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Cover Lettre International, Adriana Molder
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Inhaltsverzeichnis

LI 104, Frühjahr 2014

Erobert euer Grab!

Die Zukunft des Theaters nach der Rückkehr aus der Zukunft

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Die Krise des Dramatischen

In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts machte der Germanist Peter Szondi auf eine Verschiebung innerhalb des literarischen Ordnungsmodells aufmerksam, das die Erzeugnisse der Dichtung in Lyrik, Epos und Drama unterteilt. Seine 1954 vorgelegte Dissertation Theorie des modernen Dramas konstatiert eine zunehmende Episierung des Dramatischen und spricht von einer „Krise des Dramas“. Aristoteles’ Postulat „Der Dichter muß … sich daran erinnern, seine Tragödie nicht episch zu gestalten“ wurde über die Jahrtausende als maßgebliche Instruktion verstanden. Goethe und Schiller verwahren sich ebenso wie Nietzsche gegen Grenzverletzungen. Mit August Strindberg, Anton Tschechow und Gerhart Hauptmann betritt jedoch eine Generation die Bühne, die Elemente des Epischen in das Dramatische einführt und der es gelingt, das Gebiet des letzteren nachhaltig zu unterminieren. Szondis Kartographierung geht auf eine Beobachtung von Georg Lukács zurück, dessen um 1910 verfaßte Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas die Kontinentaldrift der Formkategorien im Naturalismus mit der Technik Ibsens beginnen läßt: „Auf diese Weise wird das Drama episch, es zerfällt, wird zu einer dialogisierten Erzählung.“

Mittlerweile ist der Damm zwischen den Gattungen irreparabel gebrochen. Es findet sich kaum noch ein Spielplan, der nicht mit einer Bühnenfassung von Prosatexten oder Romanen aufwartet. Hermann Hesses Steppenwolf in Zürich, Karte und Gebiet von Michel Houellebecq in Düsseldorf, Christoph Heins Weiskerns Nachlaß in Weimar, Ayn Rands Prosa Der Streik in Köln, Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone von Mark Haddon in Nürnberg, Schimmernder Dunst über CobyCounty nach dem Roman von Leif Randt in Bremen, Der talentierte Mr. Ripley von Patricia Highsmith in Frankfurt, Amerika von Franz Kafka in München. Die Reihe ließe sich fortsetzen.

Wo früher die Theoretiker der dramatischen Dichtung auf der Trennung der Gattungen insistierten, verwischen heute fließende Übergänge einst scharf kontrastierende Profile. Eine reine dramatische Form bildet mittlerweile eher die Ausnahme. Operiert ein Autor noch mit traditionellen Mustern, verblaßt sein Name zumeist mit der Uraufführung. Mit den sich überlappenden Gattungen entsteht jenes Feld, in dem René Pollesch sein Diskurstheater etabliert, Elfriede Jelinek ihre Sprachteppiche – „Textflächen“ genannt – ausrollt, Kathrin Röggla ihr dem aktuellen Wirtschafts- und Börsendeutsch abgerungenes Sprechen konjugiert, von Andres Veiel interviewte Big Shots in der Tradition des Dokumentartheaters über die Lage sinnieren.

Postdramatische Klammer

Dieser Prozeß innerhalb des Texttheaters wird von einer performativen Entwicklung überlagert, die sich generell gegen das Texttheater und dessen triadische Struktur Autor (Text) – Regisseur – Schauspieler richtet. So entläßt das Institut für angewandte Theaterwissenschaft in Gießen – vergleichbare Einrichtungen haben es sich zum Vorbild erkoren – Jahr für Jahr Theaterwissenschaftler, die ohne literarischen Text und ohne Schauspieler auf der Bühne praktizieren. Statt dessen stehen Laien auf der Bühne oder die Akteure selber: Autoren, Regisseure, Schauspieler in einer Person oder in einer Formation, die über Jahre hinweg wie eine Popgruppe als Kooperative auftritt. Indem sie gegen die Idee der Repräsentation antreten, haben Gruppierungen wie Rimini Protokoll, She She Pop, Gob Squad, Showcase Beat Le Mot Theatergeschichte geschrieben, denn die performative Projektkultur hat sich als Erfolgsstory erwiesen.

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Ende der Utopie

„Mein Drama findet nicht mehr statt“, resümiert Müllers Hamlet. Trauer um eine Form, die einmal Dialektik und Kritik ein Zuhause gab, klingt in dieser Zeile nach. Der Vorhang der Geschichte hebt sich nicht mehr, um jenes Drama aufzuführen, das ins gelobte Land führt, welches die utopischen Erwartungen vor Augen geführt haben. Diese Negation von Zukunft als Zielkorridor gesellschaftlicher Praxis bedeutet einen entscheidenden Einschnitt für die ästhetische Struktur des Theaters. Damit tritt das Theater historisch in eine neue Realität ein. Utopie situiert sich nicht mehr in der Zukunft, sondern liegt erstmals als historische Erfahrung in der Vergangenheit. Boris Groys: „Der Kommunismus war lange Zeit nur ein Versprechen, eine Utopie, eine gedankliche Konstruktion. Diese Vision hat eine große Geschichte ihrer Formulierungen und Reformulierungen – von Platon über Thomas Morus bis hin zum utopischen Sozialismus des 19. Jahrhunderts. Die Frage nach der Realisierbarkeit der Vision blieb während dieser langen Geschichte allerdings offen. Die kommunistische Utopie lag allein in der Zukunft. Heute ist der Kommunismus Vergangenheit: Er hat als ein reales Ereignis in der realen Geschichte stattgefunden. Die Tatsache, daß dieses Ereignis inzwischen abgeschlossen ist, bezeugt gerade seine Realität.“

Der Verheißungshorizont Zukunft ist erloschen. Dementiert wird damit eine reichhaltige und richtungsweisende Tradition, die in der griechischen Antike einsetzt und über eine Kette von Entwürfen in die Moderne führt. Im 20. Jahrhundert soll sich ihr Schicksal erfüllen. Denn sie dient nicht nur als Maxime individuellen Handelns, sondern wurde auf dem Boden der Realgeschichte verwirklicht, wenn auch anders als erwartet. Die postkommunistische Situation, die Groys unter den Titel Zurück aus der Zukunft stellt, will besagen: Es kann nicht wieder zum Projekt Geschichte zurückgekehrt werden, insofern Erfahrung erwiesen hat, daß Geschichte nicht in der Verfügungsgewalt des Menschen steht. Mit dem Utopieraum implodiert der Ort des Anderen in der Zeit. Eine Implosion, die den offenen Horizont unendlicher Möglichkeiten auf unabsehbare Dauer verschließt und auch all jene poetischen Programme, die Zukunftsräume erschließen wollten, in Mitleidenschaft zieht.

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Ob es sich bei der „Aufrichtigkeitskultur um ein Theater der objektiven Verlogenheit“ handelt, wie Rainer Nägele in Der andere Schauplatz befindet, oder ob die fehlgeschlagenen Experimente des
20. Jahrhunderts die Ressource Zukunft aufgebraucht haben und der Untergang des Sterns der Utopie einen Neuanfang nötig macht, wird sich vorerst kaum eindeutig klären lassen. Aber daß eine Bruchlinie die performative Welt durchläuft, steht außer Zweifel. Auf der einen Seite die Formate, die dem verlorenen Zukunftshorizont nicht nachtrauern, sondern den Geist des Positivismus auferstehen lassen, gerade damit er sie vor den Irrwegen der Geschichte und den Anfechtungen aus dem Reich des Messianismus schützt. Ihr Ort ist das Hier und Heute und damit keinesfalls das, was auf der anderen Seite das Theater des jungen Brecht, Antonin Artauds oder Heiner Müllers als jenen „anderen Schauplatz“ eröffnet, wo das Subjekt extremen Zerreißproben ausgesetzt ist und sich ständig selbst hinterfragt: „Oder lügt mein Blick, und ich selber bin / Nur mein Gedächtnis noch an mich Vergangenen.“ Schien das Subjekt bislang für den historischen Zukunftsstau verantwortlich, wird es mit der Festschreibung von Gegenwart als verbindlicher Horizontlinie entlastet und der Laie auf der Bühne mit dem Etikett
„authentisch“ versehen.

Der Neonaturalismus hebt den Geltungsbereich der Unterscheidung zwischen „affirmativ“ und „kritisch“ auf, die traditionell das politische Theater konstituiert. Bezog sich Kritik bislang im Namen der Zukunft auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und stand im Licht dessen, was bei Nietzsche „große Politik“ heißt, verwandelt sie sich als systemimmanente Größe in ein Instrument, um ein Mehr an Effizienz, Innovation, Synergieeffekten usw. hervorzubringen oder Ungereimtheiten oder Ungerechtigkeiten vor dem unhintergehbaren Horizont der parlamentarischen Demokratie anzuprangern. Im Rahmen der Politik der Intervention tritt während des Rimini-Projekts 100 Prozent Athen die Gewerkschafterin Konstantina Kounevas auf, die in Griechenland zur traurigen Berühmtheit wurde, nachdem ein Säureanschlag im Zusammenhang mit ihrer politischen Aktivität ihr Gesicht zerstörte. Sie steht nicht selber auf der Bühne, vielmehr stellt eine Freundin mit Maske sie dar, aber ihre Stimme ist zu hören und erzeugt den Präsenzeffekt.

Die Bruchlinie verläuft zwischen einer Kunstform, die sich um das Mögliche zentriert, Formaten, die im Bereich des Gegebenen Spielräume eröffnen, und einer Ästhetik, die sich dem Unmöglichen verschrieben hat. Die Fraktur zwischen den beiden Formen ist kaum austariert. Erst jüngst bündelte Bernd Stegemann in seinem Großessay Kritik des Theaters postmoderne und neoliberale Diskurse, um den ideologischen Imperativ des neuen Performativen herauszuarbeiten. Angesichts der ökonomischen Entwicklung erhärtet er den Verdacht, daß der Unschuldsraum als Tummelplatz postmoderner Spielangebote nur jenen anderen Raum verdecke, den die sich gegenwärtig immer weiter öffnende Schere zwischen Reich und Arm öffne, und plädiert dafür, „das Theater wieder zu einer kritikfähigen Kunst in der spätkapitalistischen Öffentlichkeit zu machen“. Aber genau gegen eine solche Kritik der Verhältnisse, die immer auch einen Vektor in das andere und Unmögliche evoziert, richtet sich die Formatkultur. Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, nach den falschen Verheißungen des Utopischen bis hin zur Schmelze seines Glutkerns in der Realgeschichte, gilt ihr Mißtrauen den Lockungen des Metaphorischen, den Blendungen und Glücksversprechen durch die Phantasmen aller Couleur. Zu den Trugbildern zählt dieses Kind des Ready-made auch das Mimetische. Es beruhigt sich erst an technischen Innovationen und am Performer, dem Inbild des Authentischen, der niemanden mehr verkörpert außer sich selbst.

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