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Cover Lettre International, Jorinde Voigt
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LI 110, Herbst 2015

Stunden mit Borges

Aufrichtiges Träumen, Abgründe, seliges Begreifen

(…)

Für Borges war „das abgründige Problem der Zeit“ das dringliche Thema, und zudem das wichtigste Problem der Metaphysik. Unter dem Einfluß des Bischofs Berkeley und Schopenhauers wurde Borges von der Vorstellung angezogen, daß die Zeit sich nicht nur in eine Richtung bewegt, nämlich vorwärts in die Zukunft; sie könnte sich auch rückwärts bewegen, ja sogar in Zirkeln. Wenn dem so sei, dann würde die Identität der Person nicht viel mehr bedeuten als eine Sukzession diskontinuierlicher mentaler Zustände in endloser Folge. Unter der Voraussetzung einer endlosen Zeitspanne werden früher oder später alle Menschen alle Dinge tun und wissen – wie in der Geschichte von Homer in Der Unsterbliche.

Unter der Voraussetzung einer endlosen Zeitspanne werden wir uns in unser Gegenteil verwandeln: der Dichter Homer verwandelt sich in einen dummen, schlangenfressenden Troglodyten; Judas in Christus; der nationalistische irische Held John Vincent Moon in eben die Person, die ihn hinters Licht geführt und ihm eine Narbe zugefügt hat.

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In einer Geschichte, die aus einer anderen Perspektive erzählt wird, kommt der vierundsechzigjährige Borges spät nachts in einem ländlichen Hotel an und muß entdecken, daß ein anderer Gast mit seinem Namen bereits das Anmeldeformular unterzeichnet hat. Er steigt die Treppe zu Zimmer 19 hinauf, wo er einen viel älteren Mann auf einem schmalen Bett vorfindet, der schwermütig den Stuck an der Decke betrachtet – und ihm wird bald klar, daß das sein zukünftiges Selbst am Vorabend seines Todes ist. Sie unterhalten sich, und der ältere Mann verrät ihm, daß seine kommende Laufbahn nichts als eine Folge von Entwürfen sein würde, die alle von denselben Themen, denselben Erinnerungen zehren würden: „Die Labyrinthe, die Messer, der Mann, der sich für ein Abbild, das Spiegelbild, das sich für wirklich hält, der Tiger der Nächte, die Schlachten, die im Blut wieder aufleben, Juan Muraña blind und unselig, Macedonios Stimme, das Schiff, gebaut aus den Nägeln der Toten, das Altenglische, wieder aufgesagt an den Abenden.“ Und es kommt dieser wunderbare Moment, als sie, um zu prüfen, ob sie die Wahrheit sprechen, übereinkommen, den fürchterlichsten Moment ihres Lebens zu beichten. „Ich beugte mich über ihn, und wir beide sprachen gleichzeitig. Ich weiß, wir logen beide.“

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Borges war ein glühender Anhänger der Überzeugung, daß das bloß Angedeutete wirksamer ist als das Dargelegte. Er ermahnt uns, eine Zeile von Emerson im Gedächtnis zu behalten: „Argumente überzeugen niemanden.“ Borges fügt hinzu: „Aber wenn etwas nur gesagt, oder – noch besser – angedeutet wird, gibt es eine Art Gastlichkeit in unserer Vorstellungskraft. Wir sind bereit, es zu akzeptieren.“

Duelle in der Nachtluft

So verhält es sich auch mit Borges’ philosophischen Spielen: Wir akzeptieren sie, weil das Mittel der Fiktion uns dazu bringt, über sie nachdenken zu wollen. Metaphysische Begriffe wie „Unendlichkeit“ und „Zeit“ sind zu abstrakt, um auf die Vorstellungskraft einzuwirken. Borges nimmt Walt Whitman für seine Sache in Anspruch, weil auch er die Idee des Begründens verworfen habe: „Ich glaube, er sagt irgendwo, daß er die Nachtluft, die wenigen großen Sterne viel überzeugender findet als bloße Argumente.“ Borges bringt philosophische Argumente hinaus in die Nachtluft, unter die Sterne, umhüllt sie mit Details von magischer Präzision, gibt ihnen glänzende Messer – und zwingt sie zum Duell. Das Ergebnis ist, daß wir uns an sie erinnern.

(…)
 

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