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Cover Lettre International 131, Antoine D'Agata
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Inhaltsverzeichnis

LI 131, Winter 2020

Alle Heiligen

Süßes Leben zwischen den sieben Hügeln – Romanzen und Turbulenzen

„Ich bin ein Bürger Roms, ich, der ich früher Bürger Rudiaes war.“
                                                                                      Quintus Ennius, Annales

Es war das erste Mal, daß ich bei Dario übernachtete. Im Zimmer gegenüber wurde die ganze Nacht ein Oratorium aufgeführt. Anfangs murmelte, brüllte und fluchte wie immer mehrstimmig der Fernseher, dann stöhnte Dario wollüstig. Als nächstes ging ständig die Wohnungstür. Unermüdlich hielt die philippinische Nachtschicht die gesamte Belegschaft wach. Man unterhielt sich halblaut, betätigte die Klospülung, versuchte raschelnd und kratzend, meine Tür zu öffnen. Ich schob einen schweren Sessel davor, aber die Befürchtung, ich könnte plötzlich einen Bettnachbarn haben, war so stark, daß ich bloß dalag und auf das Fenster mit der gelben Ampel und dem Himmel starrte, der zum Glück allmählich heller wurde.
     Erst morgens merkte ich, daß es gar nicht der Lärm war, der mich am Schlafen gehindert hatte: Über Arme und Beine zogen sich gleichmäßige Linien aus roten Bissen. O Heilige Asteius und Paulus, es waren Wanzen im Bett! Dario wunderte sich überhaupt nicht: „Insekten? Nicht der Rede wert. Die kommen und gehen. Wenn du willst, scheuern wir das Bett mit Seife ab.“ Er bosselte in der Küche. Sanft blubberte der Kocher. Das Kaffeearoma, fester Bestandteil seines Lebens, verlieh Dario die Gewißheit, daß es die Ewigkeit gab und die Gerechtigkeit auch. Bei dem heiligen Ritual, dem Löffeln der Kaffee-Milch-Plörre mit dem eingeweichten Plätzchen darin, hatten die Philippinen nichts verloren – beim Kaffeesakrament versagte seine demokratische Gesinnung.
     „Setz dich.“ Ein fahriger, zerrupfter Spatz, sah er vom Herd herüber und wies auf eine saubere Tasse.
     Diese Reaktion auf das gräßliche Geschehen zerstörte mein ohnehin schon labiles Gleichgewicht. Meine aus Rebibbia herbeigeschafften Bücher lagen noch in den Kisten. An den Wänden lehnten die Säcke mit meinen Sachen. Panisch stopfte ich Wäsche, Kulturbeutel und ein paar zufällig rausgezerrte Bücher in den Rucksack und rannte aus dem Haus.
     Ich ging an den goldbraun leuchtenden Platanen vorbei die lange Straße hinunter. Die Glocken feierten. Es war Allerheiligen.
Während ich müßig durch die Gegend bummelte, geriet ich allmählich in einen fremden Stadtteil. Und fand ein Elektrofachgeschäft – ich ging manchmal gern in eins rein –, wo auf mehreren TV-Bildschirmen gleichzeitig der verschneite Platz meiner Kindheit gezeigt wurde. Es schneite dort genauso wie in alten Zeiten, und ich wurde traurig, weil ich sie nur virtuell sah, die Orte meiner Kinderspiele und Jugendküsse, meiner Jugendspiele und Kinderküsse. Meiner Streitigkeiten, Versöhnungen, Erleuchtungen, schlaflosen Nächte. Damals spürte ich den Frost nicht einmal in dünnen Nylonstrumpfhosen. Doch nun hatte der vertraute Platz schon etwas Fremdes, Offizielles an sich, und das linderte den heftigen Schmerz, der eingekastet war. In meiner Brust und anderswo.
     Auf einem anderen Bildschirm wurde dargelegt, die Stadt im Süden, in die es mich vor ein paar Jahren verschlagen hatte, habe eine uralte Geschichte, so alt, daß einem der Kopf schwirrte – und trotzdem beherbergte sie vor nicht allzu langer Zeit jede Menge Blumen- und Gemüsegärten und erinnerte manchmal heute noch an ein Dorf. Erst kürzlich hatte die Stadtverwaltung die Haltung von Nutztieren verboten, aber nach wie vor wurden Obstbäume abgeerntet, und morgens krähten geschmuggelte Hähne.
     Wie verhielt sich diese Stadt zu ihrer Vergangenheit? Zum Caput mundi, wie sie sich selbst nannte, als sie aus dem Erdkreis eine Provinz machte und in alle Himmelsrichtungen ausmaß? Einst war sie allgegenwärtig, allmächtig und allbesitzend. Wohl deshalb gab es auch heute nichts, was ihre Bewohner überrascht hätte. Würde der Papst plötzlich zum Islam konvertieren oder ein Elefant rittlings auf einem anderen über die Stadt hinwegschweben, würde man bloß sagen: „alles schon gesehen“. Seltsamerweise deckten sich die Vorstellungen der Romländer von schlechten Manieren, Höflichkeit und Diplomatie mit unseren Vorstellungen von Aufrichtigkeit, Speichelleckerei und Verrat. Anscheinend gab es keine größeren Gegensätze als das Naturell dieser Stadt und dasjenige meiner Geburtsstadt. Die Rolle der Familie war hier sakrosankt. Jedes Jahr am 24. Dezember saß man, Speise um Speise vertilgend, bis zum Morgengrauen im Kreise seiner unüberschaubaren Familie: untreue und liebende Ehegatten, Großmütter, Urgroßmütter und sogar Urgroßväter, denn anders als wir waren die Romländer zäh und langlebig. Wie in einem Kaff konnte man dich hier ohne weiteres fragen, ob du einen Verlobten hättest, und wenn du in Gegenwart dessen, den man so nannte, lange mit jemand anderem redetest, war man peinlich berührt. Dann ging der „Verlobte“ verstört nach Hause, und die Bewohner der Stadt grinsten kaum verhohlen. „Hörner hat er, Hörner hat er“, kicherten sie vor sich hin und zwinkerten einander zu. Wenn sie an einer Bestattungsfirma vorbeifuhren, ja wenn ein Todesfall auch nur erwähnt wurde, kratzten sich die Männer dieser Stadt die Eier. Die gesitteteren kratzten sich diskret oder zumindest in Gedanken. Einige suchten nach Metall, um es mit dem kleinen und dem Zeigefinger zu berühren. Sprach man von Krankheit, formten andere mit den Fingern zwei Hörnchen und riefen: „Sciò, sciò!“ Regenschirme wurden unter keinen Umständen in der Wohnung geöffnet, Hüte nie aufs Bett gelegt. Das würde einen Todesfall bedeuten. Eine Handtasche auf dem Bett einen Arztbesuch. Man ging niemals unter einer Leiter her. Ein Bett durfte man nicht zu dritt beziehen, sonst drohte dem jüngsten der drei ein plötzlicher Tod. Ein Salzstreuer wurde nicht direkt in die Hand gegeben. Er mußte zuerst auf den Tisch gestellt werden, um die Aufmerksamkeit der bösen Geister abzulenken. Mit einem Wort, trotz des revolutionären Impetus ihrer Vergangenheit war das eine träge, dumpfe Gesellschaft, die in ihrem eigenen Saft schmorte.
     Die Schönheit des Raums jedoch, rational und so virtuos, daß sie wie zufällig wirkte, löste alles Alberne, Gemeine und Grausame in Luft auf. Beim Betrachten der bekannten Straßen auf dem Bildschirm fühlte ich zum ersten Mal, daß ich, während ich mich selbst immer mehr aus den Augen verlor, mit den Romländern nun endlich Freundschaft geschlossen hatte. Mein gradliniger Blick hatte Krümmungen und Kavernen außer acht gelassen, aber gerade dort sproß ja bisweilen Leben. Zynismus, Lebenslust und Mutterwitz der Romländer hatten die Hügel meiner Arroganz eingeebnet, aus der man schließlich weder Bohnensuppen noch Kinderwiegen machen konnte. Und schon wirkten, wie ich selbst, auch meine Landsleute banal, vorhersagbar und unmenschlich auf mich. Unempfindlich für Nuancen, weder bei Gerüchen noch bei Stimmungen. Unbewandert in der Kunst der Gesten, Andeutungen und ersten Küsse. Okay, die Küsse kommen wie versprochen später dran – und dann steht der Romländer, wie er wirklich ist, im Mittelpunkt.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024