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Cover Lettre International 59, Bernd Koberling
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Inhaltsverzeichnis

LI 59, Winter 2002

Der Mann hinter Bin Laden

Dr. Ayman al-Zawahiri aus Ägypten - eine islamistische Karriere

(...)Zawahiri war von Geheimhaltung und Tarnung besessen. Er organisierte den Islamischen Dschihad nach dem Prinzip der „blinden Zellen". Das bedeutete, daß Mitglieder der einen Gruppe weder die Aktivitäten noch das Personal einer anderen kannten. Eine Sicherheitslücke in einer Zelle konnte daher die anderen Einheiten – oder gar die Organisation als solche – nicht in Schwierigkeiten bringen. Doch 1993 verhafteten die ägyptischen Behörden den Verwalter der Mitgliederkartei des Dschihad, Ismail Nasser. „Er hatte einen Rechner, auf dem die gesamte Datenbank gespeichert war", erzählt mir Osama Rushdie, ein früheres Mitglied der Islamischen Gruppe. „Wo das Mitglied wohnte, in welchem Haus es sich versteckt halten könnte und sogar auf welche Namen seine falschen Pässe ausgestellt waren." Auf der Grundlage dieser Informationen nahmen die ägyptischen Sicherheitskräfte Tausende von Verdächtigen fest und stellten mehr als 300 von ihnen vor ein Militärgericht. Sie waren angeklagt, den Sturz der Regierung zu betreiben.

Die Beweislage war zwar dünn, aber dafür waren auch die juristischen Anforderungen nicht besonders hoch. „Es war ein einziger Schauprozeß", sagt mir Hischam Kassem, der Herausgeber der Kairoer Times und Vorsitzende der Ägyptischen Organisation für Menschenrechte. „Wen man für gefährlich hielt, hängte man auf. Der Rest bekam lebenslänglich." Unter Zawahiris Führung war es dem Islamischen Dschihad gelungen, versehentlich den Sprecher des Parlaments zu ermorden – das eigentliche Ziel war der Innenminister gewesen – und ein Schulmädchen zu töten. Zugleich hatte die Organisation fast ihre gesamte ägyptische Basis verloren. Es war klar, daß der Islamische Dschihad nur außerhalb Ägyptens überleben konnte.

In den frühen neunziger Jahren reiste Zawahiri unermüdlich, um Ausbildungslager zu errichten und neue Zellen aufzubauen. In dieser Zeit besuchte er angeblich den Balkan, Österreich, Dagestan, den Jemen, den Irak, den Iran, die Philippinen und sogar Argentinien, wobei er sich oft falscher Pässe bediente. Auch der Krieg in Bosnien beschäftigte ihn sehr, weil dort eine der größten islamischen Populationen Europas lebt.

Sowohl der Islamische Dschihad als auch die Islamische Gruppe waren durch Verhaftungen und Überläufer dezimiert. Scheich Omar Abd al-Rahman, der Anführer der Islamischen Gruppe, war in die Vereinigten Staaten emigriert und wurde nach dem Bombenangriff von 1993 auf das World Trade Center verhaftet. Rahman und neun seiner Anhänger wurden 1996 verurteilt, die Zerstörung von New Yorker Baudenkmälern wie dem Lincoln- und dem Hollandtunnel, dem Federal Building und dem Hauptquartier der Vereinten Nationen geplant zu haben.

Im April 1995 fand unter Zawahiris Vorsitz ein Treffen in Khartum statt, bei dem neben Vertretern anderer Terrorgruppen die restlichen Mitglieder des Islamischen Dschihad und der Islamischen Gruppe versammelt waren. Man einigte sich auf eine spektakuläre Aktion: Der ägyptische Präsident Hosni Mubarak sollte ermordet werden. Für die Islamisten war das eine gewagte Partie. Das Attentat wurde im Juni 1995 während eines Staatsbesuchs Mubaraks in Addis Abeba ausgeführt. Es gab eine Schießerei zwischen Mubaraks Leibwächtern und den Attentätern. Zwei äthiopische Polizisten wurden dabei getötet, doch Mubarak entkam unverletzt.

Die ägyptische Regierung demonstrierte daraufhin wilde Entschlossenheit, mit dem Islamischen Dschihad ein für allemal fertig zu werden. „Die Sicherheitskräfte führten Strafmaßnahmen zur Abschreckung durch", erzählt mir Hischam Kassem. „Sie brannten Häuser in einem Dorf nieder, weil ein Mitglied des Islamischen Dschihad von dort stammte. Anderswo wurde eine Mutter nackt vor ihrem Sohn ausgezogen, und man sagte zu ihm: ‘Das nächste Mal vergewaltigen wir sie, wenn dein jüngerer Bruder nicht hier ist.’" Nach einem kurz zuvor verabschiedeten Antiterrorgesetz war schon der bloße Ausdruck von Sympathie für terroristische Bewegungen strafbar. Fünf neue Gefängnisse wurden für politische Häftlinge gebaut. (Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der Islamisten, die bis heute in ägyptischen Gefängnissen sitzen, auf 15 000. Islamisten sprechen von 60 000 Inhaftierten. Viele der Gefangenen sind nie eines bestimmten Verbrechens angeklagt worden. Einige sind schlicht und einfach „verschwunden".)

Zawahiris Antwort auf die Repressionen war die Sprengung der ägyptischen Botschaft in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad. Am 15. November 1995 brachen zwei mit Sprengstoff gefüllte Autos durch das Tor der Botschaft. Außer den Attentätern selbst starben 16 Menschen, und 60 wurden verletzt. Dieser Akt des Massenmords war der erste Erfolg des Islamischen Dschihad unter der Führung Zawahiris. „Die Bombe ließ die Ruine der Botschaft als eine beredte und eindeutige Mitteilung zurück", prahlt dieser in seiner Biographie.

Vielleicht wären Zawahiri und Bin Laden im sicheren Hafen des Sudan geblieben, wenn die Geheimdienste Agyptens und Saudi-Arabiens nicht entschlossen gewesen wären, sie zu töten, bevor sie noch mehr Unheil anrichteten. (Saudi-Arabien hatte Bin Laden schon 1994 seine Staatsbürgerschaft entzogen.) Bin Laden hatte bereits zwei Mordanschläge überstanden.

Ein verwirrter islamischer Extremist, der Bin Laden töten wollte, schoß in einer Moschee in Khartum um sich und wurde auf dem Weg zu Bin Ladens Haus überwältigt. In einem anderen Zwischenfall eröffneten vier jemenitische Söldner aus einem Toyota-Geländewagen das Feuer auf das Wohnhaus und das Gästehaus Bin Ladens, in dem auch dessen Büro untergebracht war. Drei der Jemeniten und zwei von Bin Ladens Leibwächtern wurden in der darauffolgenden Schießerei getötet. Der vierte Angreifer wurde gefangen und von den sudanesischen Behörden hingerichtet. In seiner manchmal etwas undurchsichtigen Ausdrucksweise sagte Bin Laden einem Journalisten, daß er „den Regimes in unserer arabischen Region" den Mordversuch zur Last lege. Zawahiri verstärkte Bin Ladens Bewachung durch ägyptische Leibwächter. Doch er selbst war ebenso Ziel von Attentaten.

Nach dem Bombenangriff auf die Botschaft in Pakistan heckten ägyptische Geheimagenten einen teuflischen Plan aus. Sie lockten einen ägyptischen Jungen, den Sohn eines der Buchhalter von Bin Laden, in einen Raum, betäubten ihn, sodomisierten ihn und hielten die Szene mit einer Kamera fest. Jassir al-Sirri, ein angebliches Mitglied des Islamischen Dschihad, kennt Zawahiri aus Khartum. Er erzählt mir, daß die ägyptischen Agenten den dreizehn- oder vierzehnjährigen Jungen mit den Photos erpreßten und ihn zwangen, für sie zu arbeiten. Sie brachten ihn dazu, einen anderen Jungen in das Netz des Geheimdienstes zu locken, der ebenfalls durch sexuellen Mißbrauch gefügig gemacht wurde.

Die Agenten brachten den Jungen bei, in ihren eigenen Häusern Mikrophone einzubauen. Diese List lieferte wichtige Informationen und führte zur Verhaftung von Mitgliedern des Islamischen Dschihad. Danach gaben die Agenten dem Sohn des Buchhalters einen Koffer mit Sprengstoff. Er sollte ihn an einem Ort abstellen, an dem ein Treffen zwischen Zawahiri und einigen seiner Kollegen vorgesehen war. Der Plan scheiterte, als sudanesische Geheimagenten den Jungen in der Gesellschaft ägyptischer Botschaftsangehöriger entdeckten. Als sie ihn verhafteten, trug er den Koffer bei sich.

Die Sudanesen fingen den anderen Jungen und steckten beide ins Gefängnis", erzählt mir Hani al-Sibai, der inzwischen so etwas wie der Historiker der islamistischen Bewegung geworden ist. „Die meisten der islamischen Gruppen waren im Sudan. Daher verbreiteten sich unzählige Gerüchte über diese Angelegenheit. Der Islamische Dschihad betrachtete das Ganze als einen peinlichen Skandal." Zawahiri ging zu den sudanesischen Behörden und bat sie, die beiden Jungen vorübergehend freizulassen, damit er sie verhören könne.

Da die Sudanesen mittlerweile von Bin Ladens finanzieller Großzügigkeit abhängig waren, stimmten sie zu. Zawahiri berief ein islamisches Gericht ein, klagte die Jungen des Hochverrats an und ließ sie hinrichten, um ein abschreckendes Beispiel zu geben. In einer für ihn typischen Geste nahm er ihre Geständnisse auf Tonband auf und ließ die Aufnahme zur Warnung an potentielle Verräter innerhalb der Organisation verteilen. „Viele Islamisten wurden deshalb zu Gegnern Zawahiris", erzählt mir Jassir al-Sirri.

Die Sudanesen waren wütend über Zawahiris Doppelspiel. Zudem wurden sie von den USA und Saudi-Arabien massiv unter Druck gesetzt, Terroristen nicht länger Unterschlupf zu gewähren. Daher beschlossen sie, Zawahiri, Bin Laden und deren Gefolgsleute des Landes zu verweisen. Laut Hani al-Sibai gaben ihnen die Sudanesen nicht einmal Zeit, ihre Sachen zu packen. „Wir haben doch nur die Scharia angewandt", beschwerte sich Zawahiri. „Wenn wir sie nicht auf uns selbst anwenden, wie können wir dann andere nach ihr richten?"

Einige Mitglieder des Islamischen Dschihad schlugen vor, Bin Laden solle sich kosmetisch operieren lassen und heimlich nach Agypten reisen. Doch Zawahiri hielt Agypten für zu gefährlich. Im Mai 1996 charterte Bin Laden ein Flugzeug und nahm einige seiner Kollegen, nebst seiner immer weiter wachsenden Familie, mit nach Jalalabad im Osten Afghanistans. Die Vertreibung aus dem Sudan hat ihn angeblich 300 Millionen Dollar an verlorenen Investitionen gekostet.

Wo Zawahiri sich anschließend aufgehalten hat, ist nicht geklärt. Ägyptische Geheimagenten spürten ihn in der Schweiz und in Sarajewo auf, und er soll angeblich in Bulgarien um politisches Asyl nachgesucht haben.

Eine ägyptische Zeitung berichtete, daß Zawahiri inzwischen ein luxuriöses Leben in einer Schweizer Villa nahe der französischen Grenze führe und über ein Geheimkonto mit 30 Millionen Dollar verfüge. Zawahiri hat selbst mehrmals behauptet, in der Schweiz gelebt zu haben. Doch laut Auskunft der Schweizer Behörden gibt es keine Belege dafür, daß er jemals in ihrem Land war – von politischem Asyl gar nicht zu reden. Zawahiri tauchte kurze Zeit in Holland auf, das mit Ägypten keinen Auslieferungsvertrag hat. Er führte dort Gespräche über die Gründung eines Satellitensenders, den wohlhabende Araber finanzieren sollten und der als fundamentalistische Alternative zu dem kurz zuvor in Katar entstandenen Sender al-Dschasira gedacht war.

Zawahiri plante, täglich zehn Stunden in Europa und im Mittleren Osten zu senden. Ausschließlich männliche Präsentatoren sollten zum Einsatz kommen. Aus dem Vorhaben wurde jedoch nichts.

Aus einer Notiz, die Zawahiri später an seine Kollegen versandte – sie wurde auf einem Computer der al-Qaida sichergestellt, den ein Journalist des Wall Street Journal nach der Niederlage der Taliban erwarb – geht hervor, daß er im Dezember 1996 nach Tschetschenien fuhr, um für die Überreste des Islamischen Dschihad ein neues Hauptquartier aufzubauen. „Die Bedingungen dort waren hervorragend", schrieb er in dem Brief. Die Russen hatten begonnen, ihre Truppen aus Tschetschenien abzuziehen, nachdem in der rebellischen Region ein Waffenstillstand vereinbart worden war. Für die Islamisten bot sich Tschetschenien zur Bildung einer islamischen Republik im Kaukasus an, denn von hier aus konnte man in ganz Mittelasien den Heiligen Krieg führen.

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