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Cover Lettre International, Achim Freyer
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Inhaltsverzeichnis

LI 114, Herbst 2016

Illiberale Demokratie

Über die Bedrohungen für Europa

(…)

Eine Kulturrevolution

Die illiberale Wende in Ostmitteleuropa stellt das bis vor kurzem in der diesbezüglichen Literatur vorherrschende Schema in Frage: Auf demokratische Übergänge folgt die Konsolidierung der liberalen Demokratie, die wiederum zur europäischen Integration als der Vollendung eines angeblich unumkehrbaren Prozesses führt. Statt dessen scheint ein Prozeß demokratischer Regression im Gange, bei dem illiberale Demokratie und Ethnonationalismus einige der grundlegenden Glaubenssätze der Europäischen Union in Frage stellen. Ist der Rückschlag in der europäischen Integration ein Zufallsopfer der illiberalen Wende, oder hat das Projekt, wie einige Autoren behaupten, zu ihr beigetragen?

Die Wiederkehr eines illiberalen Mitteleuropa hat Vorstellungen von einem europäischen Ost-West-Gegensatz neu belebt, und es ist behauptet worden, die Erweiterung der EU sei voreilig oder gar ein prinzipieller Fehler gewesen. Das zu glauben heißt aber, die Situation falsch einzuschätzen. Die politischen Kulturen Europas haben in der Tat ihre Besonderheiten, und die politischen Entwicklungen unterscheiden sich; doch die Krise des Liberalismus und das Aufkommen populistischer Nationalismen sind transeuropäische Phänomene. Der liberale Zyklus der Jahre nach 1989 ist an sein Ende gekommen. In Ostmitteleuropa bedeutete er Demokratie, Märkte, Europa. Alle drei sind in der EU als ganzer in einer Krise. Der Niedergang der großen Parteien, das Ende der traditionellen Unterscheidbarkeit von Rechts und Links hat Raum für die Identitätspolitik populistischer Parteien geschaffen. Ausgereizte zukunftsorientierte Projekte wurden durch Wirtschaft und die Tyrannei der Direktheit (Märkte und Medien), Politik wurde durch Programme und die Sprache des Rechts ersetzt.

Vielleicht ist die EU ein Zufallsopfer des Aufkommens illiberaler populistischer Politik in Europa; mit Sicherheit aber hat sie zu dem Phänomen auch beigetragen. Die europäische Integration basiert auf gemeinsamen Rechtsnormen und auf einem Konsens über die mit dem gemeinsamen Markt und der gemeinsamen Währung verbundene Wirtschaftspolitik.

Seit der Wirtschaftskrise wird die EU jedoch als Instrument der Marktglobalisierung gesehen (statt als Schutz vor dieser), und angesichts der Migrationskrise verbinden viele mit ihr die Abschaffung der nationalen Grenzen ohne Sicherung der Außengrenze. Marktglobalisierung und unkontrollierte Zuwanderung, beide mit der EU assoziiert, sind die Hauptquellen einer Politik des Ressentiments und der Angst, die den mit dem Projekt der europäischen Integration verbundenen liberalen Konsens untergraben. Natürlich hat der Prozeß auch spezifisch mitteleuropäische Merkmale, aber diese müssen in diesem größeren transeuropäischen Zusammenhang gesehen werden.

Kann die Europäische Union, das letzte Elitenprojekt im Zeitalter des Populismus, ihre eigene Spaltung verhindern und der populistischen Herausforderung standhalten? 

(…)

Die Europäische Union ist das Hauptziel der populistischen Gegenreaktion, weil sie für einen Konsens der Elite jenseits von Rechts und Links steht und vor allem für die mit der Globalisierung assoziierte Welt ohne Grenzen: für die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland und für den Import von Migranten. Jahrzehntelang stand die EU für Sicherheit: für Berechenbarkeit, die Wohlstand mit neuen Freiheiten verband. Heute steht sie in den Augen eines immer größer werdenden Teils der Bürger für Kontrollverlust, für Enteignung, für Unsicherheit nicht nur im gängigen Sinne des Wortes, sondern für „kulturelle“ oder „zivilisatorische“ Unsicherheit. Die populistische Politik profitiert vom Haß auf die „Welt ohne Grenzen“, und noch so viel moralische Einschüchterung von seiten der liberalen Eliten mit „Menschenrechten“ und „Willkommenskultur“ wird die Flut nicht eindämmen. Das europäische Projekt selbst ist in Gefahr.

Zu verhindern, daß es scheitert, dafür gibt es eine Möglichkeit jenseits von Orbáns Errichtung von Zäunen und der Politik der Abschottung auf der einen Seite und Merkels Menschenrechtsposition, die die Kontrolle über die Außengrenzen des Schengen-Raumes Anfang September 2015 de facto aufgegeben hat, auf der anderen.

Wir wissen alle aus der Geschichte des Römischen Reiches, daß große Reiche untergehen, wenn ihre Grenzen nicht gut geschützt sind“, hat der liberale Ministerpräsident der Niederlande, eines der offensten und tolerantesten Länder Europas, gesagt. Die EU könne dasselbe Schicksal ereilen, wenn sie es nicht schaffe, die Kontrolle über ihre Grenzen wiederzuerlangen und „den massenhaften Zustrom von Flüchtlingen“ zu stoppen. „Wir haben die Verpflichtung zu handeln.“ Mit anderen Worten: Wenn man Schengen 1 abschafft, hat man die politische Pflicht, es unverzüglich durch ein Schengen 2 zu ersetzen. Wenn man das nicht tut, darf man sich über die Erfolge, die die nationalistischen Populisten mit der Politik der Abschottung erzielen, nicht wundern.

Wenn wir diese Erfolge verhindern wollen, haben wir eine zweite Verpflichtung: die Flüchtlinge nicht nur willkommen zu heißen, sondern auch über ihre langfristige Integration nachzudenken. 

Wir haben die moralische und politische Pflicht, die Ertrinkenden zu retten, aber wir haben auch die moralische und politische Pflicht, ihnen dann zu sagen, wer wir sind und welches die Grundwerte der europäischen Gesellschaften sind, denen sie sich anschließen. Dazu gehören die Trennung von Staat und Religion (Herrschaft säkularer Gesetze, nicht der Scharia), Meinungsfreiheit (wenn Sie ein Problem mit Charlie Hebdo haben, können Sie die Zeitschrift verklagen; sie ist ein dutzendmal zu hohen Strafzahlungen verurteilt worden) und die Gleichheit von Mann und Frau, nicht gerade ein unumstößlicher Lehrsatz in den Kulturen, aus denen die Einwanderer kommen. Seit Auschwitz ist außerdem die kategorische Ächtung von Antisemitismus Teil der „europäischen Identität“. Sie, lieber Einwanderer, kommen dagegen aus einer Region, in der Antizionismus mit Antisemitismus vermischt wird ... Niemand mahnt uns eindringlicher, all diese Dinge klarzustellen, als die mutigen Schriftsteller aus der Region: man lese Boualem Sansal oder Kamel Daoud. Sie wissen das eine oder andere über das Thema zu sagen, und wir müssen auf diese fremden Stimmen hören.

(…)

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