuschließen. Die „normale Unfalltheorie“  sagt voraus, daß es früher oder später zu einem verheerenden Unfall mit einer Atomwaffe kommen wird.

( …)

Biologische Waffensysteme sind Kandidaten für „normale Unfälle“, wie der beschriebene einer war. Das gilt auch für die fortgeschrittene virologische Forschung, bei der noch hinzukommt, daß die Bergsteiger in höchster Höhe nicht nur von intellektueller Begeisterung angetrieben werden, sondern auch von der noblen Motivation, die tödlichsten Krankheiten zu besiegen. Sie machen eine kleine Gruppe aus und verteidigen ihre Gemeinschaft und ihre Privilegien vehement. Virologen geben ungern den ganzen Umfang der Gefahren bei ihrer Forschung zu, vom Sammeln und Transportieren der Proben bis zur Laborarbeit und Lagerung.

(…)

Die größten Gefahren liegen vielleicht in der Forschung, die ein Vakzin zu produzieren sucht. Der Hauptgrund hierfür ist es, daß diese Forschung sich naturgemäß auf tödliche Pathogene konzentriert, sowohl auf bekannte Viren wie auf wahrscheinliche Kandidaten für pandemisches Potential. Wenn es das Ziel des Forschers ist, ein neues Pathogen X zu identifizieren, ehe es sich pandemisch verbreitet hat, dann muß dieses Pathogen in der Form, in der es natürlicherweise vorkommt, aufgespürt und in einem Labor untersucht werden. Bereits dies ist nicht ungefährlich. Angesichts des Umstandes, daß die größte Gefahr darin liegt, ein existierendes Pathogen könnte mutieren und damit auf Menschen übertragbar, zwischen Menschen übertragbar und insgesamt virulenter werden, müssen die Virusjäger die gesammelten Viren zerlegen und untersuchen, wie diese natürlicherweise mutieren könnten, um jene tödlichen Charakteristika zu entwickeln. Das ist noch gefährlicher.
     Die Gefahren steigern sich noch, wenn es um künstlich verstärkte Viren geht. Das ist in besonderem Maße der Fall bei den sogenannten Funktionsgewinn-Experimenten, bei denen Viren im Labor manipuliert werden, um zu sehen, ob und wie sie leichter übertragbar und virulenter werden könnten. Dem liegt die Logik zugrunde, daß wir, je genauer wir die entscheidenden Elemente eines Virus (etwa die, welche es ihm gestatten, menschliche Zellen zu infizieren) identifizieren, um so
effektiver ein Vakzin entwickeln können. Das wird als „Funktionsgewinn“ – gain of function – bezeichnet.

(…)

 

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