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Cover Lettre International, François Fontaine
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LI 112, Frühjahr 2016

Verlassenheit

Der Pariser Terror und die Hoffnungslosigkeit

(…)

Was sagt Olivier Roy? Die Attentäter seien Jugendliche, die alle Brücken hinter sich abgebrochen hätten und die muslimische Kultur ihrer Eltern ablehnten (aber nicht konvertiert seien). Auf der Suche nach einer „großen Erzählung“, die nicht mehr zu finden sei, hätten sie sich für den IS entschieden, weil es auf dem „Markt der radikalen Revolte“ nichts anderes gebe. Letztlich erlägen sie, wie viele andere vor ihnen, einer „revolutionären Romantik“ und ihrem Fantasy Warrior. Doch handle es sich in ihrem Fall um eine Romantik ohne revolutionäres Projekt: grob gesagt, um eine „nihilistische“ Romantik, die keinen anderen Horizont habe als den Tod, einen Tod, den sie sich nach ihrem rohen Verständnis des Islam erträumten. Daher seien sie, so die Schlußfolgerung von Olivier Roy, keineswegs „Ausdruck einer Radikalisierung der muslimischen Bevölkerung“.

Problematisch an dieser „generationalistischen“ Interpretation scheint mir zu sein, daß sie den internationalen Kontext ausblendet. Die jungen Attentäter, um die es geht, sind ganz auf der Höhe der Zeit. Sie surfen im Netz und sind von der Globalisierung geprägt. Sie reisen nach Syrien und kommen wieder zurück. Sie leben nicht im luftleeren Raum. Und wenn sie nicht Produkte des in Frankreich etablierten Islam sind, so sind sie in ihrem Weltbild (so armselig dieses auch ist) doch nicht unbeeinflußt von dem obskurantischen Abrutschen, das in zahlreichen Ländern der arabischen Welt, wo der Wahhabismus seit einigen Jahrzehnten seinen „Marktanteil“ erhöht, zu beobachten ist. Sie sind im Abendland der erratische Widerhall jenes bigotten Islamismus, den Kamel Daoud als „neuen Totalitarismus“ in seinem Land, Algerien, immer mehr sich ausbreiten sieht. „Der Umschwung ist spektakulär“, schreibt er in Le Monde. Die er die „Bartträger“ nennt, haben jetzt „eine Strategie der sozialen Kontrolle“ lanciert, die der algerischen Gesellschaft immer mehr die Luft zum Atmen nimmt. Daß diese „Matrix“ (um Daouds Wort aufzugreifen) auf Frankreich abfärben, in Frankreich mehr als nur ein Echo auslösen kann, scheint mir unabweisbar.

(…)

Verlassenheit. „Elementare Erschütterung des seelischen Gleichgewichts“: So könnte man die geläufige Bedeutung des Wortes „Verlassenheit“ bestimmen. Sie trifft das Gefühl der tiefen Trauer, das die Attentate vom 13. November hervorgerufen haben, doch kann das Wort ohne Zweifel auch andere Bedeutungen – entlegenere, problematischere – haben.

Hannah Arendt verwendet das Wort am Schluß des dritten Teils ihres Werkes über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, um eine Dimension des Wesens des modernen Menschen zu beleuchten, die für den Totalitarismus und seine Schreckensherrschaft den Boden bereitet. Verlassenheit, so betont sie, sei nicht Einsamkeit,11 sondern das Vernichtetsein all dessen, was der menschlichen Existenz Sinn gebe. Sie nehme dem Menschen jede Möglichkeit, Anerkennung zu finden (nicht zuletzt in der Arbeit). Verbunden mit der „Erfahrung, entwurzelt und überflüssig zu sein, die seit dem Beginn der industriellen Revolution der Fluch der modernen Massen war“,12 verdamme Verlassenheit das menschliche Subjekt zu „einer der radikalsten und hoffnungslosesten Erfahrungen des Menschen, nämlich überhaupt nicht zur Welt zu gehören“. Von der Grenzerfahrung, die sie früher gewesen sei (zuerst im Alter), sei Verlassenheit „zur alltäglichen Erfahrung der in der Moderne immer größer werdenden Massen geworden“. Unter solchen Umständen gehe das Gefühl für das Gemeinsame, der gesunde Menschenverstand (le sens du commun, le sens commun), verloren, und das Individuum, ohne Verbindung mit seinen Mitmenschen, sei zu allen Abenteuern bereit – bereit, die Flucht nach vorn in den Selbstmord anzutreten.

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