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Cover Lettre International 90, Luc Tuymans
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Inhaltsverzeichnis

LI 90, Herbst 2010

Grossexperiment Einheit

Verheftung statt Zusammenwachsen - Über den Mangel am Ganzen

 

 

(Auszug/LI 90)

 

(...) ADELBERT REIF: In einem 1991 verfaßten Essay Die Deutschen und die Nation schrieben Sie über „Differenzen des Bewußtseins und der Erfahrung“, die im gegenwärtigen Deutschland klafften und die noch weit davon entfernt seien, zur produktiven Spannung zu werden. Inwieweit hat sich an diesem Befund inzwischen Wesentliches geändert? Ist eine „produktive Spannung“ entstanden?

 

FRIEDRICH DIECKMANN: Zu behaupten, daß sich im Verlauf des Einigungsprozesses eine produktive Spannung zwischen West und Ost ergeben habe, wäre gewagt; dazu waren Machtbedürfnisse und Überlegenheitsgefühl der diesen Prozeß dirigierenden Instanzen zu ausgeprägt. Sie waren ängstlich darauf bedacht, daß eine solche Spannung nicht eintrete; daß die politischen Kräfte, die die deutsche demokratische Revolution entbunden hatte, wieder eingefangen würden und jede wirksame Infragestellung westlicher Organisationsformen unterbleibe. So auch in der Rundfunk-, der Fernseh-, der Medienlandschaft; es wurde strikt darauf gesehen, daß nicht jene das Heft in der Hand behielten, die der Umbruch des Winters 1989/90 an die Spitze gestellt hatte. Nach erfolgter staatlicher Angliederung mit einer Reihe hilfreicher Übergangsbestimmungen ging es der Bonner Politik um Eingliederung, wobei sich auf bestimmten kulturellen Feldern nach Überwindung anfänglicher Liquidierungstendenzen  durchaus auch erfreuliche Entwicklungen ergaben, nicht nur mit der Etablierung der Castorfschen Volksbühne; dabei kam es entscheidend auf Verständnis und Hartnäckigkeit einzelner Persönlichkeiten auf der westlichen Seite an. Im ganzen zeigte sich, daß wir in einer Nischengesellschaft höheren Typs angelangt waren. Der Begriff „Nischengesellschaft“, den Günter Gaus für den begrenzten DDR-spezifischen Pluralismus fand, als er dieses Land für sich entdeckte, ist fruchtbar auch in einem reziproken Sinn.

 

Ich selbst habe damals einige Jahre für das Feuilleton einer Berliner Tageszeitung, der Neuen Zeit, arbeiten können, deren Kulturredaktion nach 1990 unter neuer, westlicher Chefredaktion beisammengeblieben war. Das war schon zu DDR-Zeiten ein Schreibort besonderer Qualität gewesen; er war es gesteigert in der neuen Ära. Leider ging die Zeitung nach vier Jahren ein, wie das auch einem anderen, in neuer Formation überlebenden DDR-Blatt erging, der Wochenpost; Möglichkeiten, die sich da und dort ergaben, waren die einer Übergangszeit. An diesem Punkt kommt man folgerichtig auf die Rettung des berühmten Ampelmännchens zu sprechen, die durch westliche Journalisten angestoßen wurde; wenn etwas Gelungenes überdauerte, dann mit westlicher Hilfe; die Eingeborenen waren für sich selbst zu schwach. Sie hatten manchmal auch eine Tendenz zur Selbstaufgabe, zum vorauseilenden Gehorsam; ich denke an jene Berliner Musikhochschule, die 1990 Miene machte, ihren Namen – Hanns Eisler – aufzugeben, worauf ein Westberliner Intendant ihren Leitern vorhielt: Dann seid ihr verloren! Inzwischen ist im deutschen Westen jene Generation, die man die gesamtdeutsche nennen konnte, weil sie die Erfahrung der Einheit aus Kindheit und Jugend in sich trug, nicht vom Schauplatz, aber aus den Ämtern abgetreten; manche von ihnen, ich will Richard von Weizsäcker und Walter Jens stellvertretend für viele nennen, haben aus der Überlegenheit der Persönlichkeit die Fehler der Generallinie zu mildern vermocht.

 

(...)

 

Inwieweit hat sich der Blick der Deutschen auf ihre jeweils eigene Vergangenheit in der DDR und in der Altbundesrepublik inzwischen verändert?

 

Den Blick der Deutschen erforschen die Auguren, die Agenturen der Demoskopie. Und die haben vor drei Jahren herausgefunden, daß 64 Prozent, also etwa zwei Drittel der Menschen in den östlichen deutschen Ländern, an ihr Leben in der DDR überwiegend positive und nur 17 Prozent überwiegend negative Erinnerungen haben – was nicht bedeutet, daß die ersteren ein nostalgisches Verhältnis zu diesem Land unterhalten, denn 71 Prozent bejahen die deutsche Vereinigung und wollen die DDR keinesfalls „zurückhaben“. Norbert Lammert hat sich auf diesen Befund 2007 in seiner Rede zum Tag der deutschen Einheit berufen, was ich als ein Zeichen wirklicher Souveränität empfand.

 

Neuere Erhebungen entsprechen dem – wobei man immer bedenken muß, daß die gestellten Fragen, um zum Ja-Nein-Schema zu taugen, oberflächlich sein müssen; die Antworten geben nur Anhaltspunkte. Immerhin zeigt sich, daß die Leute auf ihrer eigenen Wahrheit bestehen, die gemischt genug war, bei jedem einzelnen und unter den vielen. Gegen die Beschreibungen des „Lebens der anderen“ aus Beobachtungsposten von außerhalb setzen sie die Erfahrung ihres eigenen Lebens; auch literarisch geschieht das immer wieder, Ingo Schulze bietet ein prägnantes Beispiel. Auf diesem besonderen Feld, in dieser ausstrahlenden Nische begibt sich auch jene produktive Spannung.
 

So weit die demoskopische Antwort auf Ihre Frage. Natürlich hat die Öffnung der Archive, gerade auch hinsichtlich des Strafvollzugs, der, sorgfältig abgeschirmt, zu den wahrhaft düsteren Seiten des staatssozialistischen Regimes gehörte, das Bild dieses Landes in einem Maß vervollständigt, wie das in der neueren Geschichte in kaum einem andern Fall möglich gewesen ist. Doch eines ist die Fülle der Informationen; ein anderes die Art und Weise ihrer Verarbeitung, ihrer Deutung. Manchmal habe ich selbst dazu einen Beitrag leisten können, etwa was die Moskauer Hintergründe des 17. Juni 1953 betrifft; dafür hatte sich noch kein anderer Interpret wirklich interessiert; es paßt nicht so recht ins Strickmuster. Das Interpretationsmuster der west-, nunmehr gesamtdeutschen Geschichtsschreibung ist, mit rühmlichen Ausnahmen, ganz auf die Systemdifferenz, den ideologischen Kontrast abgestellt, als ob das im Nachkriegsdeutschland das Primäre gewesen sei. Man übersieht häufig die Grundsituation, in der sich das in Besatzungszonen geteilte Nachkriegsdeutschland befand: mit Siegermächten nicht nur konträrer gesellschaftlicher Strukturen, sondern ganz verschiedener Kriegserfahrung. Weder England noch die USA hatten den Bodenkrieg im eigenen Land gehabt, die USA von seiten Deutschlands auch den Luftkrieg nicht. Dennoch hätten sie die Atombombe auf Dresden geworfen, wenn der Krieg ein halbes Jahr länger gedauert hätte.

 

In der sowjetisch besetzten Zone vertrat die Besatzungsmacht ein Volk, gegen das das Hitlerregime einen Versklavungs- und Vernichtungskrieg geführt hatte; deutsche Heere waren ausgesandt worden, um ein Entwicklungsland von großer europäischer Tradition zur Kolonie herabzustufen. Die mit ungeheuren Opfern verbundene Abwehr dieser Unternehmung war die Basis, der Background der DDR-Existenz; Breschnew hat es Honecker im Juli 1970 klarge-macht, als er ihn aus einem Sanatorium beauftragte, Walter Ulbricht zu überwachen, dem er eine gesamtdeutsche Orientierung unterstellte.

 

Das Gefühl für diese Ausgangslage des deutschen Oststaats ist in Westdeutschland bis heute unterentwickelt; ebenso ist es das Gefühl für eine Aufbauleistung, die unter unvorstellbaren Schwierigkeiten vonstatten ging; und auch für den Beitrag, den das Land zur Aussöhnung mit den osteuropäischen Völkern, namentlich der Sowjetunion, leistete. Das wird alles unter Diktaturaspekten subsumiert, und das ist für den deutschen Westen und dessen eigene Nachkriegsgeschichte natürlich viel bequemer. Ich habe gelegentlich darauf verwiesen, daß es die historische Aufgabe der DDR war, die Deutschen an die Oder-Neiße-Grenze zu gewöhnen, und hinzugefügt, daß dies in der jüngeren Generation so vollkommen gelungen sei, daß die Schwierigkeit der Aufgabe gar nicht mehr ermessen werde. Ich glaube nicht, daß in irgendeinem deutschen Schulbuch zu lesen ist, daß der Bundeskanzler Konrad Adenauer in den fünfziger Jahren den Vertriebenenverbänden auf Kundgebungen die baldige Rückkehr in ihre Heimat in Aussicht stellte; diese Seite des westdeutschen Wirtschaftswunders wird nicht gerade ins Licht gehoben.  Die Bewußtseinsveränderung geht so weit, daß für die ehemalige DDR ohne weiteres der Name Ostdeutschland gebraucht wird; noch in den fünfziger Jahren wäre jeder Politiker der Westrepublik erledigt gewesen, wenn er das gesagt hätte. Noch mehr wäre er erledigt gewesen, wenn er DDR gesagt hätte; das Regime über Namen ist allemal ein Mittel der Politik.

 

(...)

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